Selbst schuld! Wie weit reicht Eigenverantwortung?
Dec 7, 2024
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Zu Gast sind Ann-Kristin Tlusty, Kulturwissenschaftlerin und Autorin, sowie Stefan Manser-Egli, politischer Philosoph. Sie diskutieren die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Eigenverantwortung und die Illusion der Meritokratie. Es wird beleuchtet, wie individuelle Schuld gefördert wird, während gesellschaftliche Bedingungen oft ignoriert werden. Die Gäste thematisieren auch die Herausforderungen von Erstgenerationsstudierenden und die moralischen Folgen des Präventionsdenkens in der Gesundheitsdiskussion. Zudem wird die Spannung zwischen privatem Handeln und politischen Veränderungen im Klimawandel analysiert.
Die neoliberale Ideologie propagiert die Eigenverantwortung des Individuums und ignoriert damit oft die komplexen gesellschaftlichen Strukturen, die Einfluss auf das individuelle Leben haben.
Die Zuschreibung von Schuld an Personen variiert stark je nach sozialen und kulturellen Kontexten, was zu einem Ungleichgewicht in der Verantwortlichkeit führt.
Die individuelle Verantwortung für Gesundheit und Umweltprobleme wird zunehmend betont, während systemische Ursachen und gesellschaftliche Solidarität aus dem Blickfeld geraten.
Deep dives
Selbstschuld und Eigenverantwortung
Die Diskussion über Schuld und Verantwortung wird als zentraler Aspekt der heutigen Gesellschaft thematisiert. Es stellt sich die Frage, inwiefern Menschen für ihr eigenes Handeln verantwortlich sind und wie oft sie sich an gesellschaftliche Strukturen und Umstände gegenüber ihrer eigenen Entscheidung zurückziehen. Ein Beispiel aus dem persönlichen Erleben zeigt, dass die Autorin reflektiert, wie ihr das Portemonnaie in Berlin gestohlen wurde und sie diese Tat zunächst als eigenes Versagen wahrnimmt. Diese Reflexion eröffnet die Debatte über Eigenverantwortung im Kontext eines Systems, das individuelles Versagen oft mit gesellschaftlicher Kriminalität verknüpft.
Der Druck des neoliberalen Systems
Der neoliberale Gedanke, der Eigenverantwortung propagiert, führt oft zu einer Ideologisierung von Schuld, die von den Menschen erwartet wird. In dem Buch 'Selbstschuld' wird beschrieben, dass diese Ideologie entpolitisiert und eine Solidarität innerhalb der Gesellschaft untergräbt, indem sie den Fokus auf individuelle Schuld legt. Diese Verschiebung von Verantwortung könnte dazu führen, dass systemische Missstände, wie etwa soziale Ungleichheiten und Umweltprobleme, nicht adäquat adressiert werden. Ein Beispiel ist die Diskussion um den Klimawandel, wo individuelle Konsumentscheidungen häufig dafür verantwortlich gemacht werden, während die systemischen Ursachen, wie das Wirtschaftssystem, verschwiegen werden.
Unterschiedliche Zuschreibung von Schuld
Die Podcast-Teilnehmer entdecken, dass die Zuschreibung von Schuld stark von sozialen und kulturellen Faktoren abhängt. Ein konkretes Beispiel aus der politischen Arena zeigt, dass eine öffentliche Figur, die einen Fehler gemacht hat, nicht nur für ihren spezifischen Fehler verantwortlich gemacht wird, sondern auch für die Tatsache, wer sie ist und welche gesellschaftliche Rolle sie spielt. Dies verdeutlicht die Diskrepanz, wie unterschiedliche Akteure in der Gesellschaft für ihre Taten bewertet werden können. Die Herausforderung besteht darin, die gesellschaftliche Ebene zu verstehen und nicht nur auf das Individuum zu zeigen.
Ein neuer Umgang mit Krankheit und Gesundheit
Der Diskurs rund um Gesundheit und Krankheit wird zunehmend individualisiert, wobei den Patienten oft selbst die Verantwortung für Erkrankungen zugeschrieben wird. Angesprochen wird hierbei die ethische Komplexität, die entsteht, wenn individuelle Lebensstile mit gesundheitlichen Risiken verknüpft werden, beispielsweise bei Übergewicht oder chronischen Krankheiten. Dies führt dazu, dass Menschen nicht nur für ihre Gesundheit verantwortlich gemacht werden, sondern auch für die finanziellen Belastungen im Gesundheitssystem. Ein zentraler Punkt in der Diskussion bleibt, wie das Zusammenspiel von individueller Verantwortung und gesellschaftlicher Solidarität betrachtet werden kann.
Klimakrise und Verantwortung
Die Klimakrise wird diskutiert als eine Herausforderung, die oft individuell betrachtet wird, während die gesellschaftlichen und systemischen Ursachen ausgeblendet bleiben. Diese individuelles Verständnis verhindert kollektives Handeln und fördert Gefühl der Schuld, das Menschen lähmt. Besonders hinterfragt wird die Verantwortung, die auf Individuen liegt, ohne dabei das größere Bild der gesellschaftlichen Verantwortung und der politischen Handlungsmöglichkeiten zu betrachten. Es wird deutlich, dass eine tiefere Auseinandersetzung mit diesen Themen notwendig ist, um konstruktive Lösungen für die Klimakrise zu finden.
Arm? Selbst schuld. Krank? Selbst schuld. Überfordert als Mutter? Selbst schuld. In einer neoliberalen Gesellschaft sei das Individuum alleinig seines Glückes und damit auch Unglückes Schmied. So die Grundthese des neuen Buchs «Selbst schuld!». Stoff für einen kontroversen Stammtisch.
Selbst wenn die Bedingungen noch so widrig sind, in der neoliberalen Gesellschaft werde jede und jeder Einzelne vollumfänglich verantwortlich gemacht für ein gelingendes Leben, für den sozialen Aufstieg, für Gesundheit und Zufriedenheit. Im Umkehrschluss sei dann auch jedes Individuum selbst schuld, wenn der Aufstieg zum Abstieg wird oder die chronische Krankheit die Krankenkassenkosten in die Höhe schnellen lässt. So der Grundtenor des Buches «Selbst schuld!», unter anderem herausgegeben von der Publizistin Ann-Kristin Tlusty. Die Folge: Systemblindheit, weil immer mehr Eigenverantwortung gefordert, statt Solidarität gefördert wird.
Ann-Kristin Tlusty und Stefan Manser-Egli, Philosoph und Co-Präsident der Operation Libero, sind zu Gast am philosophischen Stammtisch bei Barbara Bleisch und Wolfram Eilenberger. Sie diskutieren, wie weit die Eigenverantwortung reichen sollte und was wir verlieren, wenn keiner mehr schuld ist an dem, was er oder sie sich einbrockt.
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