

Geächtet oder akzeptiert? - Täter in der Familie
Ulrikes erschütternde Familiengeschichte
- Ulrike Dierkes ist ein Inzestkind, ihre Schwester wurde vom Vater missbraucht und sie wurde schwanger.
- Ihre Kindheit war geprägt von Geheimnissen, Lügen und Isolation in einer katholischen Einrichtung.
Schweigestrategien in Täterfamilien
- Täterfamilien nutzen Strategien wie Schuldzuweisungen und Geheimhaltung, um das Verbrechen zu verschleiern.
- Das Schweigen und Verschweigen kann strafbar sein, wenn man als Angehöriger tatenlos bleibt.
Familienbande stärken Resozialisierung
- Halte familiäre Kontakte während der Haftart aufrecht, wenn sie tragfähig sind, um Rückfallrisiken zu verringern.
- Soziale Bindungen bieten nach der Entlassung wichtige Stabilität und Unterstützung für Ex-Häftlinge.
Familienangehörige von Straftätern sind manchmal lange Zeit schweigende Mitwisser. Nachdem eine Strafe verbüßt ist, werden Täter oder Täterin oft als das "schwarze Schaf" der Familie gebrandmarkt. Dabei wirken sich stabile familiäre Bande positiv auf das weitere Leben aus. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Christian Baumann
Technik: Andres Caramelle
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Sabine Andresen, Erziehungswissenschaftlerin Uni Frankfurt;
Prof. Frank Neubacher, Kriminologe, Uni Köln;
Alexandra Rauh, Leiterin des Sozialdienstes JVA Siegburg;
Francine Rice und Stefanie Heinemann, Sozialarbeiterinnen JVA Siegburg;
Ulrike Dierkes, Inzestopfer
René und Günther, inhaftierte Straftäter
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Linktipps:
M.E.L.I.N.A eV: Verein für Inzestopfer und den aus inzestuöser sexueller Gewalt entstandenen Inzestkindern HIER geht es zur Website
Studie zur Situation von Kindern von Inhaftierten - HIER geht es zur Website
Studie der Aufarbeitungskommission unter Prof. sabine Andresen zur sexuellen Gewalt in der Familie - HIER geht es zur Website
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 O-Ton Täter in der Familie Ulrike Dierkes (0‘12“)
Meine Schwester ist meine Mutter. Mein Vater ist mein Großvater. Meine Schwester ist aber auch gleichzeitig meine Schwester.
02 O-Ton Täter in der Familie Ulrike Dierkes (0‘16“)
Meine Mutter war die älteste von vier Mädchen und wurde ab dem 7. Lebensjahr vom eigenen Vater sexuell missbraucht. Und wurde mit 13 Jahren schwanger.
03 O-Ton Täter in der Familie Ulrike Dierkes (0‘24“)
Der ausgesprochene Verdacht führte sofort zur Festnahme meines Vaters, meine Mutter ist dann abgeholt worden von einer Fürsorgerin und kam erst mal in die Obhut einer katholischen Einrichtung, wo dann erst mal die Geburt zugewartet werden musste. Das heißt: Ich war der Beweis dieses Verbrechens.
MUSIK ENDE
Sprecher:
„Meine Schwester ist meine Mutter“ – dieser Satz ist erst mal schwer zu begreifen. Er beschreibt ein ungeheuerliches Verbrechen in der Familie. Ulrike Dierkes ist ein Inzest-Kind. Ihr Vater hatte ihre älteste Schwester ab ihrem siebten Lebensjahr regelmäßig vergewaltigt. Als die Schwester 13 war, wurde sie schwanger. Mit Ulrike. Die Familie gilt als Ort der Geborgenheit. Des Schutzes. Für manche ist sie heilig. Doch die Familie kann auch zum Ort von Verbrechen werden: Sexuelle Gewalt gegen Kinder, Inzest, Vernachlässigung, schwere körperliche Gewalt der Partner untereinander. Im schwersten Fall Mord. Familien, in denen solche Dinge geschehen, sind oft in sich geschlossene Systeme. Nichts dringt nach außen. Die, die eigentlich Schutz bieten sollten, sind selbst Täterinnen oder Täter. Oder wenigstens Mitwisser.
MUSIK Familiar things disappear; ZEIT: 00:21
Sprecher:
Ulrike Dierkes wuchs mit zwei Schwestern auf. Ihre Großmutter spielte die perfekte Mutterrolle. Ihre leibliche Mutter, also ihre Schwester, lebte in der Obhut einer katholischen Einrichtung. Hinter dicken Mauern. An ihre eigene Kindheit hat Ulrike nur fragmentarische Erinnerungen:
MUSIK ENDE
04 O-Ton Täter in der Familie Ulrike Dierkes (0‘20“)
Wenn die Zweitälteste mich im Kinderwagen durch die Siedlung schob, dann gafften Leute gerne in den Kinderwagen rein: „Ach, so sieht die aus!“ Dann guckte die von oben bis unten mich an und sagte „Ach, die sieht ja ganz normal aus“, es waren sehr bizarre Eindrücke, je älter ich wurde.
Sprecher:
Kurz nach Ulrikes Geburt kam der Vater ins Gefängnis wegen „inzestiösem sexuellen Missbrauch“. Ein Nachbar, der offenbar etwas ahnte, hatte Strafanzeige erstattet. Die Frau des Vaters hingegen schwieg. Sie deckte das Geheimnis. Frank Neubacher ist Professor für Kriminologie an der Uni Köln und sagt: Es kommt immer wieder vor, dass sich Frauen bei innerfamiliären Verbrechen zur Mittäterin machen, indem sie die Augen vor der Tat verschließen:
05 O-Ton Täter in der Familie Frank Neubacher (0‘21“)
Tue ich so, als wäre nichts passiert? Vielleicht habe ich mich ja getäuscht, das ist ja manchmal auch so ein Hoffen gegen jede Vernunft, dass man sagt: „Wenn ich den einen Vorfall irgendwie vergesse, dann bleibt das vielleicht vereinzelt und es wiederholt sich nicht und alles wird gut“, und es kann durchaus auch eine Rolle spielen, dass man sich dann in seiner Loyalität hin und hergerissen fühlt.
Sprecher:
Verbrechen in der Familie haben oft mehrere Akteure: Den Täter oder die Täterin selbst, daneben gibt es Menschen, die etwas mitbekommen oder zumindest erahnen. Und nicht handeln. Frank Neubacher sagt: Auch das kann unter Umständen strafbar sein.
06 O-Ton Täter in der Familie Frank Neubacher (0‘17“)
Wenn man jetzt gegen jede Vernunft die Augen verschließt, und im Grunde genommen weiß: Da passiert was! Und ich ignoriere das und mache gar nichts: weder eine Strafanzeige noch auf anderem Wege sorge ich dafür, dass dem Kind kein weiterer Schaden droht, dann bin ich unter Umständen Mittäterin durch Unterlassen!
Sprecher:
Das Lügengebilde wurde weitergesponnen. „Der Vater liegt im Krankenhaus“, so hatte man Ulrike seine Abwesenheit erklärt. Alle wussten Bescheid, nur sie nicht.
MUSIK „In doubt“; ZEIT: 00:37
Sprecher:
Ulrike war zehn Jahre alt, als das Lügengebäude in sich zusammenbrach wie ein Kartenhaus. Die vermeintliche Mutter sagte zu ihr:
07 O-Ton Täter in der Familie Ulrike Dierkes (0‘12“)
„Morgen kommt ja dein Vater wieder, aber der kommt nicht aus dem Krankenhaus, wie ich immer gesagt habe, sondern aus dem Knast; der hat deiner ältesten Schwester ein Kind gemacht, und dieses Kind bis du!“
Pause
08 O-Ton Täter in der Familie Ulrike Dierkes (0‘20“)
Ich konnte mit Begriffen wie „Knast“ und „der ein Kind gemacht“ – ich konnte mir das nicht vorstellen! Ich wusste nur: Jetzt ist so was Entsetzliches passiert, ich hab gedacht, das ist ein Albtraum! Aber begriff: es ist aber etwas Ungeheuerliches, aber man findet auch keinen Ausweg daraus.
MUSIK ENDE + MUSIKAKZENT privat Take 001 „Corky Prelude”, Album: You Make Me Real; Label: !K7 Records – !K7278CD; Interpret: Brandt Brauer Frick; Komponist: Jan Brauer; ZEIT: 00:04
Sprecher:
Nach 2 ½ Jahren kam der Vater aus dem Gefängnis zurück in die Familie. Sofort nach seiner Rückkehr vergewaltigte er wieder die älteste Tochter. Einige Jahre lang. Für Außenstehende ist es schwer zu begreifen, wie Verbrechen jahrelang ungeschützt in Familien passieren können. Die vermeintliche Mutter hielt dicht, aber auch das Opfer selbst hielt dicht. Das, so die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Sabine Andresen von der Uni Frankfurt kann nur deshalb funktionieren, weil Täterinnen und Täter bestimmte Strategien nutzen, damit das Verbrechen nicht nach außen dringt. Sie hat als ehemalige Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in einer großen Studie das Ausmaß von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht.
10 O-Ton Täter in der Familie Sabine Andresen (0‘22“)
Eine Strategie der Täter und Täterinnen ist es, den Kindern Schuldgefühle zu vermitteln. Denn das trägt mit dazu bei, dass Kinder sich vielleicht nicht anvertrauen. Also diese Schuld- und Schamgefühle sind eine Wirkung von sexueller Gewalt. Und verunsichern betroffene Kinder natürlich ungemein.
Sprecher:
Der Kriminologe Frank Neubacher ergänzt:
11 O-Ton Täter in der Familie Frank Neubacher (0‘28“)
Bei sexuellen Missbrauchstätern ist es ganz üblich, dass man versucht, das Kind in so eine Geheimhaltung zu verstricken, dass man sagt: „Das ist unser Geheimnis, und davon darf niemand erfahren, auch die Mama nicht, und wenn wir da nicht gut zusammenhalten, dichthalten, dann könnte es schlimme Folgen geben, dann ist der Papa vielleicht irgendwann gar nicht mehr da“
Sprecher:
Schuldumkehr, Drohungen, Einschwören auf Geheimhaltung: Es gibt viele Täterstrategien, die garantieren, dass das Wissen um das Verbrechen innerhalb der Familie bleibt.
Ulrike Dierkes begriff die ganze Tragweite des Verbrechens erst mit 30. Der Vater war nach Österreich gezogen. Sie und ihre Schwester-Mutter wollten ihn zur Rede stellen. Er flüchtete in ein Geflecht aus Verleugnung und absurden Theorien.
13 O-Ton Täter in der Familie Ulrike Dierkes (0‘12“)
Seine Version: „Ja, was hab ich denn gemacht? Ich hab ja nur meine Tochter geliebt! Was hab ich denn getan? Und was ist dabei, wenn ein 14jähriges Mädchen ein Kind bekommt?“ – Ja, keine Einsicht.
Sprecher:
In diesem schweren Fall war die Familie unwiederbringlich zerrüttet. Der Vater übernahm null Verantwortung, stritt die Schwere des Verbrechens mit all seinen Folgen für die Familie komplett ab. Ulrikes Wunsch, einen Kontakt aufzubauen und ihre unzähligen Fragen stellen zu können, scheiterte. Kurz darauf starb der Vater.
MUSIK Familiar things disappear; ZEIT: 00:18
Haben ein Täter oder eine Täterin grundsätzlich eine zweite Chance in der Familie verdient? Dürfen sie nach der Haft in die Familie zurückkehren? Oder haben sie das für immer verspielt?
Ob so etwas überhaupt möglich ist, hängt sicherlich davon ab, ob das Verbrechen innerhalb der Familie stattfand oder außerhalb.
Und Täter oder Täterin ihre kriminelle Karriere für immer beenden.
Laut einer Studie des Justizministeriums wird rund jeder zweite Ex-Häftling wieder straffällig. Für einen straffreien Neuanfang gibt es mehrere begünstigende Faktoren: eine Arbeit, eine Wohnung und Hilfe bei Sucht- und Schuldenproblemen.
Sprecher:
Und ganz wichtig, so der Kriminologe Frank Neubacher: stabile soziale Beziehungen.
14 O-Ton Täter in der Familie Frank Neubacher (0‘15“)
Partnerin oder Freunde oder Familienanschluss – das ist das Wichtigste, Diese Bande sind eine wichtige Voraussetzung, dass diese Person gesellschaftlich wieder Tritt fasst und nicht in die Straffälligkeit zurückfällt, das ist ganz sicher richtig.
Atmo JVA Siegburg
Darüber Sprecher:
Familiäre Bande können stabilisieren. Deshalb gibt es in der Justizvollzugsanstalt Siegburg die so genannte „familiensensible Vollzugsgestaltung“. Ziel ist es, auch während der Haft familiäre Kontakte aufrecht zu erhalten – sofern sie tragfähig sind, erklärt Alexandra Rauh, Leiterin des Sozialdienstes.
15 O-Ton Täter in der Familie Alexandra Rauh (0‘15“)
Wenn jemand weiß: Wenn meine Haftstrafe vorbei ist, dann bin ich nicht alleine, ich werde nicht fallengelassen, zu wissen: man hat noch ein soziales Netzwerk, die sagen: „Du kannst mal bei uns unterkommen, wir unterstützen dich, wir sind für dich da.“
Sprecher:
René sehnt sich nach seiner Familie. Er hat keine Ausbildung und noch nie gearbeitet. Seine Mutter starb, als er drei Jahre alt war, René wuchs in einer Adoptivfamilie auf. Obwohl seine Adoptiveltern liebevoll waren und immer zu ihm gehalten haben, wurde René drogenabhängig. Lebte in wechselnden Wohngruppen und Notunterkünften.
16 O-Ton Täter in der Familie René (0‘26“):
Da fing das an mit dem ersten Kontakt zu Drogen: Amphetamine, Koks, dann fing das an mit dem Saufen, und dann irgendwann hab ich so Kreise kennengelernt wegen der Beschaffungskriminalität. Betrugsfälle über Ebay gemacht, mehrere Konten aufgemacht, und Sachen ins Netz gestellt… das ist halt alles so ein bisschen nach hinten gegangen.
Sprecher:
Der Vater kommt ihn einmal im Monat besuchen, die Mutter will nichts mit ihm zu tun haben.
17 O-Ton Täter in der Familie René (0‘41“)
Weil ich in meinem Leben viele Hilfestellungen von meiner Familie bekommen habe und die aber immer wieder mit Füßen getreten habe; die will erst mit mir in Kontakt treten, wenn ich mein Leben im Griff habe. Mein Vater, der hat allerdings noch nicht die Hoffnung aufgegeben, der kommt mich ab und zu besuchen, ich hab ein Ziel: Ich will Richtung Therapie gehen, und mein Vater hat mir gesagt, dass meine Mom und meine Schwester mich sehen wollen würden, wenn ich es in die Therapie geschafft habe. Und das ist für mich jetzt auch so ein Ding, wo ich dran festhalten möchte.
Sprecher:
René schämt sich. Dafür, dass er sein Leben nicht auf die Reihe bekommen hat. Und dafür, dass er in Haft sitzt.
18 O-Ton Täter in der Familie René (0‘08“)
Als mein Vater das erste Mal hier drin war, der hat gesagt: Er fühlt sich überhaupt nicht wohl. Mein Vater findet das ein bisschen schrecklich, dass er mich überhaupt hier besuchen kommt.
Sprecher:
Scham ist ein Gefühl, das viele Inhaftierte haben. Genau wie viele ihrer Angehörigen, sagt Stefanie Heinemann, Sozialarbeiterin in der JVA Siegburg:
19 O-Ton Täter in der Familie Stefanie Heinemann (0‘13“)
Das ist so ein Tabu in der Familie, dass sie überhaupt in Haft sind, dass sie den Kontakt abbrechen, weil sie es nicht ertragen, dass ihre Mutter sie verschweigt oder so und diese Scham einfach ausblenden möchten, dass sie da gar keinen Kontakt haben.
20 O-Ton Täter in der Familie Alexandra Rauh (0‘10“)
Ich kenne tatsächlich auch viele, die dann gesagt haben „Meine Eltern haben den Kontakt abgebrochen, haben allen Nachbarn erzählt, ich wäre einfach weggezogen und man hätte sich über Geld gestritten.“
Sprecher:
René denkt viel nach über alles, was bisher in seinem Leben schiefgelaufen ist. Dass er seine Adoptivmutter schlecht behandelt hat, dass er zu seinem Adoptivvater nur dann den Kontakt gesucht hatte, wenn er mal wieder klamm war.
21 O-Ton Täter in der Familie René (0‘27“)
Trotzdem: Mein Vater, der hat mich nie im Stich gelassen. Der hat mir immer Geld zugesteckt in der Hoffnung: Der Junge kriegt noch mal die Kurve! Wenn ich meinen Vater frage: „Wie sieht’s aus, dass ich mal mit meiner Mutter telefonieren könnte oder sie mal sehen könnte“, da sagt er immer: „Das würde sie nervlich nicht verkraften. Dann könnte man meine Mom in eine Nervenheilanstalt einweisen.“ So schlimm ist das.
Sprecher:
Über den Rest der Familie schweigt sich der Vater aus. Ob die Oma weiß, dass er im Knast sitzt? René hat keine Ahnung. Ein Tabu zwischen Vater und Sohn. Genau wie seine Straftaten. Darüber sprechen Vater und Sohn während der Besuche nicht. Das nächste Ziel ist eine Drogentherapie. Und danach, so hofft René, wird er seine Familie wiedersehen. Vor allem seine Mutter fehlt ihm.
23 O-Ton Täter in der Familie René (0‘26“):
Dass ich die mal in den Arm nehmen kann, ich ihr sagen kann, dass mir die ganze Vergangenheit leidtut. ‚Vergebung‘ - Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Aber es würde mir schon verdammt viel bedeuten, wenn ich mich einfach nur mal mit meiner Mutter zusammensetzen könnte und mich für alles entschuldigen könnte, was ich damals ihr angetan habe.
MUSIK „In doubt“; ZEIT: 00:30 + Atmo Wohngruppe
Sprecher:
In der JVA Siegburg gibt es noch eine Besonderheit in der „familiensensiblen Haftgestaltung“: Die Väterwohngruppe. Hier leben im Schnitt sechs bis neun inhaftierte Väter in einer WG-ähnlichen Kleingruppe zusammen. Sie kochen und essen mittags gemeinsam, dürfen häufiger als üblich von ihren Kindern besucht werden und feiern gemeinsame Familienfeste, so die Leiterin des Sozialdienstes Alexandra Rauh.
MUSIK ENDE
24 O-Ton Täter in der Familie Alexandra Rauh (0‘30“)
Es ist natürlich wichtig, dass Kinder die Kinder die Gelegenheit haben, ihre Väter, auch wenn sie in Haft sind, so oft wie möglich sehen, und trotzdem glaube ich, dass die Kinder davon profitieren, wenn der Vater für sich ne Idee hat: Was bedeutet es eigentlich, Vater zu sein? Zu wissen: Ich bin nicht nur für mein Leben verantwortlich und eine Idee zu entwickeln: Was möchte ich vielleicht auch für mein Kind? Und wie kann ich mein Leben so gut gestalten, dass ich davon was Positives mitnehme und mein Kind vielleicht auch nicht die gleiche Bahn einschlägt wie ich.
Sprecher:
„Eine Haftanstalt ist kein guter Ort für Kinder!“ sagen Kritiker. Sozialarbeiterin Francine Rice (Vor- und Nachname: engl. Aussprache) arbeitet mit den Männern in der Väterwohngruppe. Sie macht die gegenteilige Erfahrung:
25 O-Ton Täter in der Familie Francine Rice (0‘19“):
Und es sind ganz normale, fröhliche, aufgeweckte, liebevolle Kinder, die hier nur rumrennen, spielen wollen, mit ihrem Vater, den sie natürlich total vermisst haben: die ersten Minuten hängen sie ganz viel im Arm vom Papa und erzählen ganz, ganz viel. Die verkraften das vor Ort, wenn sie beim Papa sind, total gut.
Sprecher:
Das bestätigt auch eine internationale Studie aus dem Jahr 2012: Europaweit wurden Kinder von Inhaftierten zu ihrer Lebenssituation befragt. Das Ergebnis: Zwei Drittel leiden unter der Trennung, haben Verlustängste, empfinden Trauer und Wut. Die Studie hat auch aufgezeigt, dass ein regelmäßiger Kontakt zum Inhaftierten diese Belastung mindern kann. Immerhin gibt es in Deutschland schätzungsweise 100.000 Kinder, von denen ein Elternteil in Haft ist.
Atmo Tür wird geöffnet:
Die rot umrahmte Glastür zur Väter-Wohngruppe wird nur vom Personal geöffnet. In der Ecke steht eine Tischtennisplatte, an der Wand hängt ein Plakat, auf dem die kindlichen Entwicklungsphasen und die jeweiligen Bedürfnisse erklärt werden. Von „Vertrauen“ und „sicherer Bindung“ ist zu lesen. Für die Inhaftierten etwas, das die meisten von ihnen nie kennengelernt haben. Und deshalb auch nie an ihre Kinder weitergeben konnten.
Atmo Wohngruppe
Sprecher:
Jahrelange Beschaffungskriminalität, Drogenabhängigkeit seit dem 12. Lebensjahr. Kokain und Heroin. Kein Kontakt zum leiblichen Vater. Der Stiefvater: Schwerstalkoholiker und Bordellbesitzer. Das ist die Biografie von Günther.
Günther lebt in der Väterwohngruppe und wünscht sich nichts sehnlicher als Kontakt zu seinem neunjährigen Sohn. Der Sohn, dem er bisher kein zuverlässiger Vater war. Auf Wunsch wurde seine Stimme etwas verändert.
26 O-Ton Täter in der Familie Günther (0‘26“)
Ich bin ja auch ohne Vater aufgewachsen. Ich kann das voll nachvollziehen, wie der kleine Mann sich fühlt! Ihm geht’s nicht gerade gut. Schulisch läuft es auch nicht so, ich weiß nicht, ob es wegen mir ist, aber er vermisst mich auf jeden Fall, ja… ihm geht es nicht so gut.
MUSIK „2049“; ZEIT: 00:39
Sprecher:
Ob ein Kontakt zwischen Vater und Kind sinnvoll ist, das wird in der JVA Siegburg vorher sorgsam geprüft – zum Wohl des Kindes. Es gibt Ausschlusskriterien: Psychische Auffälligkeiten, Gewalt in der Familie oder generell gegenüber Kindern gehören unter anderem dazu. Während seiner Drogenabhängigkeit war Günther nicht in der Lage, sich wirklich um seinen Sohn zu kümmern. Heute bereut er das sehr und möchte das ändern. Wohngruppenleiterin Francine Rice unterstützt ihn dabei. Beide haben zusammen einen Brief an die Mutter des gemeinsamen Sohnes geschrieben, von der Günther schon länger getrennt ist:
MUSIK ENDE
27 O-Ton Täter in der Familie Francine Rice (0‘30“)
Wo ich eben dann erzählt habe, dass wir versuchen, den Inhaftierten soziale und pädagogische Kompetenzen beizubringen, und dass er in dem Rahmen geäußert hat, dass er wieder Kontakt möchte, aber dass er auch weiß, dass es sehr kleinschrittig erfolgen muss und nicht hinter dem Rücken der Mutter, sondern nur in Zusammenarbeit mit ihr, weil so funktioniert das, und dann hab ich in dem Brief auch angeboten, dass die Mutter mich erst mal anrufen kann und sie erst mal ihre Seite der Dinge schildern kann.
Sprecher:
Tatsächlich war die Ex-Partnerin einverstanden. Beide telefonierten.
28 O-Ton Täter in der Familie Günther (0‘20“):
Sie sagt, sie würde mir auf jeden Fall keine Steine in den Weg legen, sie sagt: Ich bin der Papa, bleib das mein Leben lang, aber ich sollte jetzt mit dem kleinen Mann nicht sprechen, weil das für ihn zusätzlich an Emotionen aufwühlt, er hat’s schon schwer genug. Francine Rice: Er weiß aber auch, dass Sie angerufen haben. Er hat wohl auch gefragt „Ist der Papa am Telefon?“
Sprecher:
Darauf folgte ein zweiter Brief: einer an die Mutter und einer an den Sohn.
29 O-Ton Täter in der Familie Günther (0‘11“)
Gefragt, was er so macht, wie die Schule läuft, dass ich ihn sehr vermisse… dass ich ihn über alles liebe, ich hab jetzt nicht geschrieben, dass ich hier sitze… ich kann’s nicht erklären.
Sprecher:
Papa sitzt im Knast – diese Wahrheit schafft Günther noch nicht auszusprechen. So gerne wäre er ein Vorbild für seinen Sohn. Ist fest entschlossen, es eines Tages zu werden: nach der Haft und einer Drogentherapie. Fast jeden Abend, wenn er in seiner Zelle liegt, denkt er an seinen Jungen. Dann kommen ihm viele Erinnerungen an gute Zeiten, die es in der Vergangenheit durchaus auch gab.
30 O-Ton Täter in der Familie Günther (0‘09“)
Boor, ja, das hatte ich gestern Abend. Les ich ihm was vor, leg mich neben ihm, wir schlafen zusammen ein, da dachte ich schon: Was bist du ein Idiot, dass du jetzt hier sitzt!
MUSIKAKZENT privat Take 001 „Corky Prelude”, Album: You Make Me Real; Label: !K7 Records – !K7278CD; Interpret: Brandt Brauer Frick; Komponist: Jan Brauer; ZEIT: 00:05
Sprecher:
Gemeinsam mit Sozialarbeiterin Francine Rice wird Günther in Einzel- und Gruppensitzungen im so genannten „Vätertraining“ daran arbeiten, dass er eines Tages seinen Sohn wiedersehen kann. Wie kann ein erster Kontakt aussehen? Wie gestaltet sich die Zeit von Vater und Sohn nach der Haft? Was braucht ein Neunjähriger überhaupt von seinem Vater? Ein langer, steiniger Weg. Doch Günther ist fest entschlossen, ihn zu gehen.
31 O-Ton Täter in der Familie Günther (0‘09“)
Tausendprozentig. Und ich möchte auch für ihn da sein. Da lohnt sich alles für zu kämpfen! Ich hab’s draußen nicht so hingekriegt, wie ich es hinkriegen sollte, okay aber jetzt! Ist aber schwer!
Sprecher:
Straftäter und ihre Familien. So schwer es ist, das Band wieder zu knüpfen, so sehr kann sich diese Mühe lohnen. Gute Beziehungen schenken Stabilität und Halt und vermindern – neben anderen Faktoren das Risiko, wieder straffällig zu werden. Allerdings, so der Kriminologie-Professor Frank Neubacher: Erst nach der Entlassung wird sich zeigen, ob alle Wünsche und Pläne auch im Alltag Bestand haben werden.
32 O-Ton Täter in der Familie Neubacher (0‘16“)
Wird er an diesen Entschlüssen festhalten? Oder ist das alles weg, wenn dieser äußere Rahmen wegfällt und er wieder in Freiheit ist? Hat er wirklich Einsicht in seine Problematik gewinnen können während der Haftzeit? Das wird ja eigentlich erst nach der Inhaftierung so richtig auf ne Probe gestellt.
Sprecher:
Und natürlich gibt es auch Konstellationen, in denen ein familiärer Kontakt wenig heilsam und förderlich ist: Zum Beispiel dann, wenn beide Partner gemeinsam kriminell waren. Oder wenn die Tat einfach zu viel verbrannte Erde hinterlassen hat.
MUSIK „In doubt“; ZEIT: 00:45
Ulrike Dierkes, das Inzestkind, musste alleine weiterleben. Ohne Aussprache mit dem Vater. Ohne Antwort auf die Frage: Warum hast du mir, warum hast du das deiner Familie angetan? Sie ging irgendwann an die Öffentlichkeit ging und schrieb gleich mehrere Bücher. Aber nicht nur das: Sie gründete MELINA, einen gemeinnützigen Verein, der sich für Kinder einsetzet, die aus innerfamiliärer sexueller Gewalt entstanden sind. Das ist ihre Art, ihre Geschichte zu verarbeiten: die Hölle, in der sie groß geworden ist. Und die bittere Erkenntnis, dass sie die Tochter eines Straftäters ist.