
SWR Kultur lesenswert - Literatur Anarchie hat viele Regeln: Sibylle Bergs „PNR: La Bella Vita“
Oct 8, 2025
06:59
Italien hat eine neue Hymne, gewählt vom Volk, via App. So läuft es nun in der neuen Welt: Die wichtigen Entscheidungen, etwa die Verteilung von Wohnraum, die fällen die Menschen gemeinschaftlich oder per Los, alles verfügbar in der RCE-App.
Ein post-revolutionäres Europa beschreibt Sibylle Berg in „PNR: La Bella Vita“, dem letzten Teil ihrer Trilogie. In den Vorgängerromanen „GRM“ (etwa 700 Seiten) und „RCE“ (um die 800 Seiten) entwarf Berg – Achtung, Kurzfassung – eine kaputte, spätkapitalistische und düstere Technokratie, die nur durch Neustart gerettet werden kann.
Die Welt lag also im Argen – zumindest für alle, die nicht über millionenschweres Vermögen verfügen. In „RCE“ arbeitet eine Gruppe Hacker im Verborgenen gegen das System, am Master-Code. Die Attacke gelingt.
Nur ein bisschen Spaß an schlechter Laune
Und nun also „PNR: La Bella Vita“: Der letzte Teil der Reihe widmet sich dem Leben nach der Remote Code Execution, nach dem großen Hack. Ein beinahe schlanker Roman mit knapp 400 Seiten. Weil Sibylle Berg mehr Spaß am Schreiben von Weltuntergangsfantasien hat? „Nee, ich lieb den Untergang gar nicht. Ich hatte wahnsinnige Freude daran, einmal zu schreiben, also das zu beschreiben, wo die meisten kapitalismuskritischen Bücher enden. Also das stimmt einfach nicht, dass ich Spaß an schlechter Laune habe. Na ja, ein bisschen schon.“Eine neue Verfassung
Und was braucht eine neue Welt? Neue Regeln. Die stellen die Menschen, klar, selbst auf.Die Verfassung, die wir gerade sammeln, wird irgendwann fertig sein. Im Moment filtert eine von unseren Nerds programmierte KI die sechs Millionen Verfassungstext-Vorschläge von BürgerInnen.Quelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita
Anarchie ist direkte Demokratie
Das Europa, das Berg in „PNR“ entwirft, ist befreit vom Kapitalismus, von faschistischen Regierungen, von Parteien, von Regierungen überhaupt. Haupthandlungsort des Romans ist Italien. Die Gesellschaft dort ist selbstorganisiert, frei, eben anarchisch. „Anarchism is democracy without the government. Most people love democracy; most people don’t like the government very much, “das sagte Kulturanthropologe David Graeber einmal in einem Interview. Anarchie, das sei eine direkte Demokratie, eine Demokratie ohne Regierung, so definierte er dieses Gesellschaftsmodell. Berg formuliert die Anarchie aus, hat die alte Ordnung aufgelöst. Dafür recherchierte die Dramatikerin, wie auch schon bei ihren Vorgängerromanen, intensiv: „Die neue Gesellschaftsordnung, die ich mir ausgedacht habe, basiert auf sehr, sehr vielen bereits vorhandenen wissenschaftlichen Denkexperimenten. Also von David Graeber über wirklich Wissenschaftlerinnen, die neue Ernährungsformen, neue Formen des Zusammenlebens der Ökologie erforscht haben. Ich habe wieder ganz, ganz viele Sachen gelernt und sehr wenig Fakten verwendet. Also das ist alles faktenbasiert, das kann man auch dann nachlesen, wenn man richtig Spaß dran hat.“ 93 Vorschläge für das neue Zusammenleben formuliert Berg aus ihren Recherchen, die strukturieren den Roman, etwa:Es gibt keine NormalitätundQuelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita
Keine Herrschaft, keine Eigentumstitel, nur geteilte VerantwortungoderQuelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita
Und nun gelten sie wieder: Die MenschenrechteQuelle: Sibylle Berg – PNR: La Bella Vita
