AI-powered
podcast player
Listen to all your favourite podcasts with AI-powered features
In der Weihnachtszeit spenden Menschen überdurchschnittlich viel, was auf das Fest der Liebe zurückzuführen ist. Diese Tradition der Großzügigkeit und Nächstenliebe bleibt auch in einer sich verändernden Gesellschaft stark verankert. Dennoch wird angedeutet, dass die Humanität, die zu diesem Teilen führt, nicht exklusiv christlich ist, sondern auch in anderen Religionen und philosophischen Strömungen zu finden ist. Die Weihnachtszeit ermutigt nicht nur zum Geben, sondern ruft auch dazu auf, über die eigene Nächstenliebe nachzudenken.
Teilen war über Jahrtausende hinweg eine zentrale Fähigkeit für das Überleben der Menschheit und hat unsere Entwicklung zu sozialen Wesen geprägt. Historisch gesehen haben unsere Vorfahren durch Kooperation beim Jagen und Teilen der Beute überlebt, was auch das Wachstum von Wissen und sozialen Bindungen förderte. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass bereits Kinder das Bedürfnis verspüren, Ressourcen zu teilen, was die grundlegende soziale Natur des Menschen verdeutlicht. So bedeutet die Fähigkeit zu teilen nicht nur, materielle Güter abzugeben, sondern auch Wissen und Erfahrungen weiterzugeben, was für die menschliche Entwicklung entscheidend ist.
Menschen spenden oft aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit heraus oder um ein persönliches Verantwortungsbewusstsein für das Leid in der Welt zu zeigen. Psychologische Faktoren, wie das Empfinden von relativer Privilegierung und emotionaler Verbundenheit mit Bedürftigen, stärken die Bereitschaft zu helfen. Hilfsorganisationen spielen eine entscheidende Rolle, indem sie das Bewusstsein für Notlagen schärfen und einen vertrauensvollen Kanal für Spenden bieten. Gleichzeitig wird betont, dass wahre Gerechtigkeit nicht nur durch Großzügigkeit, sondern durch strukturelle Veränderungen im Umgang mit Ressourcen und sozialen Bedingungen erreicht werden sollte.
Im Jahre 2022 wurden in Deutschland etwa 5,67 Milliarden Euro privat gespendet. Jeder zweite Deutsche hat schon einmal Geld für einen guten Zweck verschenkt. Warum tun wir das? Warum geben Menschen etwas von ihrem Besitz ab? Setzt man sich mit den Ursachen und der Geschichte des Spendens auseinander, so lernt man viel darüber, wer wir eigentlich sind. Autor: Andreas Hauber (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Hauber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Pfarrer Hans Lindenberger, ehem. Direktor des Caritasverbandes i.d. Diözese München-Freising;
Franca Parianen, Neurowissenschaftlerin, Berlin;
Prof. Mario Gollwitzer, Psychologe, München
Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:
Barmherzigkeit - Wiederentdeckung einer Tugend
JETZT ANHÖREN
Sich verschwenden … - Der Zauber der Großzügigkeit
JETZT ANHÖREN
Literaturtipps:
Parianen, Franca, Teilen und Haben – Warum wir zusammenhalten müssen, aber nicht wollen, Dudenverlag, Berlin 2021.
Schneider, Bernhard, Christliche Armenfürsorge- von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Verlag Herder, Freiburg-Basel-Wien, 2017.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Es ist wieder Weihnachtszeit. Die Zeit der Besinnlichkeit und Ruhe. Aber auch die Zeit der Nächstenliebe und der Großzügigkeit. An Weihnachten beschenken wir uns gegenseitig, sind aber auch eher bereit mit denen zu teilen, die weniger Glück haben - denen es schlechter geht. Nie wird so viel zu Spenden aufgerufen und auch gespendet, wie an Weihnachten.
O-Ton 01 Lindenberger
Es ist wirklich ein Phänomen, ich merks an meinem Briefkasten, fast täglich kommt ein Spendenaufruf von irgendeiner Organisation, die Bundesweit oder in Bayern tätig ist.
Sprecherin
Pfarrer Hans Lindenberger, langjähriger Direktor des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising ...
O-Ton 02 Lindenberger
Woher kommt das auf Weihnachten hin? Weihnachten, so heißt es ja, ist das Fest der Liebe und da hoffen dann die Spendenempfänger, die zu den Spenden aufrufen und darum bitten, dass das Herz geöffnet ist, mehr geöffnet ist als im Trubel des ganzen Jahres über - deshalb die Aufrufe zum Spenden.
Sprecherin
Weihnachten - das Fest der Liebe, an dem der Geburt Jesu gedacht wird, dem Mann, der als Sohn Gottes Nächstenliebe vorgelebt und diese auch von seinen Anhängern verlangt hat.
Auch wenn der Einfluss der Kirchen und des Christentums immer mehr zurückgeht, die Idee der Nächstenliebe scheint geblieben zu sein.
O-Ton 03 Lindenberger
Die Humanität, die menschliche Nächstenliebe. Das ist schon eine Prägung vom Christentum her, aus unserer Tradition heraus, in unsere Gesellschaft hinein. Des wäre ja eine Katastrophe, wenn Menschen, die sich nicht als Christen bezeichnen auch Abschied nehmen würden und müssten von der Humanität. Christsein ist immer auch human sein. Und daher mein ich, dass die Bereitschaft zum Geben zum Spenden in unserer Gesellschaft ganz hoch ausgeprägt ist. Auch wenn die Kirche schwächelt.
Musik 2
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 1'17
Sprecherin
Unsere Gesellschaft ist vom Christentum geprägt. Aber Werte wie Humanität und Nächstenliebe finden sich auch in anderen Religionen, in den Gedanken der Aufklärung und dezidiert antiklerikalen oder atheistischen Bewegungen wieder. Weihnachten als Fest der Liebe hat aber offenbar eine besondere Strahlkraft über die christliche Tradition hinaus. Als könnten sich alle darauf einigen sich besonders zu dieser Zeit auf die Nächstenliebe zu besinnen…
Aber irgendwie ist das auch seltsam … Denn das würde ja überspitzt gesagt bedeuten, dass wir immer eine höhere Instanz, sei es einen Gott, eine Lehre oder eine Theorie bräuchten, um miteinander zu teilen. Als müssten wir zu jeder guten Tat aufgefordert werden, weil wir nicht bereit sind von selbst etwas herzugeben … das ist doch ein etwas düsteres Menschenbild.
Schauen wir genauer hin: Wie ist es mit uns Menschen und dem Teilen? Hat Teilen jenseits aller Forderung von außen, aller Moral oder Religion vielleicht nicht etwas Grundsätzliches mit unserem Menschsein zu tun?
O-Ton 04 Parianen
Wenn wir sagen, Kinder müssen Teilen lernen, dann meinen wir meistens dieses großzügige Teilen, also abgeben von dem, was ich habe.
Sprecherin
Die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen hat sich in ihrem Buch „Teilen und Haben“ detailliert mit der Frage nach dem Teilen beschäftigt und untersucht, wie wichtig das Teilen für uns Menschen ist. Ein Blick auf das Verhalten der Kleinsten kann sehr aufschlussreich sein, wenn man herausfinden will, wie unser Wesen grundsätzlich beschaffen ist.
O-Ton 05 Parianen
Und wenn man jetzt kuckt: Können das Kinder besonders gut? stellt sich gerade bei so ganz Kleinen raus: Naja – Grade am Anfang sind wir nicht richtig begeistert von der Vorstellung was hergeben zu müssen von unserer Schokolade, von unseren Keksen.
Sprecherin
Also stimmt es?! Wir sind Egoisten … die anderen sind uns egal ... Wir schauen nur nach unserem eigenen Vorteil ...
Oder doch nicht?
O-Ton 06 Parianen
Das heißt aber von Anfang an nicht, dass uns andere Kinder jetzt egal sind, nämlich, wenn wir die Wahl haben, ob wir einfach selbst für uns ein Keks haben können, oder zwei Kekse für uns beide, aber dafür müssen wir Zusammenarbeit eingehen, dann riskieren wir von ganz klein auf die Zusammenarbeit, d.h., wir wollen eigentlich, dass beide was haben.
Und jetzt könnte man sagen: Naja gut (...) das heißt ja, dass wir großzügig sind, wenn wir selbst nicht verzichten müssen, das kann ich auch(...). Aber wahrscheinlich ist das der Kontext in dem Menschen gelernt haben zu teilen, denn ziemlich am Anfang stand wahrscheinlich eine Situation, wo man zusammen gejagt hat, und danach stand jeder mit mehr da.
Sprecherin
Unsere Vorfahren haben irgendwann damit angefangen zusammen zu jagen, weil damit die Chance ein großes Tier zu erlegen viel größer war. Davon hat jeder schon gehört. Dass wir soziale Wesen sind, hängt irgendwie mit der gemeinsamen Jagd zusammen. Aber gemeinsam Jagen allein bringt noch nicht viel. Schaut man auf unsere nächsten Verwandten, dann wird das deutlich: Stellt man zwei Schimpansen vor eine Aufgabe, in der sie zusammenarbeiten müssen, um eine Belohnung – z.B. einen Obstkorb - zu erhalten, dann tun sie das, aber ….
O-Ton 07 Parianen
Schimpansen sind überhaupt nicht doof, die verstehen sofort was von ihnen verlangt wird. Die gehen in einen Raum rein, ziehen zusammen an einem Seil und danach isst der Ranghöhere alles auf und der andere sitzt beleidigt in der Ecke. Das Ganze funktioniert exakt einmal.
Sprecherin
Mit Kooperation allein ist es also nicht getan.
O-Ton 08 Parianen
Das heißt, wir müssen erstmal abgeben lernen, damit wir Zusammenarbeit möglich machen.
Musik 3
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'20
Sprecherin
Nur wer teilen kann, für den macht Kooperation wirklich Sinn. Und es sieht ganz so aus, dass das Teilen eine wesentliche Fähigkeit gewesen ist, die unsere Entwicklung zu dem, was wir heute sind, erst möglich gemacht hat. Denn das Ganze bleibt nicht bei der Jagdbeute stehen:
O-Ton 09 Parianen
Sondern, indem wir zusammen teilen, teilen wir z.B. auch das Jagdrisiko, d.h. wenn wir heute das teilen, was wir gefunden haben, sitzen, wir morgen nicht alleine da, wenn wir mal nichts finden.
Sprecherin
Doch gibt es noch viel tiefgreifendere Bereiche, in denen das Teilen essenziell ist, betont Franca Parianen:
O-Ton 10 Parianen
Und ganz wichtig: Wir teilen auch von Anfang an Wissen. Es ist nämlich so, dass ohne gewisses Wissen, ohne das Wissen darum, wie man Feuer macht, wie man Fleisch verarbeitet, die ersten Steinkeile und sowas, wir gar nicht in der Lage gewesen wären unser großes Gehirn, wie wir es jetzt haben zu ernähren.
Sprecherin
Auch unsere geistige Entwicklung hängt also zutiefst damit zusammen, dass unsere Vorfahren irgendwann den Vorteil des Teilens erkannt haben.
O-Ton 11 Parianen
Das heißt, in gewisser Weise mussten wir erst sozial werden, um dann klug werden zu können.
Sprecherin
Um klug zu sein, ist ein großes, flexibles Gehirn, das auch nach der Geburt weiterwachsen kann, nötig. Das hat aber zur Folge, dass der menschliche Nachwuchs sehr hilflos und - man könnte sagen - unfertig auf die Welt kommt.
O-Ton 12 Parianen
Wenn man sich das ankuckt, in irgendwelchen Tierdokus, da sieht man immer schon: Und hier, die Giraffe läuft kurz nach ihrer Geburt die ersten Schritte, Kinder können das lange nicht, genau genommen können wir noch nicht mal unseren Kopf besonders gut halten. Und das heißt mit ziemlicher Sicherheit, dass man uns so nicht alleine groß ziehen kann in der Wildnis, als eine Person.
Sprecherin
Im Grunde braucht es, wie ein Sprichwort sagt: Ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.
O-Ton 13 Parianen
... Und das hat uns wiederum ermöglicht, auch unser Gehirn nach der Geburt noch so viel weiterwachsen zu lassen. (...) Viele andere Tiere, die relativ fertig auf die Welt kommen, haben deswegen aber nicht so eine große Möglichkeit ihr Gehirn plastisch anzupassen und zu lernen. Menschen haben diese Möglichkeit, aber sie sind deswegen auch sehr arbeits- und energieaufwändig. Das bedeutet wieder eine große Herausforderung zu teilen.
Sprecherin
Genauso wichtig wie die geteilte Jagd mit der geteilten Beute ist auch die Versorgung der Kinder und das Weitergeben von Wissen. Alles hängt zusammen und wäre nicht möglich, ohne die Fähigkeit miteinander zu teilen. Der Mensch braucht also den anderen, um Mensch sein zu können. Das ist tief in uns angelegt.
Noch eine kleine Geschichte am Rande: Wahrscheinlich sieht man uns das Teilen sogar an. Zumindest stellt die sogenannte cooperative eye hypotesis diese Möglichkeit in den Raum
O-Ton 14 Parianen
(...) und da geht es um unsere Augenfarbe, und zwar nicht um die Farbe der Iris, also das worüber wir immer reden, blaue Augen oder grüne Augen, sondern um das, was drum rum ist, das Weiß. Das hat nämlich tatsächlich keine andere Primatenspezies ...
Sprecherin
Der weiße Augenhintergrund bringt uns aber keinen Vorteil, wir können deshalb nicht schärfer oder weiter sehen. Ganz im Gegenteil ...
O-Ton 15 Parianen
Und sie sind dadurch unpraktisch, weil alle Menschen um uns rum können plötzlich sehen, wo wir hinkucken. Ob wir was zu essen entdeckt haben, ob wir irgendwem hinterherkucken, das heißt: Wir können Geheimnisse sehr schlecht für uns bewahren. Aber: Wir können uns auch mit den Augen koordinieren, wir können sagen Du gehst da lang, ich geh da lang, ohne ein Wort dabei zu verlieren. d.h. für unsere Vorfahren war es wahrscheinlich wichtiger, diese Koordination hinzubekommen, zusammenzuarbeiten, als Wissen für sich zu behalten, (…). Wissen teilen war also von Anfang an von Vorteil.
Sprecherin
Irgendwann, ganz am Anfang seiner Entwicklung, hat der Mensch also erkannt, dass er besser dran ist, wenn er zusammenarbeitet. Zusammenarbeit lohnt sich aber nur, wenn alle davon profitieren. Sie muss auf Augenhöhe stattfinden und auf Gegenseitigkeit beruhen. Dazu ist die Fähigkeit zu Teilen, also in gewissem Sinne das Wohl des anderen mitzudenken von grundlegender Bedeutung.
Musik 4
"Ecartele: Erna's Theme, Reprise" - Album: Ecartele - Ausführende: Szymanowski Quartet, Marina Baranova & Damian Marhulets - Komponist: Damian Marhulets - Länge: 0'31
Sprecherin
Aber – Hand aufs Herz. Wenn es so ist, dass wir Wesen sind, die geradezu auf das Teilen hin ausgerichtet sind, warum ist die Welt dann so wie sie ist? Warum brauchen wir ein Fest der Liebe, warum muss uns immer wieder die Not der anderen ins Gedächtnis gerufen werden – Warum lassen wir die Ungerechtigkeit zu?
O-Ton 16 Parianen
Ja, das ist tatsächlich n großes Problem, wenn ich über diese Sachen rede: (…) wir haben zusammen gejagt, dann haben wir aufgeteilt, dann ist das natürlich nicht wie die meisten Interaktionen heute im Alltag stattfinden.
Sprecherin
In den Anfängen lebte der Mensch noch in kleinen, nomadisch umherziehenden Gruppen, die alles geteilt haben. Ganz anders als heute.
Musik 4
"Duos of the Past" - Album: Passare - Komponist und Ausführender: Peter Scherer - Länge: 0'29
Sprecherin
Heute sind wir sesshaft und da, wo wir uns niedergelassen haben, versuchen wir so viel Privatbesitz wie möglich anzuhäufen. Reichtum ist ein hoher Wert. So werden die einen immer reicher und mächtiger und die anderen immer ärmer und abhängiger. Die Ungerechtigkeit wächst.
O-Ton 17 Parianen
(…) ich habe vorhin gesagt, dass das, was uns sozial gemacht hat, das, was uns erstmal aufgefordert hat zu teilen, die Erkenntnis war, dass die anderen sonst nicht mehr mit uns zusammenarbeiten, also dass wir gegenseitige Abhängigkeiten verstehen. Jetzt haben wir aber, seit wir sesshaft sind, in der Lage Reichtum zu vererben über Generationen hinweg, plötzlich keine gegenseitige Abhängigkeit mehr, wie wir sie vorher hatten, sondern sind in der Lage zu sagen: Das sind meine Bedingungen: take it or leave it. Es verhandelt sich nicht leicht, wenn die eine Person nichts zu essen hat und die andere alles Geld der Welt.
Sprecherin
Durch die Sesshaftigkeit hat sich die Lebensstruktur fundamental verändert. Unser erlerntes und gewohntes Verhalten wurde immer weniger wichtig, stattdessen rückten andere Qualitäten in den Vordergrund. Der Blick verengte sich vom Wohl der Allgemeinheit weg stärker hin auf den Schutz des Eigenen. Das heißt nicht, dass wir vollkommene Egoisten geworden wären. Wir sind soziale Wesen – auch heute noch. Dennoch ist die Welt zunehmend in eine Schieflage geraten.
Musik 5
"Duos of the Past" - Album: Passare - Komponist und Ausführender: Peter Scherer - Länge: 0'43
Sprecherin:
Die Menschen leben schon lange nicht mehr auf Augenhöhe zusammen. Im Gegenteil, 2021 beispielsweise waren 82% des weltweiten Vermögens in der Hand der reichsten 10% der Weltbevölkerung. Der Besitz, wie auch die Macht, sind ungleich verteilt.
Uns allen ist die Ungerechtigkeit bewusst. Aber strukturelle politische Veränderungen sind schwierig, langwierig und oft scheint es am Willen der Verantwortlichen zu fehlen. Weil wir nicht mehr von vorneherein teilen, hat sich das Teilen, so könnte man sagen, nach hinten verschoben. Wir erarbeiten uns Besitz und geben dann von diesem etwas ab.
Musik 6
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'23
Sprecherin :
Hier kommen Begriffe wie Großzügigkeit und Barmherzigkeit ins Spiel. Genau das, was an Weihnachten verstärkt gefordert wird. In dieser Situation können wir uns aussuchen, ob und wem wir etwas geben oder spenden.
O-Ton 18 Gollwitzer
Naja, es gibt ne ganze Reihe von Motiven oder Gründen aus denen heraus Menschen sich prosozial verhalten und teilen oder etwas abgeben, obwohl sie es gar nicht müssten …
Sprecherin
Prof. Mario Gollwitzer, Sozialpsychologe an der LMU München, erforscht, wie Menschen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wahrnehmen. Und hierzu gehört auch prosoziales Verhalten.
O-Ton 19 Gollwitzer
Da ist zum einen mal das Erlebnis von Ungerechtigkeit, wenn ich sehe, wie jemand leidet, oder wie jemand etwas nicht verdient, was ich für ungerecht halte, wenn das, was ich da sehe mich empört. Oder wenn das, was ich da sehe, wenn ich das Leid, das ich auf der Welt sehe mit nem Schuldgefühl verbinde, also, wenn man zum Beispiel konstruiert, dass die Tatsache, dass es anderen Menschen schlechter geht, damit zusammenhängt, dass es mir persönlich oder meiner Gruppe oder meinem Land besser geht -und ich sag mal – da ist ja auch was dran, wenn man solche Gefühle der sog. Relativen Privilegierung empfindet, dann ist das ein sehr, sehr starker Motivator dafür, dass man teilt, oder etwas abgibt.
Sprecherin
Wenn uns ein Unrecht emotional berührt, sind wir gerne bereit zu geben. Für viele Menschen geht es auch darum aus Überzeugung zum Entstehen einer gerechten Welt beizutragen.
O-Ton 20 Gollwitzer
Und eine ganz wichtige Komponente oder ein ganz wichtiger Grund, ein Motivator dafür, warum Menschen helfen, ist, dass sie für sich selber eine persönliche Verantwortung erleben, zu helfen, also dafür zu sorgen, dass Leid auf der Welt durch ihr eigenes Handeln etwas gemildert wird.
Sprecherin
Andere wiederum, haben ganz andere Motive ...
O-Ton 21 Gollwitzer
Und dann gibts natürlich noch viele andere Gründe, aus denen heraus Menschen helfen. Manche Menschen - und das wär dann eher was Egoistisches - helfen nur dann, oder helfen deswegen, weil sie von sich selber gegenüber der Außenwelt ein bestimmtes Bild vermitteln wollen, sie wollen sich als ne nette, moralische, prosoziale, hilfsbereite Person gerieren.
Sprecherin
Es ist auch interessant darauf zu schauen, wen wir bevorzugen. Wenn wir überzeugt sind, dass jemandem offensichtlich zu Unrecht ein Leid widerfahren ist, geben wir leichter und mehr …
O-Ton 22 Parianen
... und das funktioniert besonders gut, wenn gerade eine Katastrophe ist, da ist ein akutes Problem, das ist, wo Menschen Spendenrekorde brechen ...
Sprecherin
Grundsätzlich scheint es aber so, als gäben wir eher dem, der uns nähersteht, mit dem wir uns leichter identifizieren können …
O-Ton 23 Gollwitzer
Ein wichtiger Faktor ist die sog. „Psychologische Distanz“, die man zu einer anderen Person hat, also einem Familienmitglied gibt man mehr als einem Bekannten, einem Bekannten gibt man mehr als nem Unbekannten, Mitgliedern, die zur eigenen Gruppe gehören, zur sog. Ingroup, denen gibt man mehr als Mitgliedern von Outgroups, von Gruppen, denen man nicht angehört ...
Musik 6
"Ecartele: Erna's Theme, Reprise" - Album: Ecartele - Ausführende: Szymanowski Quartet, Marina Baranova & Damian Marhulets - Komponist: Damian Marhulets - Länge: 0'25
Sprecherin
Unser Leben ist global geworden. Uns erreichen Nachrichten vom Leid aus den entferntesten Winkeln der Erde. Wenn man bedenkt, dass wir leichter etwas geben, wenn wir eine persönliche Bindung zu den Betroffenen haben, wird erkennbar, wie wichtig es ist, dass es große etablierte Hilfsorganisationen gibt. Sie sind wie Brücken in die weite Welt.
O-Ton 24 Parianen
... wenn wir spenden an Organisationen, die uns gefallen, dann gibt uns das ein gutes Gefühl. (...) Das heißt, es ist total wichtig, dass es die gibt ...
Musik 7
"Ecartele: Erna's Theme, Reprise" - Album: Ecartele - Ausführende: Szymanowski Quartet, Marina Baranova & Damian Marhulets - Komponist: Damian Marhulets - Länge: 0'36
Sprecherin
Hilfsorganisationen kümmern sich stellvertretend für uns darum, die Ungerechtigkeit wenigstens zu vermindern. Sie zeigen zudem die Not auf und verstetigen die Hilfe, denn die Spendenbereitschaft lässt nach, wenn sich ein Ereignis in die Länge zieht. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass sie glaubwürdig und vertrauenswürdig sind. Denn wer etwas spendet, tut das nur, wenn gesichert ist, dass das Geld auch da ankommt, wo es gebraucht wird und die Spende auch etwas bringt.
O-Ton 25 Gollwitzer
Ja, ich glaube, die Forschung zeigt ziemlich deutlich, dass einer der wichtigsten Gründe dafür, prosoziales Verhalten zu unterminieren, also dass mans nicht tut, obwohl man es eigentlich gerne möchte, erstens das Gefühl ist: Es bringt sowieso nichts, also die Menge an Leid auf der Welt ist so groß, da wäre mein prosoziales Verhalten nur ein Tropfen auf den heißen Stein, das ist was, dass Leute sehr schnell dazu führt, dass sie sagen: dann lass ichs ...
Musik 8
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'31
Sprecherin
Wenn also wieder Weihnachten ist, das Fest der Liebe, erinnern wir Bewohner der Wohlstandsgesellschaften uns verstärkt an die Ungerechtigkeit in der Welt und an unsere eigene Verantwortung. Viele folgen den Aufrufen von Hilfsorganisationen, um damit das Leid und das Elend zu lindern. Es ist gut, dass es das gibt ….
O-Ton 26 Parianen
…. aber wir dürfen uns nicht nur auf diese Großzügigkeit verlassen, weil die irgendwann wieder versiegt, weil es irgendwann zu kompliziert wird, und weil wir einfach Gerechtigkeit brauchen, schon in der Art wie wir das Geld verteilen - von Anfang an, anstatt danach immer nur die Folgen aufzuräumen, dass manche sehr viel mehr haben als andere...
Sprecherin
Oder, wie es Pfarrer Lindenberger ausdrückt, der viele Jahre gegen das Unrecht in der Welt gekämpft hat:
O-Ton 27 Lindenberger
Ich möchte gerne das Wort Barmherzigkeit ablösen auf das Wort Gerechtigkeit. Dass wir durch unseren freiwilligen Beitrag, unser Engagement, dass Menschen auf die Füße kommen, ihnen gerecht werden. Weil durch wie viele Ungerechtigkeitsstrukturen kommen Menschen nicht zum Leben oder fallen hinten runter, oder Kriegssituationen entstehen durch Unrecht für die Menschen. Es geht um Gerechtigkeit.
Musik 9
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'15
Sprecherin
Es ist wichtig, dass wir barmherzig sind, dass wir großzügig sind, spenden und uns einbringen für eine gerechtere Welt. Die aber dann erst erreicht wäre, wenn es all das gar nicht mehr braucht ….
Listen to all your favourite podcasts with AI-powered features
Listen to the best highlights from the podcasts you love and dive into the full episode
Hear something you like? Tap your headphones to save it with AI-generated key takeaways
Send highlights to Twitter, WhatsApp or export them to Notion, Readwise & more
Listen to all your favourite podcasts with AI-powered features
Listen to the best highlights from the podcasts you love and dive into the full episode