"Syrer sind keine Ware, die man hin- und herschieben kann"
Dec 13, 2024
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Kristin Helberg, Nahostexpertin und Journalistin mit umfassender Erfahrung in Syrien, teilt ihre Einblicke über den Sturz des Assad-Regimes. Sie erklärt, wie die Revolution die syrische Gesellschaft verändert hat und was die Zukunft unter Abu Mohammed al-Dschaulani bringen könnte. Die Diskussion beleuchtet auch die geopolitischen Implikationen, insbesondere für Russland und Iran. Ein weiterer Fokus liegt auf den Herausforderungen einer vielfältigen Gesellschaft und der Rolle des Westens im syrischen Konflikt.
Der überraschende Sturz des Assad-Regimes zeigt die Instabilität autoritärer Systeme und könnte ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern auslösen.
Die Machtübernahme durch die HTS in Aleppo wirft Fragen zur zukünftigen politischen Ausrichtung Syriens auf, zwischen islamischer Demokratie und Instabilität.
Die humanitäre Lage der syrischen Flüchtlinge in Deutschland bleibt angespannt und könnte durch mögliche Rückkehrbewegungen gefährdet werden.
Deep dives
Sturz von Bashar al-Assad
Die islamistischen Rebellen der HTS haben überraschend die Kontrolle über die zweitgrößte Stadt Aleppo übernommen, was den Druck auf das Regime von Bashar al-Assad erhöht. Nach 24 Jahren an der Macht ist Assad offenbar geflohen, und Rebellenführer al-Jolani hat die eingenommene Hauptstadt Damaskus verkündet. Diese Plötzliche Wende sorgte für massive Freude unter den Aufständischen, während die politische Zukunft Syriens ungewiss bleibt. Es wird spekuliert, ob das Land in Richtung einer islamisch geprägten Demokratie oder in Richtung instabiler Zustände tendieren wird.
Dynamik des Regimewechsels
Der rasche Sturz des Assad-Regimes überrascht viele, vor allem da die militärische Offensive der HTS in nur wenigen Tagen geschah. Die islamistischen Kämpfer haben in ihrer Blitzoffensive ein diszipliniertes Vorgehen gezeigt, indem sie den Vorort kaum Widerstand geleistet haben. Die militärische Niederlage des Assad-Regimes scheint eng verbunden mit dem Mangel an Legitimität und der Unfähigkeit der syrischen Armee zu sein, den Diktator zu verteidigen. Dies wirft die Frage auf, ob ähnliche Zustände auch in anderen Diktaturen zur gleichen Zeit passieren könnten.
Auswirkungen auf den Nahen Osten
Der Sturz von Assad hat das Machtgefüge im Nahen Osten erheblich destabilisiert, was zu geostrategischen Bedenken führt. Russland und der Iran, die key supporters von Assad, stehen nun unter Druck, ihre Position in der Region zu behaupten. Israel verfolgt die Situation genau, da ein islamistisches Regime in Damaskus potenziell eine Bedrohung darstellen könnte. In der Türkei gibt es ebenfalls Bedenken, da die kurdischen Kräfte möglicherweise wieder an Einfluss gewinnen könnten, was Erdogans ambivalente Haltung zur Situation verstärkt.
Position der syrischen Flüchtlinge in Deutschland
Die Veränderungen in Syrien führen zu Diskussionen über das Schicksal der syrischen Flüchtlinge in Deutschland, viele von denen sich fragen, ob eine Rückkehr sinnvoll ist. Trotz der Jubelmeldungen über den Sturz von Assad bleibt die humanitäre Situation in Syrien angespannt, mit vielen Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Es besteht die Gefahr, dass viele Flüchtlinge vorzeitig zurückkehren, ohne dass in Syrien stabile Bedingungen gewährleistet sind. Diese Rückkehrdebatte könnte zudem den Blick auf die wertvollen Erfahrungen und Perspektiven der syrischen Community in Deutschland trüben.
Zukünftige Herausforderungen für Syrien
Die kommenden Monate könnten entscheidend für die Stabilität und den Wiederaufbau Syriens sein, vor allem unter der Führung der HTS und der möglichen Zusammenarbeit mit kurdischen Gruppen. Die Herausforderungen, wie die Wiederintegration von Flüchtlingen und die Erhaltung der politischen Ordnung, sind immens. Die Gesellschaft ist stark autoritär geprägt, und eine schnelle Transformation in eine stabile Demokratie scheint unrealistisch. Dennoch gibt es Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen im Land, welche die Grundlage für eine bessere Zukunft schaffen könnte.
Nach 53 Jahren Herrschaft des Assad-Clans ist Syrien endlich befreit, aber in den Jubel über den Sturz des Regimes mischt sich schon jetzt Sorge über die Zukunft des Landes: Wohin steuern die neuen Machthaber – hin zu einer islamisch geprägten Demokratie – oder in Richtung eines zweiten Afghanistans? Wie wirkt sich der Sturz Assads auf das Machtgefüge im Nahen Osten aus – und wie auf die internationale Sicherheitsarchitektur?
Über diese und weitere Fragen diskutieren wir in der neuen Ausgabe von "Das Politikteil" mit Kristin Helberg. Die Journalistin und Nahostexpertin hat selbst mehrere Jahre lang in Syrien gelebt und mehrere Bücher über das Land verfasst. Selbst Insider hätten mit der Lage in Syrien gleichsam abgeschlossen gehabt, sagt sie. Nun sei das Regime einfach in sich zusammengefallen. "Die Menschen sind völlig überwältigt. Sie konnten die Vollendung der Revolution live miterleben."
Im Podcast erklärt Helberg den Hintergrund des Mannes, um den sich nun alle Hoffnungen, aber auch Ängste der Syrer ranken: Abu Mohammed al-Dschaulani, der Kopf der Rebellengruppe HTS. Sie skizziert das Regime Assad – und erläutert, welche Folgen der Sturz des Diktators für die Verbündeten Iran und Russland, aber auch für die Machtverhältnisse im Nahen Osten hat.
Im Podcast "Das Politikteil" sprechen wir jede Woche eine Stunde lang über das, was die Politik bewegt. Wir erklären Hintergründe und diskutieren Zusammenhänge – immer freitags mit zwei Moderatoren, einem Gast – und einem Geräusch. Im Wechsel sind als Gastgeber Ileana Grabitz und Peter Dausend oder Tina Hildebrandt und Heinrich Wefing zu hören.
In dieser Woche gibt es auch einen Aufruf an alle Hörerinnen und Hörer, das "Politikteil" zum Jahresende mitzugestalten. Welche Fragen bleiben für Sie offen, wenn Sie an dieses politische Jahr zurück- oder an das neue Jahr denken? Oder was wollten Sie schon immer von den Hosts von "Das Politikteil" wissen? Schicken Sie uns eine kurze Sprachnachricht mit Ihrer Frage auf WhatsApp an +49 40 74305513. Erwähnen Sie zu Beginn Ihrer Sprachnachricht das Codewort "Politikteil". Ausgewählte Fragen beantworten die Hosts von "Das Politikteil" in der Jahresendfolge am 27. Dezember 2024.