Elternsprechstunde mit Paul Auster
Manchmal kann die Wirklichkeit ganz schön unheimlich sein. Oder um es mit Daniel Quinn, dem Krimiautor und Helden aus Paul Austers erstem Roman „Stadt aus Glas“ zu sagen: „Nichts ist wirklich außer dem Zufall“. Ein Zufall – oder vielleicht doch die Vorhersehung – hat am Ende eines der herausforderndsten Comic-Projekte auf den Weg gebracht.
Und es beginnt damit, dass der Cartoonist Paul Karasik in den 1980er Jahren an einer Schule in Brooklyn Kunst unterrichtet. Einer seiner Studenten ist der Sohn von Schriftsteller Paul Auster:
Er habe gewusst, dass Auster Schriftsteller war und daraufhin die New York Trilogie gelesen – als Vorbereitung für die Elternsprechstunde, um Auster ein wenig zu schmeicheln. Nach dem Motto: „oh, ich habe ihr Buch gelesen, Ihr Sohn ist großartig. So was in der Art.“
Aber am Ende hätten sie überhaupt nicht über den Roman gesprochen, erzählt Paul Karasik, der sich zu diesem Zeitpunkt allerdings schon ein paar erste Skizzen zum Roman notiert hatte.
Von wegen Zufall - Ein chancenloser Paul Karasik
10 Jahre sollten diese Notizen in der Schublade liegen, bis sich plötzlich ein anderer berühmter Comic-Autor und befreundeter Kollege, nämlich Art Spiegelman, bei Paul Karasik meldet:
„Wir unterhielten uns, und er sagte: Ich helfe einem New Yorker Verlag, zeitgenössische Noir-Literatur in Comics zu adaptieren. Und das erste Buch, das wir ausgewählt haben, ist sehr schwierig. Mehrere Künstler haben es versucht, aber es sieht nicht so aus, als ob es machbar wäre. Aber es hat gewisse formale Aspekte und ich weiß, dass Dich so etwas interessiert. Und ich sagte: Okay, was ist das für ein Buch?
Und er sagte: City of Glass von Paul Auster. Und ich sagte: Oh, ich habe schon vor zehn Jahren damit angefangen. So ist es passiert. Es ist ein Projekt, bei dem ich keine Wahl hatte. Der Zufall, die Umstände haben mich ausgewählt. Genau wie bei einer Figur in Paul Austers Roman.“
Und mit einem ebenso schicksalshaften Anruf beginnt auch die Graphic Novel „Stadt aus Glas“. Mitten in der Nacht wird der Krimi-Autor Daniel Quinn aus dem Bett geklingelt. Der Anrufer hält Quinn fälschlicherweise für den Privatdetektiv Paul Auster und bittet ihn um Hilfe. Quinn, der nach dem Tod von Frau und Kind selbst in einer schweren Existenzkrise steckt, lässt sich darauf ein und trifft am nächsten Tag auf einen offensichtlich verwirrten jungen Mann, der Opfer eines brutalen Experiments wurde.
Sein eigener Vater, ein krankhaft besessener Sprachprofessor, hatte den Sohn als kleines Kind jahrelang in einem dunklen Raum weggeschlossen, um Forschungen zur Ursprache der Menschen anstellen zu können.
Großartige, zugleich verstörende Bilder
Für dieses Kasper-Hauser-Motiv, den Verlust der Sprache, der eigenen Identität, haben die beiden Comic-Illustratoren Paul Karasik und David Mazzucchelli ebenso grandiose wie zugleich beklemmende Bilder gefunden. Im Sessel sitzend, erzählt der junge Mann von seinem Martyrium als Kind.
Dabei geht der Hinweisstrich der Sprechblase auf Kamerafahrt: zunächst durch den Mund, dann durch den Schlund, um immer tiefer durch einen Strudel im Nichts zu versinken, neu aufzutauchen als Teil archaisch biblischer Erzählungen. Die babylonische Sprachverwirrung findet ihre Entsprechung in New Yorker Häuserfassaden, die sich immer wieder in sehr dynamische Labyrinthe verwandeln oder ganz auflösen.
Paul Auster habe damals eine klare Ansage gemacht, sagt Comic-Künstler Paul Karasik. Bei den Zeichnungen hatten die Illustratoren freie Hand, den Text, die Wörter, durften sie auf keinen Fall ändern.
„Das war eine sehr nützliche Einschränkung, denn sie brachte mich zum Nachdenken: Okay, ich muss die Worte wie ein Dichter sehr sorgfältig wählen und dann überlegen, was ich zeigen kann, anstatt es auszudrücken. Ich habe das ganze Buch fotokopiert. Dann habe ich zwei Buntstifte genommen – blau und rosa - und mit der einen Farbe habe ich die Wörter unterstrichen, die ich verwenden könnte.
Und dann habe ich mit einer anderen Farbe das unterstrichen, wofür ich keine Worte brauche, was aber Bilder ausdrücken können.“
Und diese Bilder, die übrigens sämtlich in schwarz-weiß gehalten sind, variieren beständig in Größe und Form, in Stil und Anmutung. Details werden herangezoomt, der Strich wechselt von geschwungenen, weichen Linien zu kantigen, harten Strichen, die zeitweise zu Piktogrammen erstarren. Kritzelmännchen tauchen wie Geister auf, ganze Flächen versinken im düsteren Schwarz.
Die innere Verwüstung des Menschen, die seelische Zerrissenheit der Großstadtmenschen finden hier ihren kongenialen Ausdruck.
Mal Bildergeschichte, mal Comic auf anspruchsvollem Niveau
Besonders dramatisch verändert sich die Ästhetik im zweiten Band der New York Trilogie „Schlagschatten“, den Paul Karasik diesmal mit Comic-Autor Lorenzo Mattotti umgesetzt hat. Das Layout erinnert an eine Bildergeschichte/ein Bilderbuch: eine große Zeichnung pro Seite ohne Sprechblasen, darunter sehr viel erzählender Text.
Wieder eine Detektivgeschichte, in der ein Mann namens Blue den Auftrag von White bekommt, Black zu beobachten. Ein recht ereignisloser Job, weil Black die ganze Zeit über unbeweglich an seinem Schreibtisch sitzt und liest. Mehr als ein Jahr lang geht das so, bis Blue der Verdacht beschleicht, das sei alles nur eine undurchsichtige Inszenierung seines Auftraggebers.
Die Illustrationen in dieser Geschichte gleichen erstarrten Momentaufnahmen: großflächig schraffierte Zeichnungen in grau bis dunkelschwarz, auf denen sich Black und Blue teilweise wie überdimensionierte Puppen abheben. Doch dann plötzlich wechselt das Layout: das eine große Bild zerfällt in eine klassische Comic-Streifen-Erzählung.
Die Perspektive verändert sich, es kommt mehr Dynamik ins Spiel. Der Formatwechsel reagiert auf ein wesentliches Motiv des Romans – auf die Natur des Lesens, meint Comic-Künstler Paul Karasik:
„Wir haben das Format geändert. Das Gehirn des Lesers soll ein wenig jonglieren. Die Idee ist: Die Veränderungen im Layout zwingen den Leser, die Art und Weise, wie er ein Buch liest - vielleicht bewusst oder eher unbewusst - neu zu bewerten –. So wie die Figur im Buch lernen muss, wie man einen Text liest, wie man die Bedeutung vom Inhalt erschließt.“
Der Wechsel zwischen verschiedenen Formaten und Größen, zwischen Bildsprache und unterschiedlicher Ästhetik erreicht mit dem dritten Band „Hinter verschlossenen Türen“, den Paul Karasik allein verantwortet, noch einmal ein ganz neues Level: faszinierend, seltsam, ausdrucksstark und anspruchsvoll.
Sehnsucht nach Sicherheit im Leben
Und auch wenn seit der Veröffentlichung der Comic-Adaption des ersten Bandes inzwischen 30 Jahre vergangen sind, sind die Fragen nach Identität, Orientierung und nach dem, was Menschsein ausmacht, heute vielleicht aktueller denn je.
Die Comic-Adaption macht die rätselhaften Verstrickungen, die Paul Auster in seiner New York Trilogie knüpft, auf solche eindrückliche Art sichtbar, dass schmerzhaft klar wird: die Sehnsucht nach Sicherheit im Leben ist vor allem eine trügerische.