#283 "Lob der Identitätspolitik": Warum Demokratie den Kampf um Identitäten braucht
Nov 20, 2024
auto_awesome
Karsten Schubert, Professor für Politische Theorie an der Humboldt-Universität, befürwortet Identitätspolitik als Schlüssel zur Verbesserung der Demokratie. Er argumentiert, dass dieser Ansatz essenzielle Perspektiven aus Diskriminierungserfahrungen einbringt und gegen gesellschaftliche Spaltung arbeitet. Schubert beleuchtet die Verbindung zwischen Identitätspolitik und Klassenpolitik sowie deren Entwicklung seit den 1970ern. Im Dialog thematisiert er die Herausforderungen von Cancel Culture und die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung zur Wahrung demokratischer Werte.
Identitätspolitik ist entscheidend für die Sichtbarmachung von Diskriminierungserfahrungen und somit für die Stärkung der Demokratie.
Die Schaffung neuer gesellschaftlicher Normen sollte als Weiterentwicklung der Freiheit betrachtet werden, um diskriminierende Praktiken abzubauen.
Eine kritische Reflexion über Identitätspolitik ist notwendig, um regressiven Tendenzen entgegenzuwirken und inklusiv zu bleiben.
Deep dives
Einschränkung der Meinungsfreiheit
Das Verständnis, dass Meinungsfreiheit als das Recht des Stärkeren interpretiert wird, ist problematisch. Oft wird behauptet, dass Widerspruch und Kritik an diskriminierenden Praktiken als Einschränkung der eigenen Meinungsfreiheit angesehen werden. Diese Sichtweise verschleiert jedoch die moralischen Implikationen von diskriminierendem Verhalten und ignoriert die dem rechtmäßigen Widerspruch zugrundeliegenden Werte der Gleichheit und Freiheit. In diesem Sinne wird die Debatte über Cancel Culture und Political Correctness häufig als ein Versuch verwendet, den Bestand ungerechter Normen zu verteidigen.
Identitätspolitik und Demokratie
Die Diskussion um Identitätspolitik dreht sich oft um die Wahrnehmung, dass sie der Demokratie schadet, indem sie zu einer Spaltung in der Gesellschaft führt. Dies ist eine irreführende Argumentation, denn Identitätspolitik spielt eine wesentliche Rolle bei der Sichtbarmachung von Diskriminierungserfahrungen. Carsten Schubert argumentiert, dass ein Verständnis von Demokratie, das auf der Erkennung und Bekämpfung von Diskriminierung basiert, notwendig ist, um diese zu verbessern. Identitätspolitik ist daher nicht nur legitim, sondern essenziell für eine funktionierende demokratische Gesellschaft.
Freiheit und Normensetzung
Ein wichtiges Argument in der Diskussion ist, dass neue gesellschaftliche Normen nicht als Einschränkung, sondern als Weiterentwicklung der Freiheit betrachtet werden sollten. Die Schaffung solcher Normen trägt dazu bei, diskriminierende Praktiken in der Gesellschaft zu hinterfragen und abzuschaffen. Während es Widerstand gegen diese neuen Normen gibt, verdeutlicht die Diskussion, dass die Rahmenbedingungen der Meinungsfreiheit immer von den bestehenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen geprägt sind. Der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft führt über den Dialog und die Implementierung neuer Normen, die Diskriminierung ablehnen.
Herausforderungen der Identitätspolitik
Trotz der Bedeutung der Identitätspolitik gibt es auch berechtigte Kritikpunkte bezüglich ihrer Anwendung und Umsetzung. Es können Übertreibungen auftreten, bei denen die spezifischen Identitätsansprüche vor die allgemeinen Prinzipien von Gleichheit und Freiheit gestellt werden. Schubert erörtert, dass solche regressiven Tendenzen entstehen können, wenn eine essenzialistische Sichtweise auf Identitäten besteht, die Diskriminierung von anderen Gruppen nicht genügend berücksichtigt. Daher ist es wichtig, Identitätspolitik immer wieder selbstkritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln, um integrativ zu bleiben.
Der Trend zur Moralisierung
Die Moralisierung in der Politik wird oft als Bedrohung für demokratische Prozesse wahrgenommen. Schubert argumentiert jedoch, dass Moralisierung und normatives Handeln für die politische Diskussion unverzichtbar sind, um veraltete und ungerechte Normen zu verändern. Anstatt sich gegen die Moralisierung zu wehren, sollte die Politik darauf abzielen, neue, gerechte Normen zu etablieren, die die Rechte aller berücksichtigen. Die Kunst besteht darin, eine Balance zu finden und darüber hinaus sicherzustellen, dass die neuen Normen nicht die alten unterdrücken.
Universelle Werte vs. Partikularismus
Der Spannungsbogen zwischen universellen Werten wie Freiheit und Gleichheit und dem speziellen Fokus der Identitätspolitik auf marginalisierte Gruppen wird häufig als Konflikt dargestellt. Schubert schlägt jedoch vor, dass universelle Werte nur durch das Verständnis von spezifischen Diskriminierungserfahrungen konkretisiert werden können. Identitätspolitik kann daher als notwendiger Teil eines größeren Engagements für soziale Gerechtigkeit und Demokratie betrachtet werden. Es gilt, beide Sichtweisen in einen kontinuierlichen Dialog zu integrieren, um die Gesellschaft als Ganzes voranzubringen.
Karsten Schubert über das Bashing linker Identitätspolitik und Argumente dagegen
Identitätspolitik gefährde die Demokratie, so heißt es immer wieder in der öffentlichen Debatte. Nicht nur von Rechten und Liberalen, auch von Linken gibt es Kritik an einem Politikstil, der sich gegen Diskriminierung richtet, dabei aber angeblich zu Stammesdenken, Cancel Culture und gesellschaftlicher Spaltung führt. Im Gegenteil, sagt Karsten Schubert. Identitätspolitik ist für die Verbesserung unserer Demokratien unverzichtbar. In seinem Buch "Lob der Identitätspolitik" verteidigt der Philosoph den Bezug auf Identitäten als Notwendigkeit, um Diskriminierungsverhältnisse sichtbar zu machen und das universalistische Versprechen unserer Gesellschaften zu konkretisieren. Ein Gespräch über die Demokratisierung der Demokratie, identitätspolitische Sackgassen und eine verbindende Klassenpolitik.
Mach Dissens möglich! Werde jetzt Fördermitglied auf Steady und unterstütze damit die Arbeit von Dissens-Host Lukas sowie Inken und Valentin von der "Was Tun?"-Crew.
+++
Karsten Schubert lehrt Politische Theorie und Philosophie Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem radikale Demokratietheorie, die Philosophie Michel Foucaults und queerpolitische Theorien. Gerade ist von ihm das Buch "Lob der Identitätspolitik" erschienen.
Ich wurde nach Veröffentlichung des Podcasts von einer*m Zuhörenden noch darauf hingewiesen, dass auch die Autorin Alice Hasters in ihrem Buch "Identiätskrise" Argumente gegen die allgemeine Verächtlichmachung von Identitätspolitik liefert. Deshalb verlinke ich Euch das hier nachträglich.
+++
Dissens verlost ein Exemplar von Karsten Schuberts "Lob der Identitätspolitik" unter allen Fördermitgliedern.