SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Dec 22, 2024 • 7min

100 Jahre "Das Magazin"

Es ist vielleicht die kleinste große Unbekannte auf dem deutschen Pressemarkt: Das Magazin. Am Kiosk und in Bahnhofsbuchhandlungen liegt es meist, aber man muss danach fragen, denn oft geht es zwischen all den großen Zeitschriften unter, seufzt Co-Verleger Till Kaposty-Bliss. Das ist ja das Problem beim Magazin durch das kleine Format. Das hat ja immer schon das iPad-Format, also die DIN-A5-Größe. Das ist ein Vorteil, wenn man es in der Hand hält und wenn man damit rumreist oder auch in der Badewanne. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Hundert Jahre, und immer noch da In diesem Jahr ist das Magazin 100 Jahre alt geworden. Deutschlands erstes „Magazine“ – gegründet 1924 von Franz Walter Koebner und Robert Siodmak, der später als Regisseur in Hollywood Karriere machte. Das Heft war seinerzeit etwas völlig Neuartiges. Leicht im Ton, aber nicht seicht. Eine Wundertüte, gefüllt mit allem, was Spaß macht und aufregend ist. „Die einzige Zeitschrift, die sich – auch in heutigen Zeiten – durchsetzen wird. Warum? Haben Sie vielleicht Lust, wenn Sie heute etwas lesen wollen, das Risiko zu laufen, mit einem langen Roman hereinzufallen, der fünf Mark kostet? – Nein! Sie werden das Magazin durchblättern und sofort etwas finden, was Sie interessiert.“ Die erste Auflage des Magazins 1924 war umgehend vergriffen. Rasch entwickelt es sich zur erfolgreichsten Monatsillustrierten in der Weimarer Republik. Ständiger Gast auf den Covern: ein kleiner Engel. „Also diese wirklich interessante Mischung aus leichter Erotik, Tingeltangel, sehr offenen Themen, wie zum Beispiel Rauschmittel. Das war ja in den Zwanzigern ein großes Thema.“ Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Auch Marlene Dietrich stand schon Modell Ein Heft, prall gefüllt mit Berichten über Revuegirls und literarischen Geschichten. Dazwischen viele Fotos von leicht bekleideten Damen, eingefangen von Vertretern der Avantgarde-Fotografie wie Man Ray. … manchmal auch Herren, soweit ich weiß, hat das Magazin die ersten Misswahlen in Deutschland ausgerufen … Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) In der Jury: unter anderem Heinrich Mann und Carl Zuckmayer. … so was gibt’s wahrscheinlich gar nicht mehr, und was ich immer gerne erzähle, ist, dass eine damals unbekannte Dame Model beim Magazin war: Marlene Dietrich. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Unter den Nazis musste das Magazin kriegsbedingt eingestellt werden – in der DDR aber ist es dann „auferstanden aus Ruinen“. Musik andeuten Hymne? Nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 ändert die SED ihren „neuen Kurs“ und „erlässt“ die Gründung einer Zeitschrift, die die Massen unterhält und zerstreut. „Ab Dezember 1953 erscheint ein populäres, für den breitesten Leserkreis bestimmtes, monatlich erscheinendes Magazin. Mitte November sind dem Politbüro Probeexemplare der ersten Nummer vorzulegen.“ Im Januar 1954 erscheint das erste „Magazin“ – für die DDR, eine kleine Sensation. In der bis dahin eintönigen Presselandschaft tritt ein völlig neuer Ton, eine neue Farbe, ja, und die ersten Nacktaufnahmen. Eine Katze wird zum neuen Maskottchen Anteil am sensationellen publizistischen Erfolg haben aber vermutlich auch die ikonischen Titelblätter von Werner Klemke, die von Beginn an eine große Heiterkeit ausstrahlen. Er gestaltete bis nach der Wende über 400 Cover. Auf fast allen taucht ein kleiner Kater auf – mal mehr, mal weniger versteckt. Die Fellnase wird – ähnlich wie in den Zwanzigerjahren der Engel – zum Maskottchen des Blattes. Das Magazin hat für DDR-Verhältnisse eine hohe Druck-Qualität. Für reichlich Devisen werden Kodak-Farbfilme aus dem Westen eingekauft. Das Blatt steht finanziell gut da. Kurz vor dem Mauerfall beträgt die Auflage über eine halbe Million Exemplare. Und sie hätte noch höher sein können, wenn das Papier nicht so knapp gewesen wäre. Namhafte Schriftsteller:innen schreiben für das Blatt wie Christa Wolf, Bertolt Brecht oder Arnold Zweig, das dokumentieren heute die alten Honorar-Karteikarten, in denen Till Kaposty-Bliss blättert: Auch Loriot habe ich gefunden. Die Namen sagen mir jetzt alle auch nichts, ach, guck mal, Anja Kling, die Schauspielerin, die war mal Model beim Magazin, Gerit Kling, die Schwester … Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Viel mehr als eine Ost-Zeitschrift Das Magazin sei der „Playboy der DDR“ gewesen, der „New Yorker des Ostens“. Diese Vergleiche hört Till Kaposty-Bliss aber heute nicht mehr so gerne. Für ihn ist das Blatt unvergleichlich. – Und eines der wenigen Ost-Produkte, das zumindest dem Namen nach überlebt hat. Das Magazin bleibt zwar zunächst im Bewusstsein der Menschen mit der DDR verbunden, ist aber heute mitnichten eine Ost-Zeitschrift. Es gehen zwar 75 Prozent der etwa 45.000 Auflagen starken Zeitschrift nach Ostdeutschland, aber die Themen sprechen alle an. – Gemäß dem Motto: „Hinterher ist man immer schlauer“. Das ist interessant, das sind Lebenswelten, die ich nicht kenne, das sind Biografien, die anders sind als meine, aber durchaus Inspiration bieten fürs eigene Leben. Das sind solche Themen, wo man mit einem Erkenntnisgewinn rausgeht. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Das Magazin ist sich in vielem treu geblieben. Noch immer findet man Berichte aus Kneipen oder fernen Ländern neben Reportagen, Kolumnen und Kultur-Tipps: von Sexualität ab 60 bis zum Boxen sind den Themen keine Grenzen gesetzt. Freundlich im Ton, mit Witz und Sinnlichkeit. Politik spielt praktisch keine Rolle und, ja, auch die geschmackvollen Erotik-Fotos sind geblieben. Wir sind, glaube ich, die einzige Publikumszeitschrift, also die eben nicht Erotik ist, die sowas noch macht. Das macht ja keiner mehr. Das ist ja komplett verschwunden aus der Presse. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Überraschende Themen, viel Kultur, aber keine Politik Meistens werden Themen verhandelt, über die man so noch nicht nachgedacht hat. Und es gibt persönliche Geschichten – zum Teil mit überraschenden Offenbarungen. „Ich hab einen Hochschulabschluss und verdiene so viel oder wenig, wie man im Kulturbetrieb eben verdient. Mir gehts gut, echt. Ich hab was ich brauche. Trotzdem klaue ich neuerdings. Nicht im großen Stil, so bin ich nicht. Es ist einfach so, dass die Selbstbedienungskassen, die man in Supermärkten vorfindet, eine Belastung für meine Integrität darstellen.“ Zum geistreich-verspielten Inhalt passen die brillanten Titel-Gestaltungen von Kat Menschik, Deutschlands gefragtester Illustratorin. Die sind bunt, wo es nur geht und erinnern in ihrem harten Strich an Jugendstil-Plakate – Pop-Art mit romantischem Twist. Und noch etwas ist geblieben: der Kater. Kat hat Katzen oder Kater, und just als sie für uns angefangen zu zeichnen, war ihr Kater Boris gestorben und Boris lebt weiter im Magazin. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Ein Geheimtipp im Westen Nicht nur für Katzenliebhaber ist das Magazin also ein echter Geheimtipp. Und wer nicht am Kiosk suchen will, der verschenke doch einfach last minute ein Abo von „Das Magazin“ – als Überraschung für Kulturinteressierte unterm Weihnachtsbaum - „Hinterher ist man immer schlauer“, versprochen.
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Dec 20, 2024 • 56min

lesenswert Quartett mit Büchern von Behzad Karim Khani, Ljuba Arnautović, Clemens J. Setz und Gian Marco Griffi

Literaturexperte Denis Scheck moderiert die Gesprächsrunde mit Ijoma Mangold, Kulturkorrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT. Diesmal vervollständigen das Quartett die Schriftstellerin Nele Pollatschek und die Kulturjounalistin und Autorin Shelly Kupferberg.
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Dec 19, 2024 • 4min

Russ Hodge – Lebenskünstler

Am Berliner Max-Delbrück-Centrum arbeitet der US-Amerikaner Russ Hodge, der seit 35 Jahren in Deutschland lebt, als Kommunikationstrainer und Wissenschaftsjournalist. Nach einer Konferenz 2019 über besondere Tiere in der Forschung beschloss er, ein Buch zu schreiben. Er hatte so viele interessante Wissenschaftler getroffen, die über so phantastische Tiere wie Nacktmulle, Nachtigallen oder Axolotl arbeiten, dass ihm all die Geschichten nicht mehr aus dem Kopf gingen. Das Ergebnis ist ein großformatiges, farbenprächtiges Kompendium voller Lebenskünstler – Menschen und Tieren. Gleich das erste Kapitel ist kleinen, schrumpeligen Gesellen gewidmet: Nacktmullen.  Leben in einer ausgeklügelten Sozialstruktur: Nacktmulle  Die wenigen auf ihrer rosa Haut verteilten Haare dienen als Stimmgabeln, um Vibrationen aufzufangen, wenn sie durch die dunklen Gänge unter der äthiopischen Erde flitzen. In vielerlei Hinsicht faszinierende Wesen. Russ Hodge sagt: „Sie haben ihre eigene Sprache, sie können ohne Sauerstoff leben, sie kriegen nie Krebs, das ist ein Tier, das 36, 37 Jahre lebt, jedes Tier ist eine Welt für sich, ist eine Art Community von Eigenschaften, die zusammenarbeiten, um zu überleben in Harmonie mit ihrer Umwelt.“  So wie bereits seit 350 Millionen Jahren der Axolotl aus Mexiko. Übersetzt „Wassermonster“ heißt der überaus friedliebende weiße Schwanzlurch mit dem rosa Kranz aus Kiemenästen um seinen Kopf, dessen Körperteile wieder nachwachsen, wenn sie verletzt oder abgerissen werden. Die meisten Axolotl leben weltweit in Forschungslaboren, wo sie gezüchtet werden, weil sie für die Regenerationsmedizin von großem Interesse sind. In Freiheit in ihrer Heimat nahe Mexiko-City hingegen kommen sie nur noch sehr selten vor.   Ausgestattet mit erstaunlichen musikalischen Fähigkeiten: Nachtigallen  Eine andere Hauptstadt allerdings bietet beste Bedingungen für eine weitere sehr besondere Spezies: Nachtigallen. Mehr als 3000 fühlen sich in Berlin wohl und lassen die 2500 öffentlichen Parks der Stadt mit ihrem sommerlichen nächtlichen Gesang zu Freiluftkonzertsälen werden. Bis zu 200 Strophen kann das Lied einer Nachtigall umfassen. Oder sie überrascht mit ganz anderen musikalischen Fähigkeiten. Russ Hodge ließ sich darüber von der Künstlerin Ines, einer der vielen Nachtigallbegeisterten, erzählen und beschreibt es in seinem Buch:  „Als sie eines Tages auf dem Weg nach Hause war, hörte sie aus einer Hecke eine Nachtigall singen. Sie sang etwas, und Ines antwortete ihr. ‚Ich brachte ihr eine Zeile aus einer Nachtigallenarie von Händel bei‘, erzählt sie. ‚Am Ende sang sie die Zeile besser als ich. Sie hatte Händel verbessert‘.“   Neben all den interessanten Fakten und Anekdoten über die Tiere gerät Russ Hodge nie die große Gefahr aus dem Blick, die für all diese Lebenskünstler besteht – von Grizzlybär über Eisfisch bis Schleiereule oder Bärtierchen. Der Autor sagt: „Die sind alle perfekt angepasst, aber dafür hatten sie Millionen von Jahren Zeit. Da wir diese Prozesse von Klimaentwicklung so beschleunigt haben, werden sie nicht mehr die Zeit haben, diesen natürlichen Prozess von Anpassung hinzukriegen.“  Phantasievolle Bildtafeln für Augen, Herz und Hirn  So berichtet Russ Hodge nicht nur viel Wissenswertes von besonderen Tieren und den Forschern, die sie in Laboren züchten und erforschen oder in freier Wildbahn aufspüren. Er zeigt auch, wie fragil ihre, unsere Welt ist.   Ungemein bereichert wird der Fundus an Fakten durch die farbenfrohen Illustrationen von Kat Menschik. Sie hat sich an Dioramen von Naturkundemuseen orientiert und große, phantasievolle Bildtafeln geschaffen, auf denen in türkisblauem Wasser ein Axolotl neben einer bunten mexikanischen Totenmaske schwimmt.  Oder über der rosa Nacktmulletruppe in ihrem dunklen unterirdischen Gang zwei afrikanische Frauen in bunten Kleidern unter orangefarbenem Himmel auf eine Neubausiedlung am Rande der Wüste blicken. Ein im wahrsten Wortsinne bildschön gestaltetes Buch für Augen, Herz und Hirn.
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Dec 18, 2024 • 4min

Maria Messina – Eine Blume ohne Blüte

Wer sich fleißig durch die letzten Jahrhunderte Literaturgeschichte bewegt, wird einer Spezies von Autoren eher selten begegnen: den weiblichen. Nicht dass schreibende Frauen gänzlich inexistent gewesen wären. Nur fanden sie selten Eingang in den Kanon. Erst in der jüngsten Vergangenheit werden längst vergessene Autorinnen häufiger in ein helles Licht gerückt, gewürdigt durch Neuveröffentlichungen oder erstmalige Übersetzungen. Die Friedenauer Presse hat uns im Frühjahr mit Maria Messina bekannt gemacht, einer 1887 in Palermo geborenen Erzählerin, die auch in Italien vergessen war, bis ihr sizilianischer Landsmann Leonardo Sciascia in den frühen Achtzigern auf sie aufmerksam machte. Nun folgt nach „Das Haus in der Gasse“ ihr 1923 erstmals erschienener Roman „Un fiore che non fiorì“, in dem eine junge, zunächst eigensinnig wirkende Frau doch ganz klassisch die Liebe sucht, an den bürgerlichen Konventionen ihrer Zeit verzweifelt und an der Unerfülltheit ihrer Leidenschaft buchstäblich zugrunde geht.  Ein Buch, zwei Übersetzungen  Das Besondere: Es liegen nun gleich zwei Übersetzungen des Romans vor. Christiane Pöhlmanns bei der Friedenauer Presse vorgelegte Übersetzung heißt „Eine Blume ohne Blüte“; jene von Leopold Federmair bei PalmArtPress „Eine Blume, die nicht blühte“. Der eine Titel nimmt sich eine größere poetische Freiheit; der andere hält sich an die ursprüngliche Relativsatz-Konstruktion. Auch der erste Satz des Buches hat in den deutschen Versionen zwei Varianten: Stefano reichte es! Quelle: Maria Messina – Eine Blume ohne Blüte So bei Christiane Pöhlmann. Bei Leopold Federmair lautet er hingegen:  Stefano war sehr verärgert! Quelle: Maria Messina – Eine Blume, die nicht blühte Kreuzdämliche Romantiker   Was sich hier schon andeutet, zieht sich durch das Buch: Pöhlmanns Übersetzung ist spielerischer, entfernt sich zwar nicht vom Original, aber interpretiert es freier und ausdrucksvoller. Federmair bleibt näher am Text, wirkt aber zugleich auch ein bisschen braver. Es ließen sich viele Stellen finden, die das belegen, nur zwei seien zitiert. Pöhlmann: Nun allerdings trottete er mit dem Kopf voran, als trüge er seine Gedanken huckepack. Und bei Federmair: Er ging mit nach vorne gerecktem Kopf, als trüge er die Gedanken auf seiner Schulter. Pöhlmann: Und die Bewunderer im Klub oder beim Tennis – die um keinen Preis als »kreuzdämliche Romantiker« abgestempelt werden wollten – stellten sich mit ihr in einer Weise auf freundschaftlichen Fuß, als wäre sie ein junger Mann.  Federmair: (…) die Bewunderer vom Club und vom Tennis wiederum behandelten sie – um nicht als „dümmliche Romantiker“ zu gelten – auf saloppe Art und Weise, ganz so, als wäre sie ein junger Mann. Konventionen hinter sich lassen  Beide Übersetzungen sind gelungen – wenngleich jene von Pöhlmann der Geschichte der für ihre Zeit ziemlich emanzipierten Franca gerechter zu werden scheint, ihre Keckheit und ihre Regelverstöße stärker in der Sprache zum Klingen bringt. Aus der Perspektive von Franca ist der Roman zum allergrößten Teil erzählt: Sie wächst bei ihrer Tante in einer Kleinstadt bei Florenz auf, ihr Vater lässt ihr gehörige Freiheiten – allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze der Schicklichkeit. Mit ihren Freundinnen bildet sie eine verschworene Gemeinschaft; zumindest so lange nicht der Ernst des Lebens droht. Der bedeutete auch in den 1920er Jahren: heiraten, Kinder kriegen, einem Mann treu ergeben sein – genau die faschistische Ideologie, die in der Entstehungszeit des Romans die Gesellschaft prägte. Franca sträubt sich einerseits dagegen – und wird zugleich von der Liebe zum Sizilianer Stefano in einen Strudel von Begehren und Zweifel gerissen. Dieser Stefano allerdings scheint einer Welt verhaftet, die sie eigentlich hinter sich lassen will. Dass Messina ihrer Heldin zwar Eigensinn zugesteht, sie aber dann doch auf gewisse Weise zum Opfer überkommener Vorstellungen macht, mag man bedauern. Aber auch das ist ein Statement: Messina beschreibt einen Kampf um ein selbstbestimmtes Leben, der noch ganz am Anfang stand. Von diesen Anfängen heute sogar in zwei Übersetzungen einer fast vergessenen Autorin lesen zu können, zeigt: Der feministische Kampf ist zumindest in Teilen erfolgreich weitergegangen.
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Dec 17, 2024 • 4min

Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben

Zu den Stoffen von Science-Fiction-Filmen gehört, dass die Menschen nicht nur von fremden Wesen angegriffen werden, sondern auch von ihren eigenen Geschöpfen. Meistens sind es Roboter, Replikanten oder Cyborgs, die nach der Weltherrschaft greifen. Aber manchmal geht die Revolution auch von ganz alltäglichen Maschinen aus. Dann verhalten sich die Küchengeräte nicht, wie sie sollen, und werden mit einem Mal bedrohlich.  Die Revolution der Maschinen   Die meisten dieser Szenarien mögen abwegig sein, aber die Angst dahinter ist es nicht. Mit der intelligenten Technik, die unser Leben zunehmend durchdringt, steigt auch das Risiko eines Kontrollverlusts. Denn in Zukunft werden uns die technischen Geräte immer häufiger Entscheidungen abnehmen. Sie werden besser Autofahren können als wir, klüger mit unserem Geld umgehen und vielleicht sogar die beständigeren Freunde sein.  Obwohl wir zurzeit eine Revolution mit Ansage erleben, sind wir auf unsere eigene Zukunft schlecht vorbereitet. Aus diesem Grund hat der Philosoph Christian Uhle einen Ratgeber für das Zusammenleben von Menschen und Maschinen vorgelegt. In seinem Buch „Künstliche Intelligenz und echtes Leben“ analysiert er die Verheißungen der neuen Technik und geht der Frage nach, wie wir ein realistisches Verhältnis zu ihnen finden können:  Ob privat oder am Arbeitsplatz – dank autonomer Staubsauger, digitaler Tools und smarter Helferlein gewinnen wir angeblich mehr Zeit für Freundinnen oder Kunden. Das klingt gut. Aber ist es auch realistisch? Werden diese Versprechen eingelöst? Werden wir in zehn Jahren dank KI, automatisierter Produktion und neuer Services effizient, fokussiert und entspannt durch den Tag schweben? Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Die künstlichen Gefühle  Mit wenigen philosophischen Handgriffen erklärt Uhle, warum diese Annahme naiv ist. In einer modernen Welt wie der unsrigen wird jede gesparte Zeit sofort wieder in neue Unternehmungen investiert. Längst haben uns die Errungenschaften der Technik auf den endlosen Pfad ständiger Verbesserungen getrieben. Davon abzuweichen, ist gar nicht so einfach. Oft meinen wir, selbst in unserer Freizeit effizient sein zu müssen.   Sorgsam geht Uhle unser alltägliches Leben durch, entlang der Sehnsüchte nach Geborgenheit und Glück. Die Technik ist nicht nur weit effizienter als wir Menschen, sie hat sich auch bereits als eine bessere Managerin unserer eigenen Gefühle erwiesen. Algorithmen suchen uns die passenden Partner aus, ahnen unsere Stimmungstiefs lange vor uns selbst und reden mit uns, wenn sich alle anderen bereits abgewendet haben:  In der absehbaren Zukunft werden viele Menschen einen eigenen digitalen Assistenten nutzen, der sie vom Moment des Aufstehens bis zum Schlafengehen durch den Tag begleitet, der immer für sie da ist, der alles weiß und der ihnen das Gefühl gibt, verstanden zu werden und niemals mehr allein zu sein. Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Das zweite Leben  Viele werden diese neue Welt künstlicher Gefühle vielleicht abstoßend finden. Aber schon bald wird sie uns vertraut sein. Neben unserem geläufigen Leben werden wir noch ein zweites Leben führen, zusammen mit den Maschinen um uns, die zunehmend an Eigenständigkeit gewinnen. Die Leitlinien, die Uhle zum Umgang mit ihnen entworfen hat, sind ein Plädoyer dafür, sich rechtzeitig mit diesem zweiten Leben zu beschäftigen:   Gesellschaften haben sich schon immer verändert, aber jetzt erleben wir nicht lediglich eine Veränderung in unseren Gesellschaften, sondern eine Veränderung darin, was eine Gesellschaft überhaupt ist. Es ist nicht mehr etwas, das lediglich zwischen Menschen passiert und an dem Menschen teilhaben. Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Uhle wendet sich mit seinem Buch bewusst an ein Publikum, das sich bislang noch nicht mit Fragen der Künstlichen Intelligenz beschäftigt hat. Sein Ratgeber für das Maschinenzeitalter ist zugleich eine gut verständliche Einführung in die logischen Grundlagen der neuen Anwendungen, denen wir bereits überall in unserem Alltag begegnen. Aber es ist vor allem eine gelungene Befragung unserer Erwartungen an eine bessere Zukunft.
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Dec 16, 2024 • 4min

Carlo Levi – Die doppelte Nacht

Seine ersten Eindrücke von Nachkriegsdeutschland sammelte Carlo Levi in München, wo er mit einer vorweihnachtlich geschmückten Lufthansa-Maschine aus Rom gelandet war. Sein Hauptinteresse galt der Kunst, der Architektur, den noch immer von Bombenschäden gezeichneten Stadtbildern und vor allem den Menschen. „Es gibt keine Monster“, flüsterte ihm ein junger Franzose beim Bier zu. Tatsächlich erkannte Levi in den Straßenpassanten vorwiegend „leutselige, einfache, wohlhabende“ Bürger, denen ihre Vergangenheit als Untertanen einer bösartigen Diktatur nicht mehr anzusehen war. Er fragte sich:  Wo in diesem selbstzufriedenen Bildungsbürgertum verstecken sich die Ungeheuer? Vielleicht bräuchte es gar nicht viel, sie wieder zu entdecken. Oder entsprachen diese Farblosigkeit und Niedergeschlagenheit ohne jegliche Grandezza auch damals schon der Wahrheit?  Quelle: Carlo Levi – Die doppelte Nacht Deutschland versteckt sich  Anders als frühere Deutschlandbesucher registrierte Levi weder deutsches Selbstmitleid noch Schuldabwehr und Verdrängung. Stattdessen beobachtete er eine „hohle Stille aus Fragen und Erschütterung“. In ihrer beklemmendsten Form begegnete ihm diese Atmosphäre bei einem spontanen Besuch im KZ Dachau, wo die tyrannische Grausamkeit der Nazizeit nun durch das Elend der dort einquartierten Vertriebenen überdeckt wurde. Aus solchen Eindrücken zog Levi die Schlussfolgerung: „Deutschland versteckt sich“.  Streifzüge durch Bierkeller und Museen  In seinem kenntnisreichen Nachwort zu dem Reisebuch, dessen Titel „Die doppelte Nacht“ auf Goethes Faust anspielt, betont der Historiker Bernd Roeck, dass Levi über seine Beobachtungen mit dem Blick des Malers, der er auch war, berichtet hat. Insofern passen die dunklen Schattierungen der winterlichen Szenerien, die der Autor oft zu eindringlichen Tableaus ausmalt, symbolisch sehr gut zu der zwiespältigen Verfassung, die er bei den Deutschen feststellte.   In einem essayistischen Vorwort umkreist Levi die deutschen Befindlichkeiten mit etlichen klugen, mehr oder weniger geläufigen Erklärungsversuchen. Viel anschaulicher und weniger spekulativ fallen jedoch seine anekdotischen Wahrnehmungen aus, bei denen er sich primär auf unmittelbare Erlebnisse stützte. Über die intellektuellen Debatten im Lande hingegen ließ er praktisch nichts verlauten. Lieber tauchte er mit offenem Ohr und wachen Sinnen ein ins Nachtleben der Kneipen und Bierkeller. Dort widmete er dem Volksmund ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Alten Meistern in den Museen.  Den Höhepunkt der Reise bildete nach Augsburg, Tübingen oder Stuttgart, die vor allem kunsthistorisch in Erinnerung blieben, der Aufenthalt in Berlin. Dort begegnete der Reisende dem Zwielicht deutscher Schattenwelten und den Existenzfragen des geteilten Landes in geballter Form.   Eine Stadt, zwei Welten  Viele Male pendelte er zwischen West und Ost, zwischen Kudamm und Stalinallee, Stripteasebars und Pergamonaltar hin und her.  Diese halbierten Welten beäugen einander finster, sie stehen einander wie zwei Vertreter unterschiedlicher Zivilisationen gegenüber. Und doch sind sie aus demselben Holz geschnitzt. Quelle: Carlo Levi – Die doppelte Nacht Carlo Levi zeigt sich hier als ein ebenso guter Beobachter wie inspirierter Denker. Seine Ausführungen wirken nach wie vor lebendig und anregend. Darum ist die Deutschlandreise, die sich mit seinem Buch „Die doppelte Nacht“ nachvollziehen lässt, auch von heute aus gesehen nicht viel weniger spannend als damals.
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Dec 12, 2024 • 4min

Richard Cockett – Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand

Die zentrale These klingt zunächst einmal gewagt: Wien habe den „Grundstein für einen Großteil der geistigen und kulturellen Produktion der westlichen Welt im 20. Jahrhundert gelegt“, behaupt Richard Cockett in seinem Buch „Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand.“ Hinreichend bekannt ist die Geschichte der Donaumetropole im „Goldenen Zeitalter“ des Liberalismus, das Wien von Freud, Klimt, Mahler und vielen anderen mit ihren bahnbrechenden intellektuellen und kreativen Leistungen. Weniger bekannt, und darauf legt der Historiker und „Economist“-Journalist Cockett seinen analytischen Schwerpunkt, ist das Wien nach dem Ersten Weltkrieg.   Zu dieser Zeit wurde Wien von Sozialdemokraten regiert und diese versuchten die Ideen des Goldenen Zeitalters anzuwenden. Es ging um die Verbesserung der Lebensumstände und letzten Endes darum, einen „neuen Menschen“ zu erschaffen, wie sie es nannten. Quelle: Richard Cockett Weiterführen der Ideen aus dem „Goldenen Zeitalter“ Wiens  Als ein Beispiel unter vielen nennt Cockett die Verwendung von Erkenntnissen aus der Psychoanalyse im „Roten Wien“.  Da ging es nicht mehr nur um sehr reiche Patienten, die sich von Freud ihre Träume deuten ließen. Die Sozialdemokraten nahmen die Grundideen von Freud und verwandelten  sie in Mittel für Sexualerziehung, Gesundheitserziehung, für all das, was man heute psychische Gesundheit nennen würde. Quelle: Richard Cockett Jüdische Impulse für die liberale Moderne  Träger des liberalen und des Roten Wien waren sehr häufig assimilierte Jüdinnen und Juden, die in Wien seit den Zeiten Franz Josephs ein tolerantes und multikulturelles Klima vorgefunden hatten. Diese Welt wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg von illiberalen Tendenzen bedroht, die sich in Wien stärker zeigten als anderswo. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, Antisemit und Populist der ersten Stunde, wurde so etwa zum Lehrmeister des jungen Kunststudenten Adolf Hitler.  Zweifellos war der Erfolg der assimilierten Wiener Juden ein Schlag ins Gesicht für Hitler und seinesgleichen. Ein Frontalangriff auf ihre nationalistischen, großdeutschen Überzeugungen und ihre Blut-und-Boden-Ideologie. Quelle: Richard Cockett Die vom Logischen Empirismus geprägte geistige Landschaft Wiens, die unter anderem die moderne Küche oder die erste Studie über Langzeitarbeitslosigkeit hervorbrachte, wurde in den 1930er-Jahren von den Austrofaschisten und später von den Nazis zugrunde gerichtet. Aber jene ihrer Protagonisten, die rechtzeitig aus Österreich fliehen konnten, trugen ihre Ideen und Methoden in die Länder, die sie aufnahmen.   Die USA profitierten von der Wiener Einwanderung   Insbesondere die USA profitierten auf zahlreichen Gebieten von der Wiener Einwanderung. Billy Wilder, Fred Zinnemann und Otto Preminger stellten das konservative Hollywood auf den Kopf. Der Architekt Victor Gruen erfand das Einkaufszentrum, weil er sich in der versprengten US-amerikanischen Einkaufslandschaft nicht zurechtfand. Und eine Gruppe von liberalen Denkern, darunter Karl Popper, lieferte in Form von Büchern die wichtigste ideologische Munition im beginnenden Kalten Krieg.  Ich denke, der Grund dafür, weshalb sie so wichtig wurden und weshalb ihre Arbeiten vor allem in Großbritannien und den USA rezipiert wurden, ist, dass sie Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus viel früher und aus nächster Nähe erlebt hatten. Nämlich im Wien der 20er- und 30er-Jahre. Quelle: Richard Cockett Es ist ein ungewohnter, britisch-liberaler Blick, den Cockett auf dieses Stück österreichische Geschichte wirft. Seine originelle und kenntnisreiche Darstellung lässt das erstaunlich lebendige Erbe einer gewaltsam ausgelöschten Welt schillernd zutage treten.
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Dec 11, 2024 • 4min

Ada D’Adamo – Brief an mein Kind | Buchkritik

Der Schicksalsschlag traf Ada D’Adamo völlig unvorbereitet. Als sie im November 2007 ihre Tochter Daria zur Welt brachte, ahnte sie zunächst nichts Schlimmes. Schließlich hatte sie vorher alle nötigen Schwangerschafts-Untersuchungen gemacht – immer ohne Auffälligkeit. Dann aber hielt D’Adamo nach der Geburt ein Baby im Arm, bei dem „HPE“ festgestellt wurde: der abgekürzte Fachterminus für eine schwere Hirnschädigung. Entsprechend schnell stand fest: D’Adamos Tochter Daria würde niemals laufen können, niemals sprechen, niemals gerade sitzen und nie klar konturiert sehen. Eine Leben ohne Hoffnung auf Selbständigkeit Sie würde zeitlebens ein Mensch bleiben, der auf fremde Hilfe angewiesen sein würde. Und damit ein Kind, das D’Adamo bei entsprechendem Vorbefund nicht geboren hätte, wie sie offenherzig zugibt:     Ich liebe meine wundervolle, unperfekte Tochter. (…) Doch hätte ich damals die Wahl gehabt, ich hätte mich für einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen entschieden. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Schlimme Diagnose nach der Geburt  Schon das Schicksal, ungeplant Mutter einer hochgradig beeinträchtigten Tochter zu werden, ist schwer erträglich. Umso erschütternder liest es sich, dass die Autorin einige Jahre später auch noch eine weitere fatale Diagnose hinnehmen muss: Diesmal die Diagnose, an fortgeschrittenem Brustkrebs erkrankt zu sein. „Brief an mein Kind“ ist somit der ergreifende Lebensbericht einer erfolgreichen, talentierten, emanzipierten Frau, die 2007 plötzlich ohne Vorwarnung in einen Unglücksstrudel gerät, scheinbar völlig grund- und schuldlos: Warum gerade ich? Man sucht nach einem konkreten Grund, weil man nicht hinnehmen kann, das Opfer eines simplen Zufalls zu sein.  Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Als Mutter einer schwer behinderten Tochter machte D’Adamo dann die bittere Erfahrung, schlagartig zu einem „Menschen zweiter Klasse“ degradiert zu werden, wie sie schreibt. Zu einem sozialen Paria, der – genauso wie ihre Tochter Daria – von der tonangebenden Mehrheit der Gesunden im Alltag ständig übersehen, ausgegrenzt und manchmal sogar öffentlich beleidigt wird. Im Gegensatz zu vielen anderen Opferberichten aber verblüfft an D’Adamos Mutterbeichte deren so gar nicht wütend-anklagender und unjammeriger, unpathetischer Tonfall. Ganz offensichtlich ging es der Autorin mit ihrem letzten Buch nicht darum, eine Abrechnung mit unserer oft ungerechten, unsolidarischen Leistungsgesellschaft vorzulegen. Eine Unglücksbilanz ohne Wut und Bitterkeit Stattdessen erzählt D’Adamo in ihrem Abschiedsbrief an die Tochter vor allem von ihrer eigenen inneren Wandlung. Also davon, wie sie als ehemalige Tänzerin und Perfektionistin langsam gelernt hat, die täglichen Demütigungen an Darias Seite mit einem gewissen Gleichmut zu ertragen: Das ist keine Resignation, eher so etwas wie aktive Akzeptanz. Man hört auf, „dagegen“ zu kämpfen. Man konzentriert sich darauf, „für“ etwas zu kämpfen. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Es ist dieser nicht mehr hadernde, nachsichtige und angenehm unaufgeregte Blick auf die eigene Tragödie, der  D’Adamos Überlebensbericht so außergewöhnlich macht. Zwar äußert sie darin auch immer wieder durchaus scharfe Kritik an unserer, auf Profitmaximierung ausgerichteten Lebensweise, derentwegen wir heute oft so unfähig sind, angemessen auf Versehrtheit und Tod zu reagieren. Die Autorin gesteht aber auch eigene Fehler im Umgang mit Daria ein. Und: Sie verpackt ihre Klage insgesamt so freundschaftlich in die Du-Ansprache, dass ihr nichts Rachsüchtiges, Selbstmitleidiges oder Didaktisches anhaftet. Auf diese Weise wird D‘Adamos Brief letztlich zu einem ermunternden Aufruf an uns alle. Dafür, sich den Wert jeden Lebens bewusst zu machen, so schwierig, herausfordernd oder unperfekt es einem mitunter auch erscheinen mag.
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Dec 10, 2024 • 4min

Timothy Snyder – Über Freiheit | Buchkritik

„Freie Fahrt für freie Bürger!“ Mit diesem Slogan machte der ADAC im Februar 1974 gegen ein Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen mobil. „Freie Fahrt für freie Bürger!“ Das ist nicht die Art von Freiheit, die Timothy Snyder meint. Der Yale-Historiker argumentiert in seinem Buch gegen ein allzu primitives Verständnis von Freiheit, das Freiheit vor allem als Recht versteht, von Einschränkungen verschont zu bleiben. Wer sich weigert, bestimmte Limitierungen für sich gelten zu lassen, ist deshalb noch lange nicht frei, argumentiert Snyder. Der Historiker unterscheidet, wie einst der Philosoph Isaiah Berlin, „negative“ und „positive“ Freiheit voneinander:  Negative Freiheit ist die Idee, dass ICH gegen die Welt antrete. Dass das einzige Problem die Welt ist. Dass es da draußen eine Barriere gibt, die ich überwinden oder niederreißen muss. Negative Freiheit ist eine „Freiheit VON“. Positive Freiheit, wie ich sie verstehe, ist eine „Freiheit ZU.“  Quelle: Timothy Snyder Die Freiheit der Wahl  Wirklich frei, so Timothy Snyder, ist man erst, wenn man zwischen verschiedenen Optionen wählen kann – guten Optionen:  And I deeply believe that it is the ability to choose among the good things. There are good things in the world, when we're in a condition or a state to choose among them, then we're free.  Quelle: Timothy Snyder In den USA, so Timothy Snyder, hingen viele Menschen einem im Großen und Ganzen eher schlichten Verständnis von Freiheit an. Von libertärer und rechtspopulistischer Seite wird Freiheit ja vor allem als Freiheit definiert, seine Interessen unbehelligt von staatlichen oder sonstigen Reglementierungen durchzusetzen, ob es nun ums Waffentragen geht oder um die Freiheit, für die Wohlfahrt anderer, möglicherweise unterprivilegierter Menschen nicht aufkommen zu müssen. Jeder ist, diesem Verständnis von Freiheit nach, sich selbst der Nächste.  Freiheit muss organisiert werden  Dagegen könne sich „positive Freiheit“ nur in der empathischen, lebendigen Interaktion mit anderen verwirklichen, postuliert Timothy Snyder. Anknüpfend an Persönlichkeiten wie Vaclav Havel, Edith Stein, Simone Weil und Leszek Kolakowski – historische Bezugsgrößen, die ihm wichtig sind –, plädiert der Yale-Historiker dafür, Freiheit in demokratischer Übereinkunft gesellschaftlich zu organisieren.  Wenn Sie ein negatives Freiheitsverständnis haben, werden Sie davon überzeugt sein, dass die Regierung ausschließlich Ihr Gegner ist. Sie werden die Regierung verkleinern, wenn Sie die Macht dazu haben, und die Regierung wird am Ende nicht mehr in der Lage sein, genau die Dinge zu tun, die sie tun müsste, um die Freiheit der Menschen zu gewährleisten. Quelle: Timothy Snyder Pragmatischer Optimismus  Timothy Snyder hat ein tiefschürfendes und in vielerlei Hinsicht anregendes Buch geschrieben. Dass der Autor auf grämliches Moralisieren verzichtet und der „positiven Freiheit“, für die er plädiert, mit pragmatischem Optimismus zum Durchbruch verhelfen möchte, macht diesen Band – trotz des anspruchsvollen Themas – streckenweise zu einem vergnüglichen Leseerlebnis.
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Dec 9, 2024 • 4min

Daniela Seel – Nach Eden

Seit rund 2000 Jahren wird die Geschichte der Menschheit auch erzählt als Geschichte des Sündenfalls: Gott verbietet Adam und Eva im Paradies, Früchte vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Die listige Schlange verführt Eva dazu, sich diesem Verbot zu widersetzen. Adam und Eva erlangen dadurch Erkenntnis, werden sich ihrer Nacktheit gewahr. Keine Verführung, sondern bewusste Entscheidung Sie werden dafür von Gott aus dem Paradies verstoßen, werden sterblich, und die Geburt ihrer Kinder ist von diesem Moment an durch einen Fluch Gottes mit großen Schmerzen für die Frau verbunden. Die Lyrikerin Daniela Seel wagt eine andere Interpretation dieser biblischen und für die Geschichte des Abendlandes so bedeutenden Urszene, begreift sie nicht als Verführung durch die Schlange, sondern als bewusste Entscheidung:  Eva entscheidet sich. Für Erkenntnis und Lust. Für Mut. Die Konsequenzen nimmt sie in Kauf. Nehme ich Eva ernst, ist die Vertreibung aus dem Paradies nicht Rauswurf, sondern Auszug. Der Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Eva ernst nehmen Eva ernst nehmen und damit die ganz großen Fragen nach Schuld, Verantwortung, Erkenntnis noch einmal stellen, das geschieht in „nach eden“. Wäre das Leben im Paradies als Lebensraum denn wirklich so paradiesisch? Steckt nicht auch in ihm schon etwas Gewaltsames?  Vom Garten ist es nicht weit zur Plantage mit ihrer Sklav:innenarbeit, Ausbeutung, Raub. Für und gegen wen will Garten Eden sein, Paradies – das sich herüberliest von awestisch pairi daēza, »Einhegung«, »umwallt«? Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Daniela Seel blickt in ihren Gedichten auf Versuche, Unbegrenztes, Unbequemes und Unberechenbares einzuhegen, seien es Tiere und Pflanzen unbekannter Arten, seien es Frauen im Mittelalter, die als Hexen verbrannt wurden, seien es die Naturvölker, die Alexander von Humboldt auf seinen Reisen mit dem Blick der Kolonisators erforschte, seien es besonders bedürftige Kinder unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, seien es spätgebärende Frauen, deren Schwangerschaften als Risiko betrachtet wird:  Als meine Kinder geboren werden, bin ich 43 und 45 Jahre alt. Risikoschwangerschaften der Statistik nach. Aber auf welches Risiko wird hier gezielt? Bei der obligatorischen Frühdiagnostik frage ich den Arzt, ob sich durch gesündere ältere Mütter und höhere Lebenserwartung nichts geändert habe. Ohne aufzublicken, sagt er nein. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und Feminismus So beginnt eines der Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und den Umgang der Medizin, es endet mit den Versen:  Die Befunde bleiben »unauffällig«. Hätte ich mich für Abtreibung entschieden, wenn nicht? Wäre ich dazu gedrängt worden und von wem, bei welchem Befund? Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Daniela Seel greift Themen auf, die in der Geschichte des Feminismus seit jeher Gewicht haben. Doch sind es nicht nur die Themen, die ihre Gedichte so wirkungsvoll machen. Vor allem durch unterschiedliche Register, die hier gezogen werden, um verschiedene Stimmen zum Klingen zu bringen, entsteht eine große Intensität. Mal spricht ein Totengräber der Idsteiner Pflegeeinrichtung Kalmenhof, die zur Zeit des Nationalsozialismus Zwischenanstalt für das Tötungslager Hadamar war:  was wollt ich machen, gell. Hätt ichs nicht gemacht, wärs auch mei eigens Leben gegange. Und dann, wo hätt ich auch hingewollt, ich hat ja mit die Außenwelt gar keinen Kontakt Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Fragen aus Kindersicht Immer wieder stellt ein Kind seine Kinderfragen, spricht aus seiner Sicht und konterkariert grausame und gewaltsame Zusammenhänge, die andere Gedichte umkreisen:  Mama, ich höre die Bäume. Ich höre die Bäume singen. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Aus dieser Vielstimmigkeit bei fortwährender Konzentration auf das lyrische Ausgangsmotto „Eva ernst nehmen“ liegt mit „nach eden“ ein Gedichtband vor, der bewegt, produktiv befremdet und einiges riskiert.

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