#276 Ein Jahr danach: Der 7. Oktober, der Krieg in Gaza und die Folgen in Deutschland
Oct 2, 2024
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Furkan Yüksel, ein Experte für Autoritarismus und gesellschaftliche Debatten, und Samuel Stern, spezialisiert auf silencing in Diskursen, reflektieren über die Folgen des Gaza-Konflikts. Sie diskutieren, wie der 7. Oktober eine Welle von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland ausgelöst hat. Die beiden beleuchten die Herausforderungen für Jugendliche in Schulen im Umgang mit diskriminierenden Äußerungen und die entscheidende Rolle von Bildungsarbeit. Zudem wird die Notwendigkeit betont, eine empathische und solidarische Gesprächskultur zu fördern.
Der 7. Oktober und der folgende Krieg in Gaza haben den Diskurs über Israel-Palästina in Deutschland stark polarisiert und erschwert.
Die Zunahme von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland zeigt die Notwendigkeit für differenzierte Bildungsansätze und offenen Dialog.
Bildungsarbeiter sind durch extremen Druck konfrontiert, sich klar zu positionieren, wodurch ein konstruktiver Austausch oft behindert wird.
Ein umfassendes Verständnis von Antisemitismus erfordert die Berücksichtigung globaler Zusammenhänge und die Bekämpfung von Vorurteilen und Ignoranz.
Deep dives
Die Gefahren der Silencing-Kultur
Die repressiven und autoritären Ansätze im Rahmen der Antisemitismus-Kritik stellen eine ernsthafte Gefahr dar. Sie führen dazu, dass bestimmte Stimmen, Meinungen und Äußerungen von den Diskursen ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss kann zu einer gefährlichen Silencing-Kultur führen, die wiederum Raum für radikale Positionen schafft. Solche Radikalisierungen können dann von Extremgruppen ausgenutzt werden, die sich als Sprachrohr für die Palästinenser präsentieren, während demokratische und friedliche Dialoge unterdrückt werden.
Ein Jahr nach dem Gaza-Krieg
Ein Jahr nach dem antisemitischen Massaker der Hamas und den israelischen Reaktionen steht der Diskurs in Deutschland vor großen Herausforderungen. Es gibt eine Zunahme an Extrempositionen, die den Dialog erschweren und in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Spaltung beitragen. Besonders besorgniserregend sind die offenen Äußerungen von Judenhass aus islamistischen Kreisen und die Bagatellisierung von Gewalt durch einige, die die Hamas als Widerstandskämpfer darzustellen versuchen. Diese Entwicklungen werfen ein Schlaglicht auf die Komplexität des Konflikts und die Notwendigkeit eines differenzierten Gesprächs.
Die Verunsicherung in der Bildungsarbeit
Die Bildungsarbeiter sehen sich in der aktuellen Debatte mit einer hohen Verunsicherung, da sie versuchen, sowohl Rassismus als auch Antisemitismus zu adressieren. Die öffentliche Auseinandersetzung ist häufig von extremen Positionen geprägt, was zu einem enormen Druck auf Fachkräfte führt, sich klar zu positionieren. Dies verschärft die Verantwortung, einen Raum für offene Diskussionen zu schaffen, gleichzeitig müssen sie sich gegen Angriffe und Vorurteile wappnen. Letztlich ist dies mit psychischen Belastungen verbunden, die oft ignoriert werden.
Die Komplexität des Diskurses in Schulen
In Schulen ist der Diskurs über Antisemitismus und Rassismus oft oberflächlich und wird von Selbstzensur geprägt. Lehrkräfte fühlen sich häufig überfordert, wenn sie in Seminaren oder Unterricht auf schwierige Themen zu sprechen kommen, wobei viele aus Angst vor Konfrontationen oder negativer Rückmeldungen ein Tabu um bestimmte Themen ziehen. Darüber hinaus erleben Schüler Sanktionen, wenn sie Positionen beziehen, die nicht im Einklang mit den offiziellen Schulkriterien stehen. Wertvolle Dialoge werden dadurch im Keim erstickt, was das Verständnis für unterschiedliche Perspektiven weiter erschwert.
Der Bedarf an kontinuierlicher Bildungsarbeit
Die Nachfrage nach Bildungsprojekten, insbesondere nach dem 7. Oktober, hat erheblich zugenommen, was auf einen akuten Handlungsbedarf hinweist. Viele Projekte haben auf diese Situation reagiert, indem sie bestehende Formate ausgeweitet oder Lehrpläne angepasst haben, um dem gestiegenen Interesse gerecht zu werden. Dennoch bleibt die Frage bestehen, wie solche Bildungsprojekte nachhaltig gefördert werden können, um nicht nur kurzfristig zu reagieren, sondern langfristige Lösungen zu etablieren. Eine kontinuierliche und gut finanzierte Bildung ist entscheidend, um Resilienz gegen Antisemitismus und Rassismus zu fördern.
Die Herausforderungen im globalen Antisemitismusdiskurs
Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus erfordert ein Verständnis seiner globalen Dimensionen und nicht nur einen Fokus auf lokale oder nationale Kontexte. Es gibt Tendenzen, welche die Diskussion zur Instrumentalisierung von Antisemitismus für eigene politische Ziele berücksichtigen müssen, was den Dialog und die Zusammenarbeit behindert. Um eine bessere Gesprächskultur zu etablieren, ist es wichtig, sich den unterschiedlichen Facetten von Antisemitismus zu stellen und diese anzuerkennen. Nur durch einen differenzierten Ansatz lassen sich Ängste, Vorurteile und Missverständnisse abbauen.
Versäumnisse in der Bildungssystematik
In den Schulen fehlt häufig das notwendige Wissen und die Ausbildung, um Antisemitismus und Rassismus fundiert zu behandeln. Dies führt zu einer Überforderung der Lehrkräfte und einer mangelnden Fähigkeit, auf diskriminierende Äußerungen der Schüler zu reagieren. Ein Mangel an strukturellen Ressourcen, Wissensvermittlung und Weiterbildungsmöglichkeiten in diesen Themen ist offensichtlich. Diese Lücken im Bildungssystem machen den Handlungsbedarf in der Lehrerausbildung und den Inhalt des Schulcurriculums umso dringlicher.
Der Diskurs über Antisemitismus und Lösungsmöglichkeiten
Um einen konstruktiven Diskurs zu fördern, ist es notwendig, dass alle Beteiligten bereit sind, zuzuhören und unterschiedliche Perspektiven ernst zu nehmen. Dies beinhaltet auch eine Sensibilisierung für die Ängste und Bedürfnisse der verschiedenen betroffenen Gruppen. Ein offener Dialog, der auch Konflikte und Differenzen nicht scheut, könnte als Grundlage dienen, um gemeinsame Ansätze im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus zu entwickeln. Letztlich ist es wichtig, sich nicht von extremen Standpunkten leiten zu lassen, sondern vielmehr eine menschliche und empathische Austauschbasis zu schaffen.
Furkan Yüksel und Samuel Stern über Autoritarismus und Silencing in der Debatte
Der 7. Oktober und der Krieg in Gaza haben eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts in noch weitere Ferne gerückt, ein Jahr nach dem Hamas-Massaker eskaliert der Konflikt weiter. Und auch für Deutschland hat die Situation in Nahost Folgen, Antisemitismus und Rassismus haben zugenommen und der Raum für ein konstruktives Sprechen über eine Haltung zu Israel-Palästina ist hier weiter zusammengeschrumpft - das Debattenklima ist geprägt von tiefen Gräben, Autoritarismus und einer Kultur des Silencing. Wie lässt sich da eine universalistische Haltung finden, die sowohl Antisemitismus als auch Rassismus eine Absage erteilt? Mit Furkan Yüksel und Samuel Stern von der Bildungsstätte Anne Frank suchen wir im Dissens Podcast nach Antworten.
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Furkan Yüksel ist in der politischen Bildung tätig zu den Themen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und Erinnerungskulturen. Er arbeitet als Referent an der Bildungsstätte Anne Frank zum Themenkomplex »Rassismus und Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft«.
Samuel Stern ist Referent an der Bildungsstätte Anne Frank mit Schwerpunkt israelbezogener Antisemitismus. Für die Bildungsstätte ist er Teil vom „Kompetenznetzwerk Antisemitismus", das durch Analysen, Bildungsarbeit und Beratung Einzelpersonen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft in ihrem Engagement gegen Antisemitismus unterstützt.
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Dissens verlost unter allen Fördermitgliedern ein Exemplar des Sammelbandes
Sammelband "Trotzdem sprechen", in dem Autor*innen verschiedener Hintergründe ihre Gedanken zum 7. Oktober und dem Gaza-Krieg zu teilen.