Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse und Experte für das Gesundheitssystem, spricht über die Herausforderungen und hohen Kosten des deutschen Gesundheitssystems. Er kritisiert die ineffiziente Ressourcennutzung und betont die Notwendigkeit umfassender Reformen. Zudem erläutert er Einsparungspotenziale von 42 Milliarden Euro durch effizientere Behandlungsmethoden. Das Gespräch beleuchtet auch die Auswirkungen hoher Medikamentenpreise und diskutiert die Bedeutung digitaler Lösungen im Gesundheitswesen.
Die steigenden Gesundheits- und Pflegekosten durch die Alterung der Gesellschaft erfordern dringend grundlegende Reformen im deutschen Gesundheitssystem.
Trotz hoher Ausgaben weist das deutsche Gesundheitswesen keine überdurchschnittlichen Ergebnisse hinsichtlich Lebenserwartung oder Therapieerfolg auf.
Die Diskussion über die Finanzierung des Gesundheitssystems sollte eine gerechtere Umverteilung und stärkere Beteiligung vermögender Bevölkerungsschichten einbeziehen.
Die Digitalisierung könnte potenziell 12 Prozent der Gesamtkosten im Gesundheitswesen einsparen und gleichzeitig die Qualität der Versorgung verbessern.
Deep dives
Der Zustand des deutschen Gesundheitssystems
Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der teuersten der Welt, erzielt aber nur durchschnittliche Ergebnisse in Bezug auf Lebenserwartung und Therapieerfolge. Im Kontext der Alterung der Bevölkerung prognostiziert man steigende Kosten für Pflege und Gesundheit, weshalb Reformen nötig sind. Politische Debatten konzentrieren sich jedoch oft auf die Bereitstellung weiterer finanzieller Mittel anstatt auf notwendige Strukturveränderungen. Es ist entscheidend zu analysieren, wie die vorhandenen Mittel effizienter eingesetzt werden können, um die Qualität und den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verbessern.
Beitragserhöhungen und ihre Auswirkungen
Die gesetzlichen Krankenkassen haben im neuen Jahr deutliche Beitragserhöhungen verkündet, was sowohl für Versicherte als auch Arbeitgeber Druck verursacht. Diese Anpassungen sind die größten seit einem halben Jahrhundert und reflektieren die schmerzhaften finanziellen Realitäten des Systems. Zudem wird der politische Diskurs über die Finanzierung des Gesundheitssystems von Vorschlägen wie höheren Steuern auf Kapitalerträge geprägt. Solche Lösungen könnten kurzfristig populär sein, bieten jedoch keine langfristigen Ansätze zur strukturellen Verbesserung.
Wirtschaftliche Ungerechtigkeit in der Finanzierung
Eine der zentralen Fragen bei der Finanzierung des Gesundheitssystems ist die Beteiligung der Reichen, die von einer solidarischen Finanzierung profitieren sollten. Der Vorschlag, dass Hauptverdiener mehr zur Finanzierung der Sozialkassen beitragen sollten, stieß auf Widerstand, da oft nicht die tatsächlich Wohlhabenden in der gesetzlichen Krankenversicherung sind. Diese Diskussion wirft grundlegende Fragen zur Umverteilung und zur gerechten Finanzierung des Systems auf. Der Fokus sollte auf einer umfassenderen Betrachtung aller Einkommensarten und deren fairer Beitrag zur Gesundheitsfinanzierung liegen.
Finanzierung und Ausgaben im internationalen Vergleich
Deutschland gibt 8.440 US-Dollar pro Kopf für das Gesundheitssystem aus, was im Vergleich zu Ländern wie den USA und der Schweiz gering ist, jedoch mehr als in Frankreich, Großbritannien oder Italien. Trotz dieser hohen Ausgaben weist Deutschland keine überdurchschnittlichen Ergebnisse wie höhere Lebenserwartung auf. In der Tat ist die Lebenserwartung deutscher Männer und Frauen im internationalen Vergleich eher durchschnittlich. Die Daten legen nahe, dass das Problem weniger in der Höhe der Ausgaben, sondern vielmehr in deren effizienter Nutzung zu suchen ist.
Krankenhausbetten und Behandlungseffizienz
Deutschland hat eine der höchsten Raten an Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner, was jedoch nicht unbedingt zu einer besseren Patientenversorgung führt. Vielmehr sorgen Überkapazitäten dafür, dass unnötige Behandlungen und längere Krankenhausaufenthalte stattfinden, was die Gesamtkosten in die Höhe treibt. Eine angestrebte Reform zur Reduzierung der Bettenanzahl könnte sowohl die Kosten senken als auch die Arbeitslast für Pflegekräfte verringern. Dies würde zu einer besseren Patientenversorgung und einer effizienteren Nutzung der Ressourcen im Gesundheitssystem führen.
Digitalisierung als Kostensenkungspotenzial
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen birgt ein Einsparpotenzial von 12 Prozent der Gesamtkosten, was etwa 42 Milliarden Euro jährlich entspricht. McKinsey hat errechnet, dass sowohl Produktivitätssteigerungen bei Leistungserbringern als auch eine Reduzierung der Nachfrage durch weniger invasive Untersuchungsmethoden zu diesen Einsparungen beitragen könnten. Die Digitalisierung könnte nicht nur Kosten sparen, sondern auch die Qualität der Behandlung und die Erfahrung der Patienten verbessern. Eine gezielte Investition in digitale Lösungen könnte entscheidend sein für die Effizienz des deutschen Gesundheitssystems.
Die Rolle der Politik im Gesundheitswesen
Die mangelnde Bereitschaft der Politik, tiefgreifende Reformen im Gesundheitssystem anzugehen, steht im Gegensatz zu den notwendigen Veränderungen. Politiker setzen oft darauf, durch weitere Finanzmittel kurzfristige Erleichterungen zu schaffen, anstatt strukturelle Probleme anzugehen. Dies führt zu einer unhaltbaren Finanzsituation, die immer wieder auf die Versicherten abgewälzt wird. Es ist unerlässlich, dass zukünftige Regierungen den Mut aufbringen, die vorhandenen Interessensgruppen herauszufordern und nachhaltige Lösungen zu suchen.
Zukunftsmodelle für das Gesundheitssystem
Die Diskussion über die zukünftige Ausrichtung des Gesundheitssystems muss kreative Ansätze zur Lösung der Herausforderungen im Pflegebereich und in der ambulanten Versorgung beinhalten. Es sollten alternative Modelle erforscht werden, die von Wohngemeinschaften bis zu Quartiersmodellen reichen, um die Pflege älterer Menschen zu verbessern. Des Weiteren muss die Integration der IT-Systeme zwischen Krankenhäusern und ambulanten Sektoren verbessert werden, um die Übertragung von Patientendaten zu optimieren. Diese Maßnahmen könnten zu einer qualitativ besseren Versorgung führen und den steigenden Anforderungen an das Gesundheitssystem gerecht werden.
bto#282 – In den kommenden Jahren werden mit der Alterung der Gesellschaft nicht nur die Kosten für Renten und Pensionen, sondern vor allem auch für Pflege und Gesundheit deutlich steigen. Schon heute ist unser Gesundheitssystem eines der teuersten der Welt, allerdings ohne überdurchschnittlich gute Ergebnisse bei Lebenserwartung oder Therapieerfolgen für die Bürger zu erzielen.
Statt sich darauf zu fokussieren, neue Einnahmequellen für ein ineffizientes und nicht effektives System zu erschließen, sollte die Politik das Gesundheitssystem grundlegend reformieren. Was zu tun ist, erklärt der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas, im Gespräch mit Daniel Stelter.
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Die Studie von McKinsey zu den Potenzialen der Digitalisierung im Gesundheitswesen finden Sie hier: https://is.gd/qPAvzC
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