
SWR Kultur lesenswert - Literatur Roman über den Klimawandel: Wenn das Land, das niemals schmilzt, sein Eis verliert
Nov 2, 2025
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Unni wächst in einem Flusstal in Lappland auf, wo ihre Familie seit Hunderten von Jahren lebt. Zu ihren schönsten Erinnerungen gehört der Anblick des dortigen Moors mit seinen Moltebeeren. Eines Tages muss sie mit ihrer Mutter in den Süden ziehen, in ein Dorf bei Helsinki, während der Vater in der Heimat bleibt. Fortan lebt Unni in zwei Welten – in der einen Welt ist sie zuhause, in der anderen Welt eine Außenseiterin.
Während sie mit ihrem Vater glückliche Sommer in Lappland verbringt und ein Rentierkalb aufzieht, wird sie in der Schule wegen ihrer indigenen Wurzeln schikaniert. Später beschließt Unni, Wissenschaftlerin zu werden. Als Expertin für Gletscher forscht sie zu den Folgen des Klimawandels. Die spürt sie längst auch in ihrer Heimat, denn dort taut der Permafrostboden:
Als ich hinkam, glaubte ich zunächst, mich verlaufen zu haben, denn das Moor war nicht mehr dasselbe, es war eben, platt, so wie es die offenen Sümpfe im Süden sind. Die großen Permafrost-Erhebungen, die Palsas heißen, an denen ich mich als Kind orientiert und auf denen Martti und ich unseren Proviant verzehrt hatten, waren eingebrochen, aufs Wasser gesackt wie aufgeschlitzte Tiere.Quelle: Inkeri Markkula: Wo das Eis niemals schmilzt
Große Themen: Klimawandel, kultureller Genozid – und die Liebe
Bei einer Forschungsexpedition in Kanada lernt Unni Jon kennen. Wie sie hat er indigene Wurzeln und die Unterdrückung der eigenen Kultur erlebt. Jon wurde in Quebéc geboren und kurz darauf zwangsadoptiert. Dass er bei Adoptiveltern aufgewachsen ist, erfährt er erst als junger Mann. Nun ist Jon auf der Suche nach seinem leiblichen Vater. Er verzweifelt aber daran, dass er die Inuit-Sprache nicht beherrscht und sich nicht mit ihm austauschen kann. Unni dagegen hat sich die nordsamische Sprache mühsam selbst beigebracht. Weil die Sprache in Finnland über Jahre unterdrückt wurde, beherrschte selbst ihr Vater nur wenige Worte, als Unni viel zu früh auf die Welt kam:Meine Eltern schliefen in den ersten Wochen meines Lebens im Zentralkrankenhaus von Rovaniemi auf dem Fußboden und beobachteten ununterbrochen das dünne, zerknautschte Kind im Brutkasten, danach konnten sie sich keinen anderen Namen als Unni denken, weil das in der nordsamischen Sprache ‚das Kleine‘ bedeutete. Und auch wenn mein Vater die Sprache seiner Eltern vergessen hatte, weil sie ihm in der Schule ausgewaschen worden war, existierte ich für ihn in dieser Sprache.Immer wieder springt der Roman von den frühen 2000er-Jahren, als sich Unni und Jon kennen lernen, in die Vergangenheit. Markkula verwebt ihre Geschichten von Verlust und Resilienz kunstvoll miteinander, thematisch mutet sie dem Leser aber etwas zu viel zu: Schließlich muss der Roman gewichtige Themen schultern und von der Klimakrise, von einem kulturellen Genozid und von einer – schlussendlich tragischen – Liebesgeschichte erzählen.Quelle: Inkeri Markkula: Wo das Eis niemals schmilzt
Erzählt bestechend schön von Veränderung und Verlust
Nicht alle Themen erhalten da genügend Raum. Gerade die Zwangsadoptionen in Kanada werden vergleichsweise kurz abgehandelt und an einigen Stellen etwas plakativ beschrieben, etwa wenn Jons Adoptivmutter beschließt, ihrem Sohn vorerst nichts von seiner Geschichte zu erzählen:Kanada war ein schönes, friedliches, extrem weit in den Norden reichendes Land, in dem glückliche Menschen in gepflegten Häusern lebten und sich auf der Straße fröhlich gegenseitig fragten, was es Neues gab. Hinter den glücklichen Mittelschichtsmenschen gab es ein Land, das seine Minderheiten in Internate sperrte und dem Unrecht, das ihnen widerfuhr, nicht nachging.Bestechend ist der Roman vor allem dann, wenn er die Verlusterfahrungen in Folge des Klimawandels anschaulich macht. Inkeri Markkula beschreibt mit großer sprachlicher Schönheit, wie die bekannte Welt allmählich verschwindet. Unni spürt dies im Norden Kanadas: Sie bemerkt, wie der viel zu frühe Frühling Menschen und Tiere in die Irre führt. Und wie selbst hier – im Land, das dem Inuit-Namen nach niemals schmilzt – die Gletscher brechen und die Geschichte ins Wanken gerät.Quelle: Inkeri Markkula: Wo das Eis niemals schmilzt
