#761 - Historiker Jens-Christian Wagner (Leiter der Gedenkstätte KZ Buchenwald)
Apr 22, 2025
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Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Geschichtsprofessor, teilt faszinierende Einblicke in die Herausforderungen der Geschichtsdarstellung. Er spricht über den Umgang mit der AfD und deren geschichtsrevisionistische Ansichten. Thema sind auch die Erinnerungen von Überlebenden des Nationalsozialismus und die Bedeutung des Gedenkens für die Gesellschaft. Wagner thematisiert zudem seine Kindheit in Chile unter Pinochet und die parallelen oder kontrastierenden Propaganda der Diktaturen.
Die Gedenkstätte Buchenwald spielt eine zentrale Rolle in der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen und der Erinnerungskultur.
Jens-Christian Wagner betont die Notwendigkeit, Gedenkstätten als Orte kritischer Auseinandersetzung und Bildungsstätten zu verstehen.
Die politische Landschaft und rechtsextreme Angriffe auf Gedenkstätten stellen eine große Herausforderung für die Erinnerungskultur dar.
Forschungslücken, insbesondere hinsichtlich der sowjetischen Häftlinge, verdeutlichen die Notwendigkeit fortlaufender historischer Auseinandersetzung.
Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus erfordern eine differenzierte Diskussion und eine klare Haltung in der Gedenkstättenarbeit.
Deep dives
Die Rolle der Gedenkstätten
Gedenkstätten spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und der Erinnerung an die Opfer. Sie dienen nicht nur als Erinnerungsorte, sondern auch als Bildungsstätten, die historische Aufklärung und gesellschaftliche Reflexion fördern. Der Gast betont die Wichtigkeit der Verbindung zwischen universitärer Lehre und praktischer Gedenkstättenarbeit, um den Umgang mit der Vergangenheit lebendig und relevant zu halten. Dabei ist es entscheidend, dass Gedenkstätten als Orte der kritischen Auseinandersetzung verstanden werden, die auch neue Perspektiven und aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen berücksichtigen.
Loyalität zur Gedenkstätte
Der Gast spricht von seiner persönlichen Loyalität gegenüber der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, die ihn dazu bewogen hat, nach Thüringen zurückzukehren. Diese Loyalität entstand während seiner ersten Anstellung bei der Stiftung, als er die Gedenkstätte in einer Krisensituation übernahm. Er erkennt die politischen Herausforderungen an, die sich aus der aktuellen gesellschaftlichen Landschaft ergeben, insbesondere in Bezug auf die AfD und deren Einfluss. Diese Loyalität erstreckt sich über die Erinnerungskultur hinaus und umfasst auch die Verantwortung, die Errungenschaften der Demokratie zu bewahren und zu verteidigen.
Herausforderungen des Gedenkens
Die Gedenkstätte Buchenwald sieht sich zunehmend Angriffen und Bedrohungen durch rechtsextreme Gruppen gegenüber, die versuchen, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren. Diese Angriffe manifestieren sich in Form von Schmierereien und Drohungen, was die Sicherheit und den Betrieb der Gedenkstätte stark beeinträchtigt. Der Gast betont die Notwendigkeit, sich aktiv gegen diese Angriffe zu wehren, um die Gedenkarbeit nicht nur zu schützen, sondern auch eine klare Haltung gegen den Rechtsextremismus zu zeigen. Solidarität aus der Zivilgesellschaft wird als unverzichtbare Unterstützung in diesem Kampf hervorgehoben.
Die Bedeutung des historischen Lernens
Das Gespräch thematisiert die Bedeutung des historischen Lernens, insbesondere im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Der Gast verdeutlicht, dass noch erhebliche Forschungslücken bestehen, obwohl die nationalsozialistische Geschichte intensiv erforscht wurde. Insbesondere die Erfahrungen sowjetischer Häftlinge im KZ Buchenwald sind nach wie vor unzureichend dokumentiert und verdienen mehr Aufmerksamkeit. Dies zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fortgesetzt werden muss, um das Verständnis für die komplexen Zusammenhänge der Geschichte zu vertiefen.
Politik und Gedenkstättenarbeit
Die Gedenkstättenarbeit wird als politisch verstanden und unterstreicht die Relevanz der Erinnerungsarbeit in einer Zeit, in der demokratische Werte bedroht sind. Der Gast betont, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen einen Einfluss auf die gegenwärtige demokratische Selbstverständigung hat. Es ist wichtig, den Einfluss extremistischer Parteien wie der AfD zu erkennen und aktiv dagegen zu arbeiten, um die demokratischen Prinzipien zu verteidigen. Die Gedenkstättenarbeit wird somit zu einem Instrument der politischen Bildung und der Förderung von Toleranz und Demokratie.
Umgang mit geschichtsrevisionistischen Narrativen
Im Gespräch wird der Umgang mit geschichtsrevisionistischen Narrativen thematisiert, insbesondere den Versuchen, den Nationalsozialismus umzudeuten. Der Gast erklärt, dass solche Tendenzen seit Ende des Krieges immer wieder auftreten und es wichtig ist, dem entgegenzuwirken. Die Gedenkstätte nimmt eine aktive Rolle ein, um die korrekte Darstellung der Geschichte zu gewährleisten und das Bewusstsein für die Verbrechen der NS-Zeit zu schärfen. Es ist entscheidend, dass diese Revisionsversuche nicht legitimiert werden, um die Erinnerung an die Opfer zu wahren und den historischen Kontext richtig zu verstehen.
Antisemitismus und geschichtsbezogene Debatten
Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus spielt eine zentrale Rolle in der Gedenkstättenarbeit und im politischen Diskurs. Der Gast hebt hervor, dass es wichtig ist, zwischen Antisemitismus und Antizionismus zu differenzieren, da nicht jede Kritik an Israel antisemitisch ist. Gleichzeitig warnt er vor der Verwendung des Antisemitismusvorwurfs als politisches Instrument, um gegen legitime Debatten vorzugehen. Eine differenzierte und sachliche Diskussion ist unerlässlich, um den verschiedenen Facetten des Antisemitismus gerecht zu werden.
Grenzen des Gedenkens
Der Gast betont die Grenzen des Gedenkens an einem historischen Ort wie Buchenwald, insbesondere wenn es um die Verwendung von Begriffen wie Genozid geht. Obwohl es wichtig ist, auf aktuelle Konflikte aufmerksam zu machen, muss dies in einem angemessenen Kontext geschehen, um die spezifischen nationalsozialistischen Verbrechen nicht zu relativieren. Der Gedenkrahmen sollte eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte fördern, ohne die einzigartigen Verbrechen des Holocaust und deren Tragweite zu verharmlosen. Dies erfordert eine sensible und verantwortungsvolle Herangehensweise, die sich sowohl an der Geschichte als auch an den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen orientiert.
Antifaschismus und die heutige Gesellschaft
Die Diskussion über die heutige Gesellschaft und den Einfluss von rechtsextremem Gedankengut wird als wichtig erachtet. Der Gast weist darauf hin, dass Antifaschismus in der gegenwärtigen politischen Landschaft entscheidend ist, um den Aufstieg rechtsextremer Parteien zu bekämpfen. Ein aktiver Einsatz gegen rassistische und diskriminierende Ideologien ist notwendig, um eine inklusive und gerechte Gesellschaft zu fördern. Das politische Engagement und die Erinnerung an die Vergangenheit sind damit eng miteinander verbunden und sollten in der Gegenwart nicht vernachlässigt werden.
Zukunft der Gedenkstättenarbeit
Die Gedenkstättenarbeit steht vor großen Herausforderungen, insbesondere durch die zunehmende Gefahr des Rechtsradikalismus und die geschichtsrevisionistischen Bestrebungen. Der Gast sieht die Notwendigkeit, die Gedenkstättenarbeit weiterzuentwickeln und an aktuelle gesellschaftliche Fragen anzupassen. Bildung und Aufklärung müssen weiterhin im Mittelpunkt stehen, um das Bewusstsein für die Verbrechen des Nationalsozialismus lebendig zu halten. Nur so kann verhindert werden, dass die Lehren aus der Geschichte verloren gehen und erneut ähnliche Verhältnisse entstehen.
Zu Gast im Studio: Historiker Jens-Christian Wagner. Von 2014 bis 2020 leitete er die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Seither ist er Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar für die ehemaligen KZ Buchenwald und KZ Mittelbau-Dora. Wagners Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere der Zwangsarbeit und der Konzentrationslager, sowie die Geschichtspolitik nach 1945. Wagner ist Autor, Mitautor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit und der -Konzentrationslager sowie zur Erinnerungskultur nach 1945.
Ein Gespräch über Jens' Weg zur Leitung der Gedenkstätte und sein Rollenverständnis, den Begriff "Erinnerung" vs. kritische Auseinandersetzung, Geschichtsrevisionismus, die Rolle von Überlebenden, Opfern und Täter bei der historischen Aufarbeitung, sein Umgang mit Bedrohungen, Quellenarbeit, Jens' Biografie und Eltern, seine Kindheit in Chile und das Leben in der Militärdiktatur von Pinochet, Colonia Dignidad, Scham für das Bezeugen von Zwangsarbeit, die Gefahr des Faschismus heute, den Umgang mit der AfD, ein Parteiverbot, Empörung über Gauland und Höcke vor ein paar Jahren vs. fehlende Empörung über Weidels Hitler-Aussagen und Elon Musks Hitlergruß, die AfD-Solidarität mit Israel, den Missbrauch des Kampfs gegen Antisemitismus, die Ausladung von Omri Boehm zur 80-jährigen Gedenkfeier in Buchenwald auf Druck des israelischen Botschafters Prosor sowie den Umgang mit dem 7. Oktober und den laufenden Krieg in Gaza uvm. + eure Fragen via Hans