

WIE WIR MENSCHEN WURDEN – Der Denisova-Mensch
Die genetische Analyse eines Fingerknöchelchens aus einer Höhle im sibirischen Altai-Gebirge war eine Sensation. Im Jahr 2010 hat man dadurch eine bisher unbekannte, archaische Menschenform entdeckt - den Denisova-Menschen. Dank neuer genetischer Daten wird der immer greifbarer. Von Prisca Straub (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Frank Manhold
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview: Svante Pääbo, Jean-Jacques Hublin, Bence Viola
Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025
Besonderer Linktipp der Redaktion:
WDR: Zeitzeichen
Wie wurde eine Piratin zur mächtigsten Frau Irlands? Warum trägt ein Kleidungsstück Weltgeschichte in sich? Und was verbindet Rosa Luxemburg mit unserem Heute? Im WDR Zeitzeichen erfährst du jeden Tag in 15 Minuten Spannendes, Kurioses und Prägendes aus der Geschichte – von der Antike bis heute, von großen Ideen bis zu kleinen Alltagsmomenten. ZUM PODCAST
Linktipps:
Bremens Eins (2020): 25.3.2010: Denisova-Urmensch entdeckt
Die Folge von Der Stichtag – Die Chronik der ARD blickt zurück auf 2010: jenes Jahr, in dem Forschende erstmals den Denisova-Urmenschen wissenschaftlich nachweisen konnten. ZUM PODCAST
Senckenberg Naturmuseum Frankfurt: Dauerausstellung “Evolution des Menschen”
Wie gingen unsere Vorfahren auf zwei Beinen? Wann fing der Mensch an, Werkzeuge zu benutzen – und wie veränderte das Feuer unser Miteinander? In der Dauerausstellung “Evolution des Menschen” im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt bekommst du einen Blick in unsere Ursprünge – wie sich Gesichter wandelten und wie wir heute durch Forschung Stück für Stück unsere Geschichte zusammensetzen. ZUR AUSSTELLUNG
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Im Jahr 2010 gibt das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie gleich mehrere atemberaubende Entdeckungen bekannt. Dem Team um den schwedischen Paläogenetiker Prof. Svante Pääbo ist es gelungen, das vollständige Erbgut des Neandertalers zu entziffern. Im Frühjahr veröffentlicht die Arbeitsgruppe die bahnbrechenden Ergebnisse. Und nicht nur das. Durch genetische Analysen rücken die Forschenden nicht nur dem Neandertaler auf den Leib, sondern stoßen auch noch auf eine weitere ausgestorbene Menschenform: einen bisher völlig unbekannten Vertreter der Gattung Homo. Die Aufregung unter den Fachleuten ist riesig. Offenkundig haben wir es mit einem ganz neuen Verwandten zu tun - dem sogenannten Denisova-Menschen.
O-TON Svante Pääbo
Man hat da sehr viel Glück gehabt, zum Beispiel mit dem ersten kleinen Fingerknochen von diesem Denisova-Menschen, von einem Mädchen. Wo wir zum ersten Mal erkannt haben, dass es diese Menschenform gibt.
SPRECHERIN
Noch nie zuvor war es gelungen, aus einem einzigen fossilen Knochenstück, so erstaunlich umfassende Erbinformation zu gewinnen. Und noch dazu eine so bemerkenswerte. Die Entdeckungsgeschichte des Denisova-Menschen beginnt also mit der genetischen Analyse eines winzigen Fragments vom letzten Glied eines kleinen Fingers. Er gehörte einem etwa 15-jährigen Mädchen und ist zwischen 50- und 80.000 Jahre alt.
Die Denisova-Höhle im sibirischen Altai-Gebirge: Sie liegt etwa acht Autostunden südlich von Nowosibirsk auf rund 700 Metern Höhe. Die Fahrt ist beschwerlich und führt über unbefestigte Straßen, mehrmals muss ein Flussbett durchquert werden. Heute sind die Höhleneingänge fast zugewachsen, doch die Bodenablagerungen enthüllen: Offenbar wurde die Denisova-Höhle vor rund 250.000 Jahren zum ersten Mal besiedelt. Verstreut in den unterschiedlichen Fundschichten finden sich Tierknochen, Steingeräte und - menschliche Überreste. Archäologen von der Russischen Akademie der Wissenschaften hatten seit den frühen 1980er Jahren eine Fülle von Gegenständen aus der Höhle geborgen - unter ihnen auch das unscheinbare, nur wenige Millimeter große Stück eines Fingerknochens. Jahre später nimmt das Team um den Paläogenetiker Svante Pääbo es genauer unter die Lupe:
O-TON Svante Pääbo
Das war ein kleines Stück. Man findet Tausend und Zehntausende Knochenfragmente bei archäologischen Ausgrabungen, die so klein sind, dass man nicht mal weiß, ob sie von einem Tier kommen oder vom Menschen.
SPRECHERIN
Äußerlich betrachtet, ist das Knöchelchen wenig bemerkenswert. Es unterscheidet sich auch nicht vom entsprechenden Knochen eines Neandertalers oder dem des modernen Menschen. Doch die Analyse genetischer Proben ergibt: Das Knochenbruchstück passt zu keiner bisher bekannten Menschenform. Zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte hatte man einen Frühmenschen nicht mit Hilfe von Fossilien entdeckt, sondern durch die Analyse seines Erbguts.
O-TON Svante Pääbo
Natürlich wusste man, dass es etwas gegeben haben muss in Asien. Wenn der Neandertaler in Europa und im westlichen Asien gelebt hat, muss es etwas gegeben haben in Ostasien.
SPRECHERIN
Und diese Lücke füllt nun der Denisovaner: Eine frühe Menschenform, die vor rund 500.000 Jahren am menschlichen Stammbaum eine eigene Linie gebildet hat.
O-TON Svante Pääbo
Was wir wissen: Der nächste Verwandte vom Denisova-Mensch war der Neandertaler. Der gemeinsame Vorfahre lebte vor einer halben Million Jahre oder ein bisschen mehr. Und dieser Vorfahr hat Afrika verlassen und hat sich dann in Eurasien entwickelt - im Westen zum Neandertaler, im Osten zum Denisova-Mensch.
SPRECHERIN
Eine Erkenntnis, die inzwischen durch die Untersuchung weiterer menschlicher Überreste aus der Denisova-Höhle bestätigt werden konnte: Knochensplitter und eine Reihe außergewöhnlich großer Zahnfragmente. Auch sie gehören zu unseren frühmenschlichen Denisova-Cousinen und -Cousins. Und nicht nur das: Während der rund 200.000 Jahre, die die Denisovaner ihre steinzeitliche Höhlenwohnung aufgesucht haben, trafen sie immer wieder auch auf ihre nächsten Verwandten - die Neandertaler - die von Westen aus in das Gebiet vordrangen. Wir wissen nicht, wie fremd sich die beiden Menschengruppen waren, wenn sie sich auf ihren Wanderungen begegneten. Aber wir wissen mit Sicherheit, dass sie gemeinsame Nachkommen hatten. Denn auch deren fossile Überreste konnten inzwischen genetisch identifiziert werden.