
SWR Kultur lesenswert - Literatur Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler
Jun 17, 2025
04:09
Es ist geradezu eine Offenbarung: Thomas Manns hypochondrischer Held Hans Castorp verbringt schon ein paar Jahre auf dem „Zauberberg“, da wird den Gästen des Sanatoriums ein neuer Apparat zur Unterhaltung präsentiert. Dabei handelt es sich um ein modernes Tischgrammophon, ja, mehr sogar, wie Hofrat Behrens ausführt –
… das ist ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang!Hans Castorp ist fasziniert von diesem Wunderwerk der Technik, und er wird zum DJ, hört sich durch die Schellack-Bibliothek des Hauses, ist der Hüter eines Plattenschatzes. Bald beherrscht er das „Instrument“ mit…Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler
…geübten, knappen und zarten Bewegungen.Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler
Instrument, das alle anderen Instrumente in sich birgt
Diese weltliterarische Episode steht an zentraler Stelle im jüngsten Essay des Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann. „Der Plattenspieler“ ist das schmale Liebhaberwerk überschrieben, und es greift eine wesentliche Erkenntnis aus Thomas Manns „Zauberberg“ auf: Der Plattenspieler ist nicht einfach nur ein technisches Gerät, sondern ein Instrument, das alle anderen Instrumente in sich birgt. Konrad Paul Liessmann ist ein leidenschaftlicher Musikhörer und Plattensammler. Das erste Gerät brachte der Vater mit nach Hause – es musste aufwändig an das Röhrenradio angeschlossen werden, das Abspielen von Musik wurde regelrecht zelebriert. Die Faszinationskraft hat sich bis heute gehalten. Liessmann lässt uns daran teilhaben und zeichnet nebenbei die Entwicklungsgeschichte des Plattenspielers nach – vom „Phonautographen“ des Erfinders Édouard-Léon Scott de Martinville über Thomas Alva Edisons „Phonographen“ und Emil Berliners „Grammophon“ bis zum High-End-Gerät unserer Gegenwart. Und er stellt ausgewählte theoretische Überlegungen vor, die diese Entstehungsschritte begleitet haben. So stand Theodor W. Adorno dem Grammophon zunächst skeptisch gegenüber, sah es als Symptom einer allgemeineren Tendenz zur „Verdinglichung“ – schließlich musste niemand mehr ein Instrument beherrschen, um sich Musik ins Haus zu holen. Mit Entstehung der LP – also der Möglichkeit, längere Stücke auf Platte zu bannen – wurde auch Adorno gnädiger. Und es eröffneten sich neue technische und inhaltliche Dimensionen.Für einige Jahrzehnte konnte es so scheinen, als verdichteten sich in der Schallplattentechnologie die sinnlichen Ambitionen und ästhetischen Möglichkeiten unserer Kultur.Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler
Wahrnehmung von Musik verändert
Die Schallplatte hat unsere Wahrnehmung von Musik verändert, die Möglichkeit wiederholten Hörens in das Wechselspiel von Erinnerung und Erwartung eingegriffen, schreibt Liessmann. Bei dem Philosophen Günther Anders hat er eine Beobachtung gefunden, die dieses neue Verhältnis klarsichtig beschreibt:Dass das Publikum immer wieder dasselbe zu hören verlangt, ist nicht, wie es Usus ist, allein dadurch erklärt, dass man Vertrautes liebt, sondern auch dadurch, dass man, Vertrautes hörend, die Chance genießt, vorauszusehen. Die Reproduktionstechnik verwandelt uns in, freilich sehr trivialisierte, Propheten.Die jüngste Vinyl-Renaissance könnte man als Nostalgie abtun. Aber die Abwendung vom Digitalen hin zum Analogen, das eine andere Aufmerksamkeit und Kontemplation erfordert und tiefere ästhetische Erfahrungen ermöglicht, ist vielleicht auch eine Art Widerstand gegen das Flüchtige.Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler
Dinglichkeit als greifbarer Erinnerungsschatz
Wer digitalisierte Musik hört, rechne; wer eine Schallplatte auflegt, philosophiere, so Liessmann. Und tatsächlich besteht darin wohl heute der Reiz der Schallplatte: Sie lässt sich nicht nebenbei hören; man muss sich darauf einlassen und Geduld mitbringen, behutsam mit ihr umgehen, sie auflegen, umdrehen, hegen und pflegen. Der Plattenspieler selbst braucht ebenfalls ein gewisses Maß an Zuwendung und Detailliebe – er muss richtig positioniert, der Tonarm eingestellt, die Nadel sorgsam behandelt werden, und für einen guten Klang braucht es einen angemessenen Verstärker.Benutzen wir einen Plattenspieler, sind wir für den guten Ton zumindest zu einem Teil selbst verantwortlich.Nichts ist so leicht verfügbar wie gestreamte Musik. Nichts aber wirkt in seiner sofortigen Verfügbarkeit und Immaterialität auch so beliebig und banal. Die Schallplatte bewahrt Spuren und Bilder. Ihre Dinglichkeit wird in einer virtuellen Welt zu einem greifbaren Erinnerungsschatz.Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler
