#749 - Soziologe Stephan Lessenich über die großen Illusionen der Deutschen
Jan 23, 2025
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Stephan Lessenich, Soziologe und Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, beleuchtet die großen Illusionen in der deutschen Gesellschaft. Er diskutiert die Rolle von sozialen Erwartungen, die Verschmelzung von Fußball und Leistungsgesellschaft und den Rechtsruck der politischen Parteien. Lessenich kritisiert die aktuelle Ungleichheit und verweist auf die Gefahren autoritärer Regressionen. Auch der Einfluss von Migration und Klimawandel auf unsere Gesellschaft sowie das Spannungsverhältnis zwischen individuellem und kollektivem Eigentum kommen zur Sprache.
Stephan Lessenich betont die essentielle Rolle der Soziologie im Verständnis sozialer Strukturen und individueller Lebensbedingungen.
Er hebt hervor, dass gesellschaftliche Normen stark das individuelle Handeln beeinflussen und oft unbewusst wirken.
Lessenich kritisiert die ökonomischen Theorien, die die soziale Dimension vernachlässigen und individuelle Entscheidungen überbetonen.
Er warnt vor der wachsenden Akzeptanz diskriminierender Ideologien und der Gefahr einer gesellschaftlichen Faschisierung.
Die Rolle der Medien ist entscheidend für die öffentliche Wahrnehmung sozialer Themen und die Förderung kritischer Diskurse.
Deep dives
Stefan Lessenich: Der Ungleichheitsforscher
Stefan Lessenich beschreibt sich als Ungleichheitsforscher mit einem speziellen Interesse an globalen Ungleichheiten und deren politischer Gestaltung. Er hat Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte studiert, wobei seine ursprüngliche Berufung zur Architektur führte, bevor er sich der Sozialwissenschaft zuwandte. Seine Motivation für den Wechsel zu den Sozialwissenschaften war zum Teil das Unverständnis seiner Familie, insbesondere seines Vaters, der in der Bankenbranche arbeitete und Schwierigkeiten hatte, den Wert sozialwissenschaftlicher Disziplinen zu erkennen. Lessenich betont, dass Soziologie eine praxisnahe Disziplin ist, die wichtige Einsichten in das gesellschaftliche Zusammenleben vermittelt.
Die Bedeutung von Soziologie in der Gesellschaft
Lessenich erläutert, dass Soziologie für das Verständnis der sozialen Bedingungen von Individuen in der Gesellschaft unerlässlich ist. Er argumentiert, dass die Wahrheiten, die durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen geprägt sind, in jedem Aspekt des Lebens sichtbar werden. Darüber hinaus hebt er hervor, dass eine soziologische Perspektive helfen kann, gesellschaftliche Phänomene zu deuten und zu diskutieren, wodurch Soziologie als wertvolles Instrument im Alltag erscheint. Diese Auffassung unterstützt die Idee, dass soziale Zusammenhänge auch im individuellen Leben beschreibbar und analysierbar sind.
Individuum vs. Gesellschaft
In der Diskussion stellt Lessenich die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft heraus, indem er darauf hinweist, dass viele gesellschaftliche Normen und Erwartungen das individuelle Leben stark beeinflussen. Diese Normen sind häufig nicht bewusst, aber sie formen das Denken und Handeln der Menschen. Zudem besteht eine Fehlannahme, dass Individuen unabhängig voneinander operieren, sodass der individuelle Erfolg oft überbewertet wird. Diese Perspektive verdeutlicht, dass Zurückhaltung gegenüber der kollektiven Realität zu einer Entfremdung von den gesellschaftlichen Bedingungen führen kann.
Ökonomische Ideologien und Gesellschaft
Lessenich diskutiert die Dominanz ökonomischer Ideologien und ihre Beschränkung des gesellschaftlichen Denkens, insbesondere die Vernachlässigung gesellschaftlicher Strukturen in der wirtschaftlichen Theorie. Er kritisiert, dass viele Ökonomen die soziale Dimension in der Wirtschaft nicht ausreichend berücksichtigen und stattdessen individuelle Entscheidungen als primäre Triebkräfte von sozialen Prozessen betrachten. Diese Haltung perpetuiert die Auffassung, dass der Markt die beste Lösung für soziale Probleme bietet, was er als grobe Vereinfachung ansieht. Die Anonymität der marktlichen Interaktionen führt dazu, dass gesellschaftliche Verantwortung oft in den Hintergrund gedrängt wird.
Faschisierung der Gesellschaft
Lessenich warnt vor einer möglichen Faschisierung der Gesellschaft, die durch die derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen begünstigt wird. Er sieht eine Gefahr in der wachsenden Akzeptanz diskriminierender Ideologien und der Bereitschaft, menschenverachtende Politiken zu unterstützen. Diese Dynamik wird durch eine ungleiche Verteilung von Ressourcen und Macht verstärkt, die das soziale Gefüge destabilisiert. Ihm zufolge zeigt sich in der Gesellschaft eine besorgniserregende Tendenz, mit Faschisierung und autoritären Strukturen zu sympathisieren, was nicht unterschätzt werden sollte.
Die Rolle der Öffentlichkeit und der Medien
In der Reflexion über die Rolle der Medien erklärt Lessenich, dass die Öffentlichkeitswahrnehmung einer der wichtigsten Faktoren ist, die das soziale und politische Klima beeinflussen. Die mediale Berichterstattung formt öffentliche Meinungen und Diskurse, wodurch sie entscheidend zur Wahrnehmung und Bewertung von sozialen Themen beiträgt. Lessenich betont, dass kritische und informierte Berichterstattung notwendig ist, um der Verbreitung reaktionärer Ideologien entgegenzuwirken. Eine bewusste Mediennutzung könnte dazu beitragen, die gesellschaftliche Teilhabe und das Verständnis für soziale Zusammenhänge zu erhöhen.
Demokratie und soziale Bewegung
Lessenich ermutigt zur aktiven Teilnahme an sozialen Bewegungen als einen Weg, um die Demokratie zu stärken und an gesellschaftlichen Veränderungen mitzuwirken. Er sieht das Potenzial, dass solche Bewegungen eine Widerstandsform gegen autoritäre Tendenzen in der Gesellschaft darstellen können. Diese Kämpfe sind laut Lessenich notwendig, um grundlegende soziale und wirtschaftliche Veränderungen herbeizuführen, die allen Menschen zugutekommen. Öffentliches Engagement und soziale Mobilisierung können entscheidend für eine gerechtere Verteilung von Ressourcen sein.
Bildung und gesellschaftliche Chancen
Der Gesprächspartner hebt die Rolle von Bildung hervor, die als Schlüssel zu sozialen Chancen gilt. Lessenich beleuchtet die aktuelle Debatte über Bildungsgerechtigkeit und den Zugang zu Bildungsressourcen, die oft ungleich verteilt sind. Diese Ungleichheit führt zu unterschiedlichen Lebensbedingungen und Chancen innerhalb der Gesellschaft. Er plädiert dafür, Bildung als eine universelle Ressource zu betrachten, die für alle zugänglich sein sollte, um Chancengleichheit zu fördern.
Zukunftsperspektiven und Verantwortung
Abschließend spricht Lessenich die Verantwortung der gegenwärtigen Generationen an, die drängenden sozialen und ökologischen Probleme zu adressieren. Er sieht Möglichkeiten für positive Veränderungen, doch hierfür bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Anstrengung. Die zukünftigen Generationen sind auf das Handeln der derzeit Lebenden angewiesen, um Bedingungen zu schaffen, die für alle lebenswert sind. Seine Haltung ist von der Überzeugung geprägt, dass kollektiv an Lösungen gearbeitet werden muss, um eine nachhaltige und gerechte Zukunft zu gewährleisten.
Zu Gast im Studio: Soziologe Stephan Lessenich. Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und ist seit 2021 Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
Ein Gespräch über Stephans Soziologie, wissenschaftliches Arbeiten, Leistungsgesellschaft und den Fußballkapitalismus, seine Eltern, Kindheit und das Leben in Spanien, die deutsche Studentenbewegung und die Lage heute an den Universitäten, Kriminalisierung von progressiven Protestbewegungen, die laut Hannah Arendt "große Lüge" der deutschen Gesellschaft, der Rechtsruck der Parteien, Migration, die "politische Mitte" in Deutschland, unser Wirtschaftssystem und die extreme Ungleichheit im Land, die Macht der (wenigen) Reichen, die Eigentumsfrage und Enteignungen, den Begriff der "Normalität" im Politischen, Antikapitalismus und die Klimakatastrophe, die Parallelen des Aufstiegs des Faschismus damals und heute uvm. + eure Fragen via Kira