
SWR Kultur lesenswert - Literatur Sten Nadolny – Herbstgeschichte
Oct 28, 2025
04:09
Zugabteile sind bevorzugte Handlungsorte für den Erzähler Sten Nadolny. Das galt für sein Debüt „Netzkarte“ von 1981 ebenso wie zehn Jahre später für „Selim oder die Gabe der Rede“. Auch der neue Roman des inzwischen 83-jährigen beginnt mit einer Zugfahrt.
Zwei alte Schulfreunde – der zögerliche, sich für „hochsensibel“ haltende Schriftsteller Michael und der polternde, bajuwarisch unerschrockene Theaterregisseur Bruno – reisen im Jahr 1998 von Düsseldorf nach Zürich. Unterwegs lernen sie eine wunderschöne junge Frau kennen, so klug wie geheimnisvoll.
Als Michael saß, konnte er sie betrachten. Stockhübsch, dachte er – das war sein Ausdruck für Frauen, die er schön fand. Aber da war noch etwas anderes. Diese Art Gesicht meinte er von einem alten Porträt her zu kennen und suchte im Gedächtnis vergeblich nach dem Maler. Einer der Cranachs vielleicht, aber hatten die jemals eine dunkelhaarige Frau gemalt?Damit ist ein zentrales Motiv eingeführt: Gesichter und das genaue Hinsehen. Während der Schriftsteller Michael darunter leidet, sich keine Gesichter merken zu können, besitzt die junge Frau, die sich Marietta Robusti nennt, ein außerordentliches visuelles Gedächtnis. Sie erkennt auch die beiden semiprominenten Mitreisenden sofort. Sie hat kein Geld, wird verfolgt oder überwacht, so dass die beiden Männer beschließen, ihr zu helfen.Quelle: Sten Nadolny – Herbstgeschichte
Gibt es selbstlose Hilfe?
Erzählt wird dieser Auftakt von einem dritten Schulfreund, Titus, einem Drehbuchautor. Er begegnet – und davon erzählt er im zweiten Kapitel – Michael auf einer Kreuzfahrt im Sommer 2024. Michael zieht ihn in seine Geschichte mit Marietta hinein, die er vier Jahre nach der ersten Begegnung im Zug auf einer Lesereise wiedertraf, ohne sie sofort zu erkennen. Denn sie saß nun im Rollstuhl. Von sexuellen Übergriffen in ihrer Jugend schwer traumatisiert und von einer rätselhaften Krankheit gelähmt, brauchte sie nun Hilfe ganz anderer Art. Doch auch Marietta selbst versteht sich als Helferin, weil sie mit ihren scharfen Augen alles wahrnimmt, was um sie herum passiert.Ich helfe, weil ich, wenn ich hingesehen habe, nicht wieder wegsehen kann. Und weil ich dann das tun muss, was sich richtig anfühlt. Und weil Nichtstun sich meistens falsch anfühlt.Michael wird zu ihrem Vertrauten, Begleiter, väterlichen Freund. Doch scheitert er daran, den Stoff „Frau im Rollstuhl“ zum Roman zu verdichten. Was wäre auch das Thema? Etwa die Frage, ob es reine, selbstlose Hilfe überhaupt gibt? Also bittet er Titus darum, sich der Sache anzunehmen, auch wenn am Ende kein Drehbuch daraus wird, sondern ein Roman – ganz so, wie es einst bei Nadolnys Debüt „Netzkarte“ gewesen ist.Quelle: Sten Nadolny – Herbstgeschichte
