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Homo Sovieticus – Utopie und Alltag
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Quick takeaways
- Die Schaffung des Homo Sovieticus durch Bildung und Umerziehung im kommunistischen System führte zu politischer Gleichgültigkeit und einem Streben nach Konformität.
- Die anhaltende Präsenz des Konzepts Homo Sovieticus in der heutigen russischen Gesellschaft spiegelt eine paternalistische Erwartungshaltung gegenüber dem Staat wider.
Deep dives
Die Schaffung des Homo Sovieticus
Die Sowjetunion strebte danach, einen neuen Menschen, den Homo Sovieticus, zu erschaffen, um die Ziele des Kommunismus zu erreichen. Diese Transformation beinhaltete eine gezielte Beeinflussung der Menschen, die als Social Engineering beschrieben werden kann. Zu den Methoden gehörten die Alphabetisierung und die Ausbildung in neu gegründeten Arbeiter- und Bauernfakultäten, um eine sozialistische Gesellschaft zu formen. Die kulturelle Repräsentation stellte den idealen sowjetischen Bürger als loyalen, arbeitenden und opferbereiten Menschen dar.
Das Gulag-System und seine Auswirkungen
Das Gulag-System diente als brutale Methode zur Umerziehung unerwünschter Elemente der Gesellschaft in den Homo Sovieticus. Während viele Menschen in schrecklichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mussten, wurden sie gleichzeitig durch Bildungsmaßnahmen und Kulturprogramme indoktriniert. Die Propaganda stellte die Inhaftierten oft als Vorbilder dar, die trotz ihrer Umstände einen neuen Sinn im Leben finden konnten. Diese systematische Unterdrückung führte zu langfristigen gesundheitlichen und psychischen Schäden für Millionen von Menschen.
Die Relevanz des Homo Sovieticus heute
Der Begriff Homo Sovieticus wird auch heute noch verwendet, um bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen innerhalb der russischen Gesellschaft zu beschreiben. Viele Menschen, die in der Sowjetunion aufwuchsen, sind von einer paternalistischen Haltung geprägt, bei der sie erwarten, dass der Staat ihre Probleme löst. Diese sowjetische Erbschaft hat weiterhin Einfluss auf die politische Kultur in Russland, insbesondere unter der Führung von Putin. Der Begriff wird jedoch auch kritisch betrachtet, da er oft stereotype Annahmen über die russische Identität vermittelt, ohne die Vielfalt der Erfahrungen und Kulturen zu berücksichtigen.
Einen neuen sowjetischen Menschen wollte die junge UdSSR erschaffen, durch Wissenschaft, Bildung und - Umerziehung. Das Ergebnis ist jedoch umstritten: Kritiker sagen dem sogenannten Homo Sovieticus oft nach, politisch desinteressiert zu sein und nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen. Wer war der Homo Sovieticus - und gibt es ihn noch heute? Von Fiona Rachel Fischer
Credits
Autorin dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Sebastian Fischer
Technik:
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Maja Soboleva, Professorin am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg
Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen
Die Russische Welt aus Sicht des Kremls - Ruskij Mir
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Literatur:
Klaus Gestwa: „Der Sowjetmensch. Geschichte eines Kollektivsingulars“, in: Nackte Seelen. 68 (2018), S. 55-82. Ein informativer Artikel, der sowohl die Begriffsgeschichte des „Homo Sovieticus“ in historischen Kontext setzt, als auch den Begriff selbst kritisch beleuchtet.
Maja Soboleva: “The Concept of the ‘New Soviet Man’ and Its Short History”, in: Canadian-American Slavic Studies 51 (2017), S. 64-85. Soboleva diskutiert hier das sowjetische Moralverständnis hinter dem Neuen Sowjetischen Menschen.
Zitate aus Alexander Sinowjew: Homo sovieticus. Roman. Aus dem Russischen von G. von Halle. Zürich 1984.
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Das vollständige Manuskript gibt es HER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Man nehme: einen starken Körper, Sportlichkeit …. dazu einige Schöpfer Loyalität … und jetzt noch eine gute Handvoll Bildung …. Ahh, und eine Prise Leidenschaft. Dann ist er fertig –
SPRECHER:
– der Neue Mensch.
O-TON 1 – Klaus Gestwa
Die Idee dass sich der Mensch neu erfinden kann, dass er sich selbst transformiert, ist ja in der Menschheitsgeschichte wiederholt vorgekommen. Und die Vision vom neuen Menschen gehört, glaube ich, ganz zentral zu den sozialen und politischen Obsessionen des zwanzigsten Jahrhunderts.
SPRECHERIN:
- sagt Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen. Spätestens seit der Verbreitung von Darwins Evolutionstheorie weiß man, dass sich der Mensch entwickelt und nicht gottgegeben ist. Also müsste man doch in diese Entwicklung eingreifen können.
SPRECHER:
Die junge Sowjetunion belässt es jedoch nicht nur beim Träumen; die kommunistische Partei macht sich ans Werk, einen Neuen Sozialistischen Menschen zu erschaffen. Denn damit das mit dem Kommunismus klappen kann, da ist man sich unter den Revolutionären sicher, braucht es im ehemaligen Zarenreich eigentlich eine ganz andere Art von Mensch.
SPRECHERIN:
Für eine Herrschaft des Proletariats, die nach der Marxschen Theorie der Revolution folgen soll, benötigt man erst einmal eine Arbeiterklasse. Die gibt es per Definition aber nur in einer Industriegesellschaft. Und das Zarenreich war keine.
O-TON 2 – Klaus Gestwa
Die neuen Moskauer Machthaber sahen sich natürlich auch vor die Herausforderung gestellt, dass sie einen Staat übernahmen, der im Wesentlichen bäuerlich geprägt gewesen ist, also im Januar 1917, stellten über 80 Prozent der Bevölkerung des Sowjetrusslands damals noch Bauern und Nomaden dar. Und dann ging es jetzt eben darum, auch eine soziale Machtbasis zu schaffen. Und diese soziale Machtbasis sollte ebenso durch die Formung eines neuen Menschen tatsächlich auch an Stabilität und auch an Festigkeit und Dauerhaftigkeit gewinnen.
SPRECHER:
Die Bewohner der Sowjetunion sollen eine schnelle Entwicklung durchlaufen und zu Menschen werden, die den Kommunismus errichten können.
O-TON 3 – Klaus Gestwa:
Und da gehört eben die Aufopferung für dieses sowjetische System ganz zentral dazu das Enthusiastische, das Kämpferische, was damit verbunden gewesen ist, auch immer wieder das Aufopferungsvolle. Dass man als Asket lebt, um eben seine ganze Kraft und seine ganze Energie einbringen zu können in diesen Aufbau des Sozialismus, der ja in den 20er und in den 30er-Jahren ganz oben auf der politischen Agenda stand.
SPRECHERIN:
Es geht also um einen Typus Mensch, den man bislang noch nicht in ausreichender Zahl und Ausprägung vorgefunden hatte. Es geht um die Utopie eines sozialen, moralischen und weltoffenen Menschtyps, die jetzt Wirklichkeit werden soll.
SPRECHER:
Lenin und anderen führenden Parteimitglieder wollen den Neuen Menschen so bald wie möglich und nötigenfalls auch künstlich erschaffen, um mit den Zielen der Revolution vorankommen. Die Methoden, mit denen sie diese gezielte Beeinflussung der Menschen, Social Engineering, betreiben, sind sowohl produktiv als auch repressiv. Ganz vorne bei den produktiven Maßnahmen stehen die Alphabetisierung der breiten Bevölkerungsmasse und enge Bildungswege für junge Menschen an neu eingerichteten Arbeiter- und Bauernfakultäten.
O-TON 4 Klaus Gestwa
Ende der 30er-Jahre gab es tatsächlich schon mehrere Millionen Industriearbeiter, die tatsächlich diesem neuen sowjetischen Regime eine feste soziale Basis gegeben haben und auch Hunderttausende von Spezialisten, die über diese stalinistischen Bildungsprogramme dann auch in Führungspositionen aufgestiegen sind.
SPRECHERIN
Auch die Kultur steht im Dienst der Erschaffung eines neuen Menschen. In Literatur, bildender Kunst und Theater stellt die neu erfundene Strömung des sozialistischen Realismus die Sowjetgesellschaft und ihre Bürger so dar, wie sie werden sollen.
O-TON 5 – Maja Soboleva
Und sozialistische Propaganda war omnipräsent. […] Auch die öffentlichen Organisationen einschließlich der Organisationen für die Jugend, das waren so jugendliche kommunistische Organisationen wie Pioniere, Komsomol, und so weiter gab es auch für kleine Kinder eine Organisation für Kinder von sieben bis zehn Jahre. Das waren die sogenannten Oktjabrjate, die Kinder des Oktobers, also ganz junge Leninisten.
SPRECHER:
Maja Soboleva, außerplanmäßige Professorin am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg, ist in den späten Jahren der Sowjetunion aufgewachsen und forscht seit ca. 20 Jahren in Deutschland.
SPRECHERIN:
Der sozialistischen Umformung kann niemand entrinnen. Auch nicht die, die die Partei eigentlich aus der neuen Gesellschaft ausschließt. Denn während sich die Sowjetbürger mit sozialistischer Literatur bilden und Massensportfeste auf dem roten Platz feiern, werden diese Ausgestoßenen in Arbeitslagern „umerzogen“ – den Gulags.
SPRECHER:
„Perekovka“, „Umschmiedung“ nennt die Propaganda euphemistisch diesen Prozess, der aus ehemaligen Großbauern, „Kulaken“, Verbrechern oder ganzen unerwünschten Ethnien neue Menschen, also rechtschaffene sowjetische Bürgerinnen und Bürger machen soll. Neben Zwangsarbeit sollen Bildungsmaßnahmen und Kulturprogramm die Umerziehung abrunden. Die Häftlinge verfassen Berichte oder veranstalten Theaterstücke, nachdem sie stundenlang schwerste körperliche Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen verrichtet haben.
SPRECHERIN:
Ein Vorzeigeprojekt der Sowjetunion in den frühen 30er-Jahren ist der Bau des Belomor, ein 227 km langer Kanal von der baltischen zur weißen See, der tausende Todesopfer fordert und in nur 20 Monaten fertiggestellt wird.
SPRECHER:
Im Jahr 1933 reist eine Gruppe sowjetischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter der Leitung des Autors Maxim Gorkij in das Arbeitslager, um die Insassen zu befragen und über ihr Leben vor und in dem Lager zu schreiben. Der Sammelband, der sich in englischer Übersetzung auch an das Ausland richtet, schildert glühend die erstaunliche Umformung der Zwangsarbeiter zu guten Sozialisten: der Kulaken, Diebe und Prostituierten, die in der Arbeit und der Gemeinschaft einen neuen Sinn finden und zu Höchstleistungen beflügelt werden. Die literarische Gruppe zeichnet ein glänzendes Bild davon, was wir heute als ein System des Schreckens kennen.
O-TON 6 – Klaus Gestwa
Ich bezeichne des Gulag-System als den Hades der stalinistischen Industriezivilisation. Von 1928 bis 1956 mussten etwa 18 Millionen Menschen diesen Hades durchlaufen. Wir wissen anhand der Statistiken, dass vermutlich zwei Millionen Menschen ihre Zeit im Gulag nicht überlebt haben. Viele andere waren gesundheitlich und auch psychisch dauerhaft geschädigt durch ihre brutalen Lagererfahrungen. Und das ist etwas, was natürlich ganz massiv auf die weitere Sowjetgeschichte sich ausgewirkt hat.
SPRECHERIN:
Die Angst, als Klassenfeind gemeldet und in ein Arbeitslager deportiert zu werden, ist ebenso gegenwärtig wie es die Denunzianten sind. Denn die oberste Loyalität der Menschen soll nicht mehr den Freunden und Verwandten gehören, sondern dem sowjetischen Staat und – bald nach Lenins Tod – speziell Stalin, der sich als Übervater der UdSSR inszeniert.
SPRECHER:
Das berühmteste Beispiel ist wahrscheinlich das Leben des Pavlik Moroz, ein Bauernjunge, der im Jahr 1932 seinen Vater anzeigt, weil dieser Getreide vor den Behörden versteckt. Während der Vater also inhaftiert, und später, wie man heute weiß, bei einer Massenerschießung hingerichtet wird, erschlagen Pavliks Verwandte den Jungen für seine Denunziation. Dieses Schicksal macht ihn zu einer Art Märtyrer und zum Helden einiger Büchern und später auch Filme. Erst in den 80er Jahren wird im gelockerten politischen Diskurs offengelegt, wie sehr sich die Kinder der Sowjetunion von dieser Geschichte unter Druck gesetzt fühlen.
SPRECHERIN:
Doch haben all diese Maßnahmen den gewünschten Effekt und produzieren tatsächlich eine neue Art von Mensch? Das beschäftigt auch den Westen, der noch vor der Sowjetgesellschaft untersucht, wie der tatsächlich existierende Sowjetmensch nun tickt. 1958 analysiert der Osteuropaforscher Klaus Mehnert erstmals auf einer Reise die Einwohner der UdSSR und konstatiert in seinem Buch „Der Sowjetmensch“:
SPRECHER:
Die sowjetische Umerziehung der Menschen habe schon angesetzt, doch wenn man am glänzenden sowjetischen Lack kratzt, so Mehnert, stecke darunter immer noch der biedere Russe von früher. Also – die ganze sozialistische Umerziehung fruchtlos?
SPRECHERIN:
Eine Forschergruppe aus Harvard sieht das anders. Sie hat seit 1945 Migrantinnen und Migranten aus der UdSSR befragt und stellt fest, dass nicht einmal an denen, die die Sowjetunion aus politischer Überzeugung heraus verlassen haben, die ideologische Erziehung spurlos vorbeigegangen ist.
O-Ton 7 Klaus Gestwa:
Also da hatte man schon die Idee, dass aufgrund dieses propagandistischen Trommelfeuers, dieser Vereinnahmung in den sozialen Praktiken es für die Sowjetmenschen unheimlich schwierig gewesen war, sich dem zu entziehen. Also diese Formierung des Sowjetmenschen hatte tatsächlich eine gesellschaftliche Tiefenwirkung, die wir nicht unterschätzen sollten.
SPRECHER:
Das Jahr 1961: 22. Kongress der Kommunistischen Partei. Nikita Chruschtschow verkündet, dass die UdSSR erfolgreich einen neuen Menschen, den sowjetischen Menschen geschaffen habe. Dieser neue Mensch, in den 1930er Jahren ein mutiger und aufopfernder Revolutionär, ist nun der Erbauer des Kommunismus. Ist die Utopie also Wirklichkeit geworden? Die Sowjetunion beantwortet diese Frage mit „Ja“.
O-TON 8 Maja Soboleva
Und dann 1976 berichtete Breschnew auf dem fünfundzwanzigsten Parteitag, dass der sowjetische Mensch das wichtigste Ereignis oder Ergebnis der letzten 60 Jahre sei, also das heißt, das wurde per Dekret festgestellt.
SPRECHERIN:
Als sich die Versprechungen nicht erfüllen, dass bald der ersehnte Zustand des Kommunismus erreicht ist, tritt die Sowjetgesellschaft in den 70er Jahren in ihre konsumistische Phase ein: Politische Apathie wird mit steigendem Lebensstandard belohnt.
O-TON 9 Klaus Gestwa:
Es gab dann seit den 60er-Jahren die Massenmobilisierung, der private Pkw erlaubte Möglichkeiten, sein Umfeld zu erweitern. Es gab Urlaubsreisen, es gab Konsum, und damit wurde der neue Sowjetmensch nicht immer nur als Asket, als Arbeiter und als Enthusiast dargestellt, sondern eben auch als Konsument, als jemand, der sein Freizeitleben genießt und der sich aus den Zumutungen des sowjetischen Alltags immer wieder zurückzieht in sein eigenes Privatleben
SPRECHER:
Mit dieser neuen Lebensrealität wandelt sich das, was unter „Sowjetmensch“ verstanden wird. Aus dem glänzenden, moralisch überlegenen Sozialisten wird zunehmend ein politischer Mitläufer.
SPRECHERIN:
In den 80er Jahren beantworten einige sowjetische Schriftsteller die Frage nach der Existenz des Sowjetmenschen mit „Ja, leider“. Der Autor und Dissident Alexander Sinowjew macht den Begriff des „Homo Sovieticus“, und die Abkürzung „Homosos“, mit seinem gleichnamigen Roman populär.
ZITATOR:
„Mein Verhältnis zu diesem Wesen ist zwiespältig: ich liebe und hasse, achte und verachte es gleichzeitig, bin von ihm entzückt und entsetzt zugleich. Selbst ein Homosos, bin ich schonungs- und mitleidlos in seiner Darstellung. Richtet uns, denn ihr selbst werdet von uns gerichtet werden!“
SPRECHERIN:
– so übersetzt G. von Halle Sinowjews Vorwort. Der Homo Sovieticus ist dem Roman nach ein Opportunist und Zyniker, der nach außen hin ideologiekonform und autoritätstreu ist, aber das System für seine egoistischen Bedürfnisse ausnutzt und sich ansonsten ins Private und ins Nichtstun zurückzieht.
SPRECHER:
Die Verniedlichungsform „Homosos“, die auch „Menschensauger“ bedeutet, zeigt, dass Sinowjew die Utopie eines neuen sozialistischen Menschen, der eine bessere Welt aufbauen sollte, als gescheitert erachtet.
ZITATOR:
„Der Homosos ist ein ziemlich widerliches Geschöpf. Das weiß ich von mir selbst. Als ich noch in der Sowjetunion lebte, träumte ich davon, in einem demokratischen Staat zu leben. Trittst in irgendeine Partei ein oder gründest eine eigene, gehst auf Demonstrationen, nimmst an Streiks teil, prangerst an! Kein Leben – eine Pracht! Nachdem ich einige Zeit im Westen gelebt hatte, änderte ich die Richtung meiner Träume um hundertachtzig Grad. Jetzt träumte ich davon, in einem gut funktionierenden Parteistaat zu leben, in dem linke Parteien verboten sind, Demonstrationen auseinandergetrieben und Streiks niedergeschlagen werden. Mit einem Wort, nieder mit der Demokratie! Warum ich davon träumte? Eben weil ich – ein Homosos bin.”
O-TON 10 Maja Soboleva:
Und würde ich sagen, dieser Definition liegt die Annahme zugrunde, dass sich das fehlerhafte soziale kanonisches System des realen Sozialismus in der mangelhaften Struktur des Charakters und der Mentalität des sowjetischen Menschen reproduzieren. […]Also wir haben so wir sehen, dass der Homo Sovieticus ein äußerlich ambivalenter Begriff ist, ja, je nach Blickwinkel und was denke ich, glaube beide Versionen diesen Menschentypus haben, existiert sowohl die positive Reaktionen als auch die negativer und ist ein gelungenes, würde ich sagen. Und die zweite ist ein misslungenes Ergebnis dieses Social Engineering.
SPRECHER:
In den späten 80er Jahren beginnt dieses politische System zu bröckeln. Es ist die Zeit von Glasnost und Perestroika, in der der starre Diskurs aufweicht und zunehmend Platz macht für politische Diskussionen und das Gefühl von Enttäuschung über die Entwicklung der Sowjetunion.
SPRECHERIN:
In der Sowjetunion spricht man nun von „Sowok“ eine weitere Verniedlichungsform von „Homo Sovieticus“, die aber im Russischen auch „Kehrschaufel“ heißt, also das, was es braucht, um Dreck aufzukehren. Die sowjetische Identität wird mit diesem Wortspiel buchstäblich zu etwas Schmutzigem.
O-TON 11 Klaus Gestwa
Es wird tatsächlich auf die Menschen selbst bezogen. Das hat auch etwas mit einem masochistischen Selbsterniedrigungsdiskurs zu tun, der in der Perestroika-Zeit tatsächlich auch als kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen sozialen Dasein eine Breitenwirkung entfaltet hat.
SPRECHER:
Diese Auseinandersetzung bringt beispielsweise das Levada-Zentrum hervor, das zu Meinungen und Eigenschaften in der UdSSR forscht. Auch diese Umfragen ergaben 1989, dass sich durch die sowjetische Bevölkerung bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen ziehen:
O-TON 12 Klaus Gestwa:
Und die beiden wichtigsten, die damals aufgefallen sind und die auch in die heutige Zeit hineinschwappen, die jetzt immer wieder große Aufmerksamkeit finden, das ist zum einmal die Staatszentriertheit, also eine paternalistische Haltung gegenüber dem Staat, dass der Staat doch bitte alle Probleme lösen soll für die Menschen. […] Und der zweite Punkt gilt vor allen Dingen für die russische Gesellschaft. Das ist der imperiale Komplex, dass sich die Meinung festgesetzt hat, dass Russland als Großmacht, als geachtete, respektierte Großmacht existieren müsse.
SPRECHERIN:
Als 1991 die Sowjetunion zerbricht, ist davon jedoch wenig zu spüren. Das Imperium wird mit Jubel verabschiedet, nachdem Millionen von Menschen auf die Straße gegangen sind.
O-TON 13 Maja Soboleva:
Viele dieser sowjetischen Intelligenzia, die in den Jahren der Sowjetunion entstand, ist irgendwann anti-sowjetisch geworden. Aus der historischen Perspektive erstreckt sich die Spannweite für den Begriff Homo sovieticus zwischen noch nicht und nicht mehr. Das heißt, man versuchte jahrzehntelang aus den nichtsowjetischen Menschen, die noch vor der Revolution gelebt haben, die sowjetischen zu formen und am Ende, am Ende dieser Umformung, stand dann irgendwie der anti-sowjetische Mensch.
SPRECHER:
Es scheint in diesem Moment der Geschichte, als hätten sich die Sowjetmenschen vom Imperialismus getrennt und wollten gar keine Supergroßmacht mehr sein. Es wirkt, als habe der Sowok in einer Zeit der Wirrungen, der zusammengebrochenen Staatsleistungen und ausbleibenden Löhnen gelernt, wieder aktiv und eigenständig zu werden.
SPRECHERIN:
Doch mehr als 30 Jahre später sprechen viele immer noch vom Homo Sovieticus, auch um die aktuelle politische Kultur in Putins Russland zu beschreiben.
O-TON 14 Maja Soboleva:
Dieses Phänomen sowjetischer Mensch hat immer noch politische Relevanz in der Hinsicht, dass die sowjetische Menschen noch nicht alle ausgestorben sind, das heißt es in einer Schicht der gegenwärtigen Gesellschaft in Russland die sowjetischen geprägt worden ist […] Diese passive Mehrheit, die so erzogen worden sind, dass sie keine Entscheidungen treffen dürfen oder können und die dazu glaube ich, zum großen Teil verantwortlich ist, was jetzt passiert, weil das sind eben die Leute, die nicht gewohnt sind, Entscheidungen zu treffen, denke ich. Das ist die sowjetische Erbschaft, die immer noch eine Auswirkung auf das politische Leben in Russland hat.
SPRECHER:
Wenn der Westen heute vom „Homo Sovieticus“ spricht, dann meint er primär die russische Bevölkerung. Doch in den ehemaligen Sowjetstaaten steht dieser Begriff auch für die Russifizierung, die in der UdSSR „sowjetisch“ ab den 30er Jahren mit „russisch“ gleichgesetzt hat. Im postsowjetischen Diskurs wird dieses aufgedrückte Erbe auch sehr kritisch gesehen.
SPRECHERIN:
Kann man aber mit diesem Begriff, in dem Autoritätshörigkeit und Imperialismus mitschwingen, wirklich das Russland der Putin-Herrschaft erklären?
O-TON 15 Klaus Gestwa:
Wir hier in Deutschland nehmen den Homo Sovieticus immer sehr schnell und sehr vorschnell. […] Also das ist ein Interpretationsangebot, was wir übernehmen, um uns aus dieser komplexen und sehr komplizierten Situation, so wie sie sich uns in Russland darstellt uns ein einfaches Bild zu machen.
SPRECHER:
Putins Propaganda macht sich verschiedene Bezüge zur Sowjetzeit zu Nutze. Schon in den Nullerjahren zielt sie auf den imperialen Komplex ab, den nach wie vor viele in der Bevölkerung verinnerlicht haben, und nährt und mobilisiert die Minderwertigkeitsgefühle in der russischen Gesellschaft. Mit der Digitalisierung und den sozialen Medien stehen heute für ideologische Beeinflussung ganz andere Mittel zur Verfügung als zu Zeiten der Sowjetunion.
SPRECHERIN:
Trotzdem ist es schwierig, diesen Begriff als Erklärungsschablone für die russische Gesellschaft zu nehmen, ohne ihn zu hinterfragen. Denn damit unterstellt man diesen Menschen auch unabänderliche Eigenschaften und dass sie sich gar nicht weiterentwickeln können.
O-TON 16 Klaus Gestwa:
Dann hat das natürlich etwas mit einer hoffnungslosen Diagnose zu tun, die letztlich, wenn man das kritisch sehen möchte, natürlich auch schon so eine rassistische Grundierung hat. Also die Russen waren immer so. Das baut natürlich auf überlieferten Stereotypen auf, die wir schon aus der Zeit des Kalten Krieges haben.
SPRECHER:
Und man schließt sich Putins Propaganda an, dass die russische Bevölkerung sich aufgrund ihrer sowjetischen Vergangenheit von dem Rest der Menschheit unterscheiden müsse und damit einen Sonderstatus habe.
SPRECHERIN:
Russland war und ist eine Gesellschaft, die aus einer Vielzahl an Ethnien und Kulturen besteht. Das kann man nur schwer mit einem solchen Sammelbegriff umschreiben. Aber würden sich Russen heute noch selbst so bezeichnen? Maja Sovoleva verwendet die Bezeichnung “Homo Sovieticus” dabei etwas anders:
O-TON 17 Maja Soboleva
Nicht jeder versteht sich selbst als ein Homo Sovieticus, ich schon. Ich denke manchmal ja, ich bin so ein sowjetischer Mensch in dem Sinne, dass ich also dass ich internationalistisch bin. Ich bin auch pazifistisch. Ich bin also feministisch.
SPRECHER:
Soboleva versteht sich als Sowjetmensch in dem Sinne, wie er in den 20er Jahren geschaffen werden sollte. Zwar wäre auch sie in der ausgehenden Sowjetunion noch ideologisch indoktriniert worden, aber sie habe auch gelernt, über ihr Sowjetischsein kritisch nachzudenken.
O-TON 18 Maja Soboleva
((Und wenn man so selbst reflektiert, ja, dann muss man auch über die Begriffe nachdenken können, die man nicht selbst in sein Lexikon aufgenommen hat. Ja, und das ist natürlich der Begriff Homo Sovieticus.)) Einerseits ist es natürlich ein geschichtlicher Zufall, wo du geboren bist und welche Zeit und so weiter. Aber andererseits bist du immer noch frei, glaube ich, dich der geschichtlichen Situation gegenüber zu positionieren.
SPRECHERIN:
Die Frage ist nicht, ob der Begriff des Homo Sovieticus noch immer passt, sondern, zu welchem Zweck ihn wer verwendet. Als pauschale Erklärungsschablone –
SPRECHER:
als historische Analysekategorie, die sich auf Kontinuitäten richtet,
SPRECHERIN:
als kritische Selbstbezeichnung von ehemaligen Sowjetbürgerinnen und -bürgern,
SPRECHER:
als Fingerzeig für russische Beeinflussung damals wie heute
SPRECHERIN:
oder gar als mobilisierendes Propagandamittel für Putinanhänger.