

Der schmale Grat - über Takt und Taktgefühl
Merkels taktvoller Umgang mit Putin
- Angela Merkel reagierte taktvoll, als Putin 2007 einen schwarzen Labrador kotrolliert um ihre Beine lenkte.
- Sie bewahrte Ruhe und vermied einen Eklat trotz Unwohlsein und Angst vor Hunden.
Takt als sensible Intuition
- Takt ist ein Gespür für den richtigen Moment einer Geste oder das bewusste Unterlassen dieser.
- Es ist eine sensible Intuition, die aktive und kreative Gesten einschließt.
Fehlender Takt fällt mehr auf
- Takt fehlt oft im Alltag und wird meist durch seine Abwesenheit bemerkt.
- Ein Mangel an Takt führt zu Peinlichkeiten und verliererhaften Situationen für Betroffene.



Im falschen Moment grinsen, im richtigen Moment schweigen - zwischen Taktlosigkeit und Taktgefühl liegt oft nur eine winzige, aber entscheidende Geste. Kippt die Stimmung oder hält die zwischenmenschliche Wetterlage? Über eine Tugend, die keinen Regeln gehorcht und doch so wichtig ist für ein gutes Miteinander. Autorin: Constanze Álvarez (BR 2025)
Credits
Autorin dieser Folge: Constanze Alvarez
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Thomas Birnstiel, Friedrich Schloffer
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
- Martin Scherer, Schriftsteller, Philosoph
- Niklas Barth, Soziologe an der LMU München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Als Angela Merkel 2007 zu Gast bei Wladimir Putin im Kreml war, wartete der russische Präsident ihr mit einer unangenehmen Überraschung auf: Er ließ einen riesigen schwarzen Labrador um ihre Beine streifen, wohlwissend, dass sich die deutsche Kanzlerin vor Hunden fürchtet. Auf diese Taktlosigkeit, die man auch als Boshaftigkeit bezeichnen könnte, reagiert Angela Merkel mit äußerster Zurückhaltung. Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie sich unwohl fühlt. Allerdings verzichtet die Kanzlerin darauf, sich zu Putins Affront zu äußern.
SPRECHER:
Merkel verlässt weder den Saal, noch beschwert sie sich lauthals, sie verkneift sich sogar eine kritische Bemerkung. Damit vermeidet sie einen Eklat, möglicherweise einen Gesichtsverlust. Vor allem sorgt sie mit ihren Verhalten dafür, dass das Gespräch weiter geht, dass es nicht stockt oder abrupt aufhört. Man könnte auch sagen: Ihr Gespür für die richtige Geste im richtigen Moment rettete sie aus der Situation.
SPRECHERIN:
Die richtige Geste im richtigen Moment, damit nähern wir uns der Definition von Takt:
OT 1 Takt Martin Scherer
Takt ist eine Form des Feingefühls. Takt ist ein Gespür. Takt ist eine Intuition. Takt ist ein bewusstes Momentum, in dem eine Geste zum richtigen Zeitpunkt fällt, ausgeübt wird. Genauso ist aber Takt das Vermeiden und Unterlassen einer Geste. Es kann taktvoll zu sein, auf etwas nicht zu reagieren, nichts zu sagen in einem Moment, beispielsweise auch kein Trost zu spenden, der einfach und billig wirken würde, wie umgekehrt es sozusagen auch aktive, kreative Gesten geben kann, die das Gegenüber überraschen, verblüffen und für einen Moment entlasten.
SPRECHERIN:
Sagt der Schriftsteller und Philosoph Martin Scherer. In seinem Buch „Takt – Über Nähe und Distanz im menschlichen Umgang“ hat er sich eingehend mit dieser Tugend beschäftigt. Der Begriff Takt mag altmodisch klingen. Und doch ist er nach wie vor wichtig, nicht nur, um in der hohen Politik zu bestehen, sondern auch im ganz normalen Alltag.
SPRECHER:
Takt hat viele Facetten: Er ist dazu da, Peinlichkeiten zu vermeiden, oder, wenn diese eingetreten sind, der Person über den Faux Pas, also den Fehltritt, hinwegzuhelfen. Interessanterweise sprechen wir meistens über Takt, wenn wir ihn vermissen, wenn er in einer bestimmten Situation fehlt. Spanier sprechen dann immer von einer „falta de tacto“. Wobei das Wort „tacto“ eine doppelte Bedeutung hat: es steht sowohl für Taktgefühl und als auch für den „Tastsinn“. Auf Deutsch wiederum verfügt ein taktloser Mensch über keinerlei „Fingerspitzengefühl“.
OT 2 Takt Martin Scherer
Was Sie sagen, ist insofern auch mein Eindruck, als wir, glaube ich, leichter sagen können, was Taktlosigkeit ist, als positiv definieren, was Takt bedeutet. Also wir spüren eine Taktlosigkeit, wir nehmen sie wahr, sind verstört, vielleicht auch empört, ohne immer genau zu wissen, warum. Aber wir sehen: Es ist etwas komplett schiefgelaufen, und eine oder mehrere Personen gehen ein bisschen als Verlierer aus der Situation.
SPRECHER:
Im Falle von Putin und dem Hund hilft sich Angela Merkel selber aus der Bredouille. Sie entgeht der Peinlichkeits-Falle dadurch, dass sie Contenance behält. Sie ummantelt ihre wahren Gefühle und macht gute Miene zu bösem Spiel.
SPRECHERIN:
Der Soziologe Niklas Barth bezeichnet diese Art des taktvollen Verhaltens als eine Form der „unaufrichtigen Aufrichtigkeit“. Das klingt kompliziert, bedeutet aber nichts anderes, als dass wir in bestimmten Situationen einfach nicht die Wahrheit sagen, um unbeschadet einen Konflikt durchzustehen. Oder, um jemand anderes zu schützen. Häufig wird in der zwischenmenschlichen Kommunikation ein solch „unaufrichtig aufrichtiges“ Verhalten geradezu erwartet, oft läuft es sogar unbewusst ab.
SPRECHER:
In seinen Seminaren an der Ludwig-Maximilians-Universität versucht Niklas Barth, diese „Kippfigur zwischen Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit“ seinen Studierenden mithilfe eines Denkexperiments zu vermitteln:
OT 3 Takt Niklas Barth
Das hat der Soziologe Helmut Plessner einmal vorgeschlagen und das ist eigentlich ganz einfach, dieses Gedankenexperiment. Die Aufgabenstellung, (..) lautet: „Stellen Sie sich mal eine Welt vor, in der sie in jeder Interaktion exakt das sagen müssten, was sie sich vermeintlich denken.“ Da kann man jetzt sehr schnell Situationen durchspielen, die zu Peinlichkeiten, zu Konflikten, zu Gewalt womöglich führen. Und das Gedankenexperiment macht darauf aufmerksam, auf welche Voraussetzungen soziale Ordnung eigentlich aufbaut, auf welchen Voraussetzungen sie aufruht (…) Auf der Ebene von einfachen Interaktionen müssen bestimmte Kulturtechniken erlernt und habitualisiert werden, mit denen wir eben nicht alles so aufrichtig oder direkt sagen, wie wir es vermeintlich meinen, sondern wir müssen Techniken des Simulierens lernen, das „so-tun-als-ob“ oder des Dissimulierens, also die Wahrheit verbergen.
SPRECHERIN:
Führen wir das Experiment doch mal jetzt miteinander durch: Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch den Tag und sagen von früh bis spät jedem, der Ihnen begegnet, dass, was sie gerade über ihn oder sie denken. Nehmen wir an, Sie sagen einer Freundin, die sie lange nicht mehr gesehen haben: „Du bist aber grau geworden!“. Wie würde sie reagieren?
SPRECHER:
Oder stellen wir uns vor, Sie sitzen beim Abendessen neben einem erfolgreichen Autodesigner. Ohne sich was dabei zu denken, werfen Sie ihm diese Phrase an den Kopf: „Gut, dass ich nicht Autodesigner geworden bin! Heutzutage sehen doch alle Autos gleich aus!“
SPRECHERIN:
Menschen mit einem ausgesprochenen Taktgefühl versuchen solche Situationen zu vermeiden und gehen bestimmten Themen beim Dinner aus dem Weg. Sie ziehen es vor, nicht über Politik und Religion zu sprechen. Und sie wissen auch, dass Verstellung manchmal dazu gehört, um die Stimmung bei Tisch nicht kippen zu lassen. Verstellung – sind wir da nicht schon gefährlich nah dran an der Lüge? Der Philosoph Martin Scherer sieht das anders. Die Verstellung gehört zu einem Code der Höflichkeit, einem Code der Diplomatie, zu dem auch die Diskretion zählt. Lauter Hilfsmittel, um den menschlichen Umgang reibungsloser zu gestalten:
OT 4 Takt Martin Scherer
… da ist Zurückhaltung dabei, da ist Selbstkontrolle dabei, da ist Schmeichelei dabei. Aber warum nicht? Warum ist das unstatthaft? Oder in welcher Matrix wünschen wir uns zu sein, wenn wir darauf verzichten wollen? Sollen wir uns wirklich unsere Meinung (…) ständig ins Gesicht sagen? Ist Offenheit ein Selbstzweck? Was hinterließe diese Art des Miteinanderumgehens? Verletzte aller Orten, Gekränkte aller Orten, Beleidigte aller Orten …
SPRECHERIN:
Genau das erleben wir ja zurzeit in den sozialen Medien. In den Kommentarspalten zu Artikeln liefern sich die User regelrechte Meinungs-Schlachten. Werfen sich online Grobheiten und Beschimpfungen an den Kopf, die sie wahrscheinlich von Angesicht zu Angesicht nie aussprechen würden. Oft ist es ein Buhlen um Aufmerksamkeit, aber eben „im Modus des Kampfes, der Injurien, der Abwertung des Anderen“, wie Martin Scherer es ausdrückt.
Trenner
SPRECHERIN:
Kehren wir zurück zum Experiment: Was Angela Merkel wirklich über Putins Aktion mit Hund gedacht haben mag, werden wir natürlich nie erfahren. Fest steht – das „so-tun-als-ob“, das Übersehen seiner Taktlosigkeit, half ihr, die Situation ohne größeren Schaden zu überstehen und den Frieden zu wahren.
Musikakzent
SPRECHER:
Im richtigen Moment das Richtige zu sagen – oder aber zu schweigen, notfalls die wahren Gedanken oder Gefühle zu verhüllen: Diese Form des taktvollen Verhaltens stand schon in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts hoch im Kurs. Im prachtvollen Haifischbecken rund um Fürsten und Monarchen, konnte ein einziges Wort ein Schicksal besiegeln. Oder wie Martin Scherer es formuliert: In Zeiten der Inquisition konnte „Authentizität der Tod sein.“
OT 5 Takt Martin Scherer
Sie sagen Haifischbecken, sie sagen das zu Recht, es ist ein Ort der Schranzen, es ist ein Ort, in dem Karriere über Karrieren entschieden wird, häufig nach Gutdünken der Herrschenden oder des Herrschers und in dem man genauso schnell und gut in Ungnade fallen kann. In der es die Denunziation gibt, in der das falsche Wort an die falsche Person im falschen Moment unglaubliche Folgen haben kann, über eine Existenz entscheiden können. Und dann kommen wir zur Technik der Maske, wir kommen zum Verhehlen als Überlebensform, das Verhehlen der eigenen Meinung, des Eindrucks, der Impulse, dessen was einem auf der Zunge liegt, und dieses Verhehlen hat eine ganz vitale Dimension gehabt.
SPRECHERIN:
Das wusste auch der spanische Jesuit und Gelehrte Baltasar Gracián. Im Jahr 1647 schreibt er:
ZITATOR:
„Es gibt nichts, das mehr Fingerspitzengefühl fordert, als die Wahrheit, sie ist ein Aderlass des Herzens.“
SPRECHERIN:
In seiner berühmten Aphorismen-Sammlung mit dem Titel „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ rät der Gelehrte dem Höfling tatsächlich, „ohne zu lügen, nicht alle Wahrheit zu sagen.“
SPRECHER:
Weitere Ratschläge, die Baltasar Gracián erteilt, um auf dem glatten Parkett der hohen Gesellschaft zurechtzukommen:
ZITATOR:
„Es nie zum Bruch kommen zu lassen: denn immer geht das Ansehen daraus beschädigt hervor.“
„Den Beleidigungen zuvorkommen und aus ihnen Gunsterweise machen. Mehr Scharfsinn ist es, sie zu vermeiden, als sie zu rächen.“
SPRECHERIN:
Und – auch das gehört für Gracián zum taktvollen Benehmen bei Hof: Als Untertan sollte man unbedingt „Siege über den Vorgesetzten vermeiden“.
ZITATOR:
„Fürsten wollen auf höchster Ebene fürstlich sein. Sie lassen sich gerne helfen, aber nicht überbieten, und deswegen muss der Rat, den man ihnen gibt, eher wie eine Erinnerung an etwas Vergessenes wirken, denn wie ein Verweis auf etwas ihnen nicht Zugängliches. Eine glückliche Anleitung dazu geben uns die Sterne, denn obwohl sie ihre Kinder sind, wagen sie sich nie an die Strahlen der Sonne heran.“
SPRECHERIN:
Natürlich lassen sich Graciáns Maximen nicht eins zu eins auf unser Leben im Europa des 21. Jahrhundert übertragen. Schließlich ist es ja die Errungenschaft des Bürgertums, dass wir frei unsere Meinung sagen dürfen. In einer Demokratie landen wir deswegen nicht im Kerker. In gewisser Weise aber wirken Graciáns Handlungsanweisungen nach.
SPRECHER:
Heute leben wir nicht mehr an frühneuzeitlichen Höfen oder barocken Salons. Dafür bewegen wir uns in Organisationen, die allerdings auch hierarchisch strukturiert sind: Wir verbringen viel Zeit in Betrieben, Schulen, Universitäten. Wir sind darauf diszipliniert, zusammenzuarbeiten, zu kooperieren, um einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen. Und gleichzeitig kann jeder Einzelne innerhalb einer Organisation eigene Interessen und Absichten verfolgen.
SPRECHERIN:
Ein Spagat, mit dem wir Menschen umgehen müssen. Und für den wir taktvolle Strategien des Miteinanders entwickelt haben. Niklas Luhmann spricht in diesem Zusammenhang vom „Gesetz des Wiedersehens“.
OT 6 Takt Niklas Barth
Das Gesetz des Wiedersehens, das heißt, man wählt sein aktuelles Verhalten immer unter der Maßgabe, dass man erwartet, dass man sich immer zweimal sieht, dass man auch morgen noch gemeinsam Kollege sein wird. Also es verpflichtet darauf, bestimmte sozialverträgliche Formen zu habitualisieren, die gewissermaßen die Kontinuität des Sozialkontakts möglich machen.
SPRECHER:
Nach dem Motto: „Ich muss in der Lage sein, diesem Menschen morgen auch noch in die Augen zu schauen, ganz gleich, was ich von ihm halte.“ Türenknallend den Raum zu verlassen ist bei Ärger im Büro nicht angebracht. Besser ist es eine Runde um den Block zu gehen, den Ärger verrauchen zu lassen und zu einem späteren Zeitpunkt in einem zivilisierten Ton die eigene Meinung herzubringen. Oder eben, wenn es um eine Lappalie geht, großzügig über die Provokation hinwegzusehen. Taktvolles Benehmen kann im Arbeitsleben also durchaus helfen, andere zu überlisten, sagt Niklas Barth.
Trenner od. Musikakzent
SPRECHERIN:
Doch nicht nur im Arbeitsleben ist taktvolles Verhalten gefragt. Auch in der Liebe spielt es eine große Rolle. Denn auch hier gerät der Mensch regelmäßig in widersprüchliche Situationen. Viele Paare erwarten voneinander absolute Ehrlichkeit. Und sind dann gekränkt, wenn der andere aufrichtig sagt, was er oder sie denkt. Beispielsweise über die neue Frisur, das neue Kleid oder die neue Hose. Hier bewegt sich taktvolles Verhalten auf einem äußerst schmalen Grat, erklärt Niklas Barth:
OT 7 Takt Niklas Barth
Wir würden eine schlechte Beziehung führen, wenn wir nicht auch die Idee hätten, dass wir uns wechselseitig alles sagen können. Das ist im romantischen Ideal der Liebe fest verankert. Zugleich bedarf es aber auch hier der Konsensfiktion, so hat das Alois Hahn, der Soziologe, mal genannt, dass man nicht zu genau nachfragt, ob man wirklich gleich versteht, nicht nachbohrt, nicht prüft, sondern gewissermaßen gemeinsam Konsens ungetestet fortführt und damit auch sich wechselseitig schont und überhaupt eine Beziehung führen kann.
SPRECHERIN:
Jeder oder jede darf also das eine oder andere Geheimnis haben. Wichtig ist, dass die Grenzen klar sind. Wie weit dürfen wir gehen? Wo endet der Takt, wo beginnt der Betrug? Wo bleibt das richtige Maß, das Gleichgewicht?
OT 7 Takt Niklas Barth
Das ist eine ganz entscheidende Figur, die Sie ansprechen, das Gleichgewicht. In einer differenzierten und pluralen Gesellschaft sind wir in allen Situationen permanent durch zum Teil widersprüchliche Erwartungen umstellt. Und mit Takt lassen sich diese zum Teil widersprüchlichen Erwartungen ausbalancieren, ein Maß finden.
Trenner
SPRECHER:
Wie so oft im Leben kommt es also auf Maß und Mitte an. Niemand soll sich verbiegen oder sich selbst verleugnen, um Harmonie heraufzubeschwören. In bestimmten Konfliktsituationen, in denen Probleme gelöst, Entscheidungen getroffen werden müssen, ist Takt eine Sekundär-Tugend. Dann müssen die Beteiligten die Karten auf den Tisch legen und klar Position beziehen. Anders lässt sich ja kein Kompromiss aushandeln oder keine Lösung finden.
SPRECHERIN:
Geht es um das alltägliche Miteinander, hilft es allerdings, ein Wohlwollen mitschwingen zu lassen in der Beurteilung anderer. Eine Großzügigkeit, gemischt mit einer Portion Gelassenheit.
SPRECHER:
Das bringt beispielsweise Schülerinnen und Schüler dazu, motivierter zu lernen. Ein taktvoller Umgang in der Schule oder an der Uni kann Lernende dazu bewegen, bestimmte Zwänge nicht mehr als solche zu erleben, im Gegenteil, erklärt Niklas Barth. Hier knüpft der Begriff vom „pädagogischen Takt“ an.
OT 8 Takt Niklas Barth
Der pädagogische Takt zehrt ganz stark davon, dass man letztendlich Freiheit und Zwang vermittelt. (…) zum Beispiel im Hinblick auf die Bewertung von Leistungen. Da finden sich ganz viele taktvolle Strategien des Simulierens. Man stellt Leistungen besser dar, als sie waren, um den Lernerfolg nicht zu gefährden, um zum Lernen zu motivieren, um letztendlich auch die Motivation bei den SchülerInnen zu erzeugen, dass sie das, was sie eben sollen, selber wollen. Dafür ist Takt ein Vehikel.
SPRECHER:
Wer zu harsch und streng kritisiert, möglicherweise den anderen dabei beschämt, bezweckt damit nur, dass sich das Gegenüber gekränkt zurückzieht. Im schlimmsten Fall entwickeln sich dadurch auch psychische Blockaden. Für die Kreativität ist das Gift.
SPRECHERIN:
Viel hilfreicher und motivierender ist da die sogenannte „konstruktive Kritik“. In der Grundschule klingt sie bei einer nicht ganz so guten Leistung dann eher so: „Das kannst Du besser!“ oder: „Da ist noch Luft nach oben!“ Das ist viel freundlicher und motivierender als: „Das nennst Du einen Aufsatz?“ oder „Das war wohl nichts!“
SPRECHER:
Gleiches gilt auch im geselligen Gespräch. Wer ständig dagegenhält und alles schlecht redet, an allem Kritik übt, um sich dabei über andere zu erheben, der macht sich nicht beliebt. Im Gegenteil, sagt Soziologe Niklas Barth. Goethe thematisiere das in seinem Roman „Die Wahlverwandtschaften“ über die Figur der Ottilie…
OT 9 Takt Niklas Barth
… die schreibt in ihr Tagebuch. „Jedes Wort erregt den Gegensinn.“ Also, in der Sprache kann man immer negieren, aber wer taktvoll ist, verzichtet darauf, permanent zu negieren und Kritik (…) vorzubringen. Die Sozialfigur, die das nicht gelernt hat, das ist der Pedant, den wir als sehr unangenehm empfinden, gerade in Konversationen. Der Geist, der stets verneint und nochmal eine kleine Detailfrage negiert und nochmal und nochmal.
SPRECHERIN:
Angenehm ist hingegen ein gewisses Maß an Freundlichkeit, ein laisser-faire, also eine Gelassenheit, die häufig mit einem taktvollen Verhalten einhergeht.
ZITATOR:
„Freundlichkeit, die nicht-adelige Vertraute der Höflichkeit, dient als Puffer zwischen den Identitäten, die ohne sie ungebremst aufeinanderprallen würden.“
SPRECHERIN:
… schreibt Martin Scherer in seinem Buch „Takt – Über Nähe und Distanz im menschlichen Umgang.“ In seinem Essay macht der Schriftsteller darauf aufmerksam, dass Taktgefühl und Höflichkeit, anders als oft angenommen, nicht unbedingt mit Herkunft und sozialem Status verknüpft sind. Die Oberschicht würde zwar Höflichkeit und Etikette gerne verwenden, um sich gegen andere soziale Gruppierungen abzugrenzen. Gepachtet habe sie diese Werte aber nicht.
SPRECHER:
Auch unsere Zeiten sind rau. Politiker werden angefeindet oder gar öffentlich attackiert. Viele beklagen eine „Verrohung der Sitten“. Die Grenze der Scham, dessen, was wir einander zumuten, ist gesunken. Allerdings haben sich, zumindest im Netz, in manchen Foren sogenannte „Nettiketten“ herausgebildet. Also Leitlinien dazu, wie wir im Netz miteinander respektvoll umgehen können. Leben wir also in besonders taktlosen Zeiten oder trügt der Eindruck?
OT 11 Takt Niklas Barth
Da muss man differenzieren, um das beantworten zu können.
Zum einen fallen uns viele Taktlosigkeiten heute besonders auf, weil die Sensibilitäten auch zugenommen haben. Das ist ein typisches Paradox von Zivilisationsprozessen, dass die Vulgarität, die Taktlosigkeit, die Abweichung, die Enttäuschung gerade dann erst wahrnehmbar wird, weil die Antennen gewissermaßen sensibler wurden. Das ist das eine. Und zum anderen muss man natürlich sagen: Takt ist eine sehr unwahrscheinliche, sehr komplexe und letztlich auch in vielen Kontexten optionale Verhaltensform. Es verpflichtet uns in vielen Situationen ja nichts darauf, den anderen taktvoll zu schonen.
SPRECHERIN:
Fassen wir zusammen: Taktvolles Benehmen hält sich an keine Regeln und keine Moral, es geht um die richtige Geste im richtigen Moment. Takt kann uns schützen, uns helfen, einem möglichen Konflikt aus dem Weg zu gehen. Mit Hilfe des Takts können wir andere überlisten. Oder ganz im Gegenteil: Wir können unser Gegenüber schonen, ihm eine Brücke bauen und aus einer peinlichen Situation heraushelfen.
SPRECHER:
Ein schönes Beispiel dafür ist die Legende des Kaisers, der einmal einen Mann aus einfachen Verhältnissen zu sich einlud, zum Dank für einen großen Dienst. Als der Kaiser sah, dass der Mann aus Versehen aus der Fingerschale getrunken hatte, tat er ihm dies einfach nach. Daraufhin hörten die übrigen Gäste schlagartig damit auf, sich hinter vorgehaltener Hand über den Mann lustig zu machen.
SPRECHERIN:
„Der schmale Grat“ – Constanze Alvarez über Takt und Taktgefühl. Und warum es sich lohnt, nicht immer gleich die eigene Meinung in die Welt zu posaunen. Viele weitere radioWissen-Beiträge rund um das menschliche Miteinander stehen Ihnen in der ARD Audiothek zur Verfügung - und überall dort, wo´s Podcasts gibt. Wir haben Ihnen eine kleine Auswahl an Sendungen zusammengestellt - Die Links zu diesen Hörtipps finden Sie in den Shownotes. Zum Beispiel eine Sendung über die richtige Anrede in unseren modernen Zeiten. Oder einen Beitrag über die Freundlichkeit.