
SWR Kultur lesenswert - Literatur Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren
Jun 12, 2025
04:09
Mehr als drei Jahrhunderte regierte der Zarismus Russland. Im Frühjahr 1917 fällt das Zarenreich jedoch innerhalb weniger Tage wie ein Kartenhaus zusammen. „Schon zwei Wochen nach dem Beginn der Brotproteste ist von der alten Welt kaum noch etwas zu spüren“, schreibt Jörg Baberowski.
In packenden Geschichten zeichnet er mit dramaturgischem Geschick und erzählerischem Esprit den Zusammenbruch minutiös nach. Einer der Zeitgenossen, dem er über die Schulter blickt, ist der exzentrische Komponist Sergei Prokofjew.
Prokofjew kehrt zum Winterpalast zurück, und von dort läuft er zum Marsfeld. Lastwagen fahren an ihm vorbei, johlende Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten schwenken rote Fahnen und schießen Gewehrsalven in die Luft. Langsam begreift auch Prokofjew, dass die Tage des Friedens gezählt sind, die Revolution kein Geschehen ist, das man einfach ignorieren könnte.Quelle: Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren
Überfordert von den Geschehnissen
Baberowski folgt dem Geschehen aus der Perspektive einer Vielzahl von Personen. Oft sind die Politiker, Generäle, Höflinge und Revolutionäre weniger Handelnde, sondern mehr Getriebene – mitgerissen vom Strudel der historischen Ereignisse. So faszinierend die detailreiche Darstellung ist, so sehr fordert sie auch die Konzentration der Leser, um in der chaotischen Szenerie nicht – gleichsam wie die historischen Akteure – den Überblick zu verlieren. Am Anfang vom Ende steht eine massive Versorgungskrise, die sich rasch zur Legitimationskrise auswächst. Während immer mehr Menschen auf die Straße gehen, Brot und ein Ende des Krieges fordern, während die herbeigerufenen Soldaten sich mit den Protestierenden verbünden, versäumt es die Regierung, „im richtigen Augenblick richtige Entscheidungen zu treffen“, notiert Baberowski. Aber auch Sozialisten und Liberale, die den Umbruch propagiert haben, sind überfordert von den Geschehnissen.Die Ereignisse haben keinen Urheber, es scheint, als vollzöge sich die Revolte unabhängig von den politischen Parteien und ihren intellektuellen Interpreten. Stets haben sie in der Vergangenheit von Reformen und Revolutionen gesprochen, sich damit gebrüstet, es besser zu wissen als die dunkle Masse. Und nun tanzt das Volk auf den Straßen, und niemand weiß, welche Antwort man darauf geben soll.Quelle: Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren
Erst die Familie, dann das Land
Weil ihm sein Innenminister versichert, alles unter Kontrolle zu haben, verlässt der Zar die kriselnde Hauptstadt. Baberowski zeichnet Nikolai als willens- und antriebsschwachen Menschen, der sich mehr um seine Familie als um das Land sorgt. Widerstandslos willigt er in die Abdankung ein. Seine letzte Zugreise wird zu einer Irrfahrt, die auf dem Abstellgleis endet. Wo Institutionen verfallen, gewinne persönliche Autorität an Bedeutung zurück, schreibt Baberowski prononciert. Doch auch der Mann, der sich wie kein anderer als Sprachrohr und Führer der Massen in Szene setzt, zögert in den entscheidenden Momenten. Baberowski hält nicht viel von Alexander Kerenski, dem zweiten Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung. Er porträtiert ihn als eitlen, selbstverliebten Mann der billigen Effekte. Ganz anders agiert der aus dem Exil nach Russland zurückgekehrte Lenin. Zielgerichtet und rücksichtslos strebt er an die Macht.Niemand weiß besser als Lenin, dass die Grausamkeit und die anarchistischen Gefühle des desorientierten Volkes Triebkräfte sind, die sich der revolutionäre Wille zunutze machen kann. Nicht verbrüdern will er sich mit den Massen. Er will sie vielmehr zwingen, dem Ruf der Wissenden zu folgen und sich von sich selbst zu befreien. Auf Technik und Strategie, nicht auf Programm und Überredung kommt es in diesen Tagen an.Jörg Baberowski schildert die revolutiuonären Ereignisse als eine Abfolge von Augenblicken und Situationen, die immer neue Möglichkeiten eröffnen. Das Geschehen folgt keinem Plan und keiner Notwendigkeit. Als seine Henker Nikolai eröffnen, dass er und seine Familie hingerichtet werden, entgegnet er nur erstaunt und fassungslos: „Wie bitte?“Quelle: Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren
