#742 - Syrien-Expertin Kristin Helberg über HTS & den Sturz von Assad
Dec 10, 2024
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Kristin Helberg, freiberufliche Journalistin und Syrien-Expertin, setzt sich mit dem Sturz des Assad-Regimes auseinander. Sie diskutiert die komplexe Situation nach dem Waffenstillstand 2020 und die Rolle von HTS sowie anderen Akteuren. Ihre persönlichen Erfahrungen als einzige westliche Korrespondentin in Syrien bieten eine einzigartige Perspektive auf die Reaktionen der Bevölkerung und die geopolitischen Spannungen. Helberg beleuchtet auch die Herausforderungen beim Wiederaufbau Syriens und mögliche Zukunftsszenarien für das Land.
Kristin Helberg beschreibt den unerwarteten Sturz des Assad-Regimes nach 54 Jahren als ein bedeutendes, wenig blutiges Ereignis, das von Syrern selbst ausgelöst wurde.
Der syrische Konflikt wird als Stellvertreterkrieg betrachtet, wobei die Dynamik zwischen militärischen und zivilen Protestbewegungen entscheidend ist.
Trotz der Waffenruhe 2020 sind die Lebensbedingungen der Syrer katastrophal geblieben, und die internationale Gemeinschaft hat nicht angemessen reagiert.
Die geografische Kontrolle Syriens ist komplex, mit unterschiedlichen Interessen der beteiligten Akteure wie Assad, HTS und den Kurden.
Die Kurden spielen eine Schlüsselrolle in der zukünftigen politischen Stabilität Syriens, indem sie Autonomie und Mitspracherechte im neuen Regime fordern.
Deep dives
Christine Hellberg und die Entwicklungen in Syrien
Christine Hellberg, eine Expertin für syrische Politik, spricht über die überwältigenden Ereignisse in Syrien, das letztendlich zum Sturz des Assad-Regimes führte. Sie ist besonders beeindruckt, dass dieser Umsturz nach 54 Jahren und mit relativ wenig Blutvergießen von den Syrern selbst vollzogen wurde. Ihre persönliche Verbindung zu Syrien, wo sie sieben Jahre lebte, verstärkt ihr emotionales Engagement für die Situation vor Ort, insbesondere als sie Orte sieht, in denen sie einst lebte, nun jedoch von jubelnden Menschen eingenommen sind. Die historische Bedeutung und die plötzliche Wende in den letzten 10 Tagen zeigen, wie schnell sich die Machtverhältnisse in Syrien verändert haben.
Das Regime und die Wahrnehmung des Bürgerkriegs
Hellberg definiert den Konflikt in Syrien nicht als Bürgerkrieg, sondern als einen Stellvertreterkrieg um Macht, da die Protestbewegung ursprünglich von Teilen der Bevölkerung ausging und nicht von verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Dies unterscheidet sich von einem typischen Bürgerkrieg, wo verschiedene ethnische Gruppen gegeneinander kämpfen. Die Dynamik des Konflikts änderte sich, als die Proteste sich militarisierten und radikalisierten, jedoch blieben die Fronten hauptsächlich von diesen verschiedenen Bevölkerungsgruppen getrennt. Diese Unterscheidung ist wichtig für das Verständnis der Entwicklungen und der Komplexität des syrischen Konflikts.
Die Waffenruhe und die Illusion der Stabilität
Die Diskussion über die Waffenruhe seit 2020 zeigt, dass die vermeintliche Stabilität in Syrien trügerisch war, da die Lebensbedingungen für die Menschen weiterhin schlechter wurden, trotz der Berichte über eingeschränkte Kämpfe. Hellberg erklärt, dass die Menschen, im Glauben an Stabilität, dachten, die Situation würde sich verbessern, während das Regime damit beschäftigt war, an der Macht zu bleiben und humanitäre Hilfe zu missbrauchen. Diese Missverständnisse über die Stabilität führten dazu, dass die internationale Gemeinschaft milde auf die fortdauernden Herausforderungen reagierte. Der weiterhin florierende Drogenhandel, insbesondere der Kaptagonhandel, ist ein weiteres Zeichen für die katastrophalen Lebensumstände in Syrien.
Die Verteilung der Macht in Syrien
In der geografischen Aufteilung Syriens kontrolliert das Assad-Regime den Großteil des Landes, während HTS und türkisch gesicherte Gebiete eine eigene Machtbasis haben. Die Türkei hat militärisch in den Nordwesten eingegriffen und Gebiete besetzt, um den Einfluss von Assad zu begrenzen und eine Fluchtwelle in die Türkei zu verhindern. Gleichzeitig gibt es im Nordosten kontrollierte kurdische Gebiete, die von den SDF verwaltet werden, die im Krieg gegen den IS an die Macht kamen. Diese komplexe Aufteilung zeigt die verschiedenen Interessen und Motivationen der involvierten Akteure.
Die Rolle der Türkei in Syrien
Die Türkei hat ausgeführte Angriffe auf kurdische Gebiete als Teil ihrer Strategie zur Kontrolle über die bestehende Flüchtlingssituation und zur Sicherung ihrer eigenen Grenzen durchgeführt. Hellberg erläutert, dass die Türkei ursprünglich versucht hat, Gebiete in Syrien zu besetzen, aber nun einen Rückzug anstreben könnte, wenn sich Assad stabilisiert. Sie wird als Vermittler fungieren, um ein hohes Austauschverhältnis zwischen dem künftigen syrischen Regime und der Türkei zu etablieren. Dies könnte für die Türkei von Vorteil sein, da es ihr ermöglichen könnte, die Geflüchteten in ihre Heimat zurückzuführen.
Stabilität und die Zukunft der kurdischen Autonomie
Die potenzielle Rolle der Kurden in einem neuen syrischen Regime wird als entscheidend betrachtet, sowohl für den sozialen Frieden als auch für die politische Stabilität des Landes. Hellberg weist darauf hin, dass die Kurden ein Interesse daran haben, ihre Autonomie aufrechtzuerhalten und im neuen System Mitspracherechte zu erhalten, da sie über eigene Verwaltungen und politische Strukturen verfügen. Es wird angenommen, dass eine Form von Föderalismus eine Lösung für den Konflikt zwischen zentraler und regionaler Macht darstellt. Dieser Aspekt könnte darüber entscheiden, ob der Frieden in Syrien dauerhaft sein wird.
Internationale Unterstützung und Erwartungen
Hellberg diskutiert die Rolle der internationalen Gemeinschaft und die Notwendigkeit, Syrien bei dem Wiederaufbau zu unterstützen, um eine Rückkehr der Flüchtlinge zu gewährleisten. Die Schaffung von Bedingungen, die ein sicheres und stabiles Syrien fördern, ist entscheidend, um die enorme humanitäre Krise des Landes zu mildern. Dazu gehören grundlegende Infrastruktureinrichtungen und die Unterstützung der Zivilgesellschaft, damit diese die Stimme des syrischen Volkes repräsentiert. Die internationale Versorgung sollte jedoch auch an die Bedingung geknüpft sein, dass das neue Regime inklusiv und respektvoll gegenüber den Rechten aller ist.
Herausforderung an die Berichterstattung über Syrien
Die Diskussion über die Berichterstattung über Syrien und die Komplexität des Konflikts zeigt die Schwierigkeiten, die Journalisten und Experten bei der Einschätzung der Situation haben. Hellberg betont, dass eine differenzierte Sichtweise nötig ist, um die unterschiedlichen Perspektiven und historischen Kontexte zu verstehen, die den Konflikt geprägt haben. Es wird betont, dass diese Komplexität oft simplifiziert oder verzerrt wird, wenn über das Land berichtet wird. Dies führt zu Fehlinformationen und einem Missverständnis der realen Lage vor Ort.
Der Impact internationaler Akteure auf den Syrien-Konflikt
Die Rolle internationaler Akteure wird als kritisch betrachtet, da sie oft Einfluss auf die Dynamik des Konflikts haben oder die Situation für ihre eigenen geopolitischen Ziele nutzen. Hellberg spricht über das Verhalten der USA und anderer Nationen, die im Sicherheitsrat agieren und dabei das Schicksal Syriens und seiner Bevölkerung ignorieren. Dies führt zu geopolitischen Machtspielen, die weiterhin die reale Lage vor Ort beeinflussen. Die syrische Zivilgesellschaft wird dabei oft übersehen und bleibt die große Verliererin dieser politischen Strategien.
Zukunftsperspektiven und Schlussfolgerungen
Hellberg äußert sich optimistisch hinsichtlich des Potenzials Syriens für einen Neuanfang, jedoch nur, wenn die regionalen Akteure einen stabilen und integrativen politischen Ansatz verfolgen. Die Menschen vor Ort brauchen Vertrauen in die neuen Institutionen und deren Repräsentanten, um den Wiederaufbau zu ermöglichen. Der Weg zur sozialen und politischen Stabilität könnte kontingent auf einem föderalistischen Ansatz basieren, der verschiedenen ethnischen Gruppen und Religionsgemeinschaften gerecht wird. Aber gleichzeitig müssen die Verbrechen der vergangenen Jahre aufgearbeitet werden, um eine gerechte Grundlage für Frieden und Zusammenarbeit in Syrien zu schaffen.
Zu Gast im Studio: Journalistin Kristin Helberg. Sie studierte in Hamburg und Barcelona Politikwissenschaft und Journalistik. 1995 bis 2001 arbeitete sie beim NDR. Von 2001 bis 2008 lebte sie in Damaskus in Syrien, wo sie lange Zeit die einzige offiziell akkreditierte westliche Korrespondentin war. Sie arbeitet als freie Journalistin für die ARD, den ORF, das Schweizer Radio DRS und das Schweizer Fernsehen.
Ein Gespräch über den plötzlichen Sturz des Assad-Regimes in Syrien, die Ursachen dafür, die Situation nach dem Waffenstillstand 2020 und die Vierteilung des Landes sowie die vier bestimmenden Mächten von Assads Truppen, Erdogans Söldner (SNA), Kurdische Kräfte (SDF/YPG) und die radikalen Islamisten von HTS, die Geschichte der Assad-Diktatur seit 1970, Kristins Werdegang, ihre damalige Berichterstattung und Arbeitsbedingungen vor Ort in Syrien, die Ursachen für den Kriegsausbruch in Syrien 2011, die Chronologie des Kriegs und die Interventionen der Türken, Iraner, Amerikaner und Russen, den Einsatz von Chemiewaffen, die Entwicklung von Al-Qaida zu HTS unter Führer Abu Muhammad al-Dschaulani (aka Ahmad Husain asch-Schar'a), die Schwäche von Assads Allierten (Hisbollah, Iran, Russland) als Ursache für seinen Fall, einen Ausblick auf die künftige Entwicklung Syriens sowie Best- und Worstcase-Szenarien, Russlands geopolitisches Interesse in Syrien, die Besatzung von Teilen Syriens durch die Türkei, Israel und den USA sowie die Rolle der Ölvorkommen Syriens uvm. + eure Fragen via Hans