Eher unpolitisch – so kann man die Gewinnerinnen und Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises zusammenfassen, zumindest dann, wenn die Preise der Kritikerjury im Fokus stehen. Gute Bücher, herausragende sogar, aber eben nicht die politischen und das, obwohl der Anteil an politischen Büchern unter den nominierten Titeln sehr hoch war.
Die Kraft der Fantasie, der Wert der Freundschaft und echter Begegnungen, die Möglichkeiten eines Perspektivwechsels und des Humors – das sind die Themen der Gewinnertitel. Es sind die trostspendenden Bücher, die die Kritikerjury auswählte.
Und das, obwohl Jan Standke, Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur, auf der Preisverleihung betonte: „Der Deutsche Jugendliteraturpreis ist nicht nur die wichtigste Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland, er ist auch ein gesellschaftliches Bekenntnis zu einer Literatur, die jungen Menschen etwas zutraut. Denn Kinder- und Jugendliteratur ist keine pädagogische Beilage, sondern sie ist Weltdeutung in Sprache und Bild.“
Auffällig dabei ist außerdem der immer stärker werdende Trend zu einem größeren und vielfältigeren Bildanteil durch alle Kategorien hinweg: mehr Illustration und Gestaltung im Kinder- und Sachbuch und zum Teil auch im Jugendbuch.
Ein Bilderbuch ganz ohne Worte
Auch Jan Standke hob die Wichtigkeit von Bildern hervor: „Lesen ist eine Zukunftskompetenz. Mehr noch: Lesen ist eine Überlebenskompetenz in einer Welt, die sich rasant verändert. Politisch, gesellschaftlich, technologisch und in der die Bilder immer wichtiger werden. Die herausragenden Bilderbücher und Illustrationen, die heute unter den Nominierten sind, zeigen: Lesen heißt auch sehen. Wer Bilder versteht, lernt zu unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Inszenierung.“
Eine wichtige Kompetenz. Und Bilder lesen lernen, das fängt schon im Kleinkindalter an. So wie bei „Regentag“ vom Illustrator Jens Rassmus, Gewinner in der Kategorie Bilderbuch.
„Regentag“ ist ein herausragendes Bilderbuch ab 4 Jahren. Darin langweilen sich zwei Kinder zuhause. Die beiden und ihre Umgebung sind zunächst in schwarzen Linien gezeichnet. Als sie langsam ins Spiel finden, entfalten sich kräftige Acrymalereien auf den Seiten, die die Fantasiewelt der Kinder in satten Farben zeigt. Ein Buch, das die Kraft und Wohltat von Fantasie feiert und Kinder in ihrem Spiel ernst nimmt.
Kindern etwas zumuten
In der Kategorie Kinderbuch gewinnt der Roman „Himmelwärts“ von Autorin Karen Köhler und Illustratorin Bea Davies. Er richtet sich an Kinder ab 10 Jahren und mutet ihnen die intensive Auseinandersetzung mit dem Tod zu, denn die Mutter des einen Mädchens ist gestorben.
Ernste Themen sind wichtig für Kinder, findet Iris Kruse, die Vorsitzende der Kritikerjury: „Der Zumutungsdiskurs ist sehr wichtig beim Nachdenken über die Frage ’Was ist eigentlich gute Kinderliteratur?‘. Entscheiden wir uns dafür, dass Kindern alles zuzumuten ist, was das Leben eben ausmacht, dann werden Gestaltungsfragen und Fragen des ‚Wie‘ des Erzählens sehr groß.“
„Himmelwärts“ mutet Kindern auf einfühlsame und literarische Weise die Auseinandersetzung mit Tod und Trauer zu, die nun einmal auch Lebensrealität für viele Kinder ist. Und tatsächlich nimmt sich der Roman auch den Raum für eine kunstvolle Gestaltung. Illustratorin Bea Davies fügt dem Text größtenteils abstrakte, aber sehr stimmungsvolle Bilder in verschiedenen Drucktechniken hinzu.
„Himmelwärts“ erzählt vom Erinnern, vom Forschen als kindlicher Lieblingsbeschäftigung, von Freundschaft und der Verbindung mit dem, was mit dem Verstand nicht zu greifen ist. Denn die beiden Freudinnen versuchen Kontakt zu Tonis verstorbener Mutter aufzunehmen.
Neue Perspektiven
Torsten Casimir, Sprecher der Frankfurter Buchmesse, stellte heraus, wie wichtig eine Freiheit in Form und Themen in der heutigen Zeit vor allem für die Jungendliteratur ist.
„Der Kinder- und Jugendliteratur geht es eigentlich sehr gut und sie wächst. (…) aber es gibt natürlich in autokratischen Systemen den Versuch, selbst darüber entscheiden zu wollen, was Kinder lesen sollen und Jugendliche und was nicht. Und wir haben hier gerade gehört, wie widersinnig das ist. Gerade Jugendliteratur ist nicht Pädagogik und ist nicht betreutes Lesen, sondern es ist eben Literatur und es führt in die Weite und es schlägt uns vor, neue Sichten auf die Welt zu bekommen, alternative Sichten.“
Die Welt anders sehen – das können auch die Preisträgerinnen in der Kategorie Sachbuch: „Läuse – Handbuch zum Überleben auf Menschen“ ist ein humorvolles Buch von Berta Páramo. Ein Buch, das sich als Survival-Guide explizit an lesende Läuse wendet.
Kinder, die dieses Buch trotzdem lesen, sind sozusagen selbst Schuld, lernen aber eine ganze Menge dabei. Wissensvermittlung mit einem ganz besonderen Perspektivwechsel – das schafft dieses Buch auf sehr witzige Weise.
Freundschaft erzählt als Chat
Eine Überraschung ist übrigens der Gewinnertitel „Und die Welt, sie fliegt hoch“ von Sarah Jäger in der Kategorie Jugendbuch. Darin geht es um die entstehende Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen in Chat-Form.
Neben anderen herausragenden literarischen und politischen Jugendromanen, hat hier ein Buch gewonnen, das mit seinem ungewöhnlichen gestalterischen Konzept Neues wagt und Lesende gleichzeitig etwas ratlos zurücklässt. Denn die Illustratorin Sarah Maus hat das Jugendbuch illustriert.
In schwarzen Linienzeichnungen stellt sie die beiden Schreibenden in einer Art Parallelwelt als komischen Vogel und Astronauten dar und verdeutlicht so die Ambivalenz zwischen Maskierung und Echtheit. Nominiert war das Buch auch von der Jugendjury.
Werden vier der Preise von einer erwachsenen Kritikerjury vergeben, gibt es auch eine Jugendjury, die einen zweiten Jugendroman auszeichnet. Die Jugendjury, bestehend aus sechs Leseclubs, entschied sich für einen Roman mit ganz klarem politischem Thema, nämlich dem Klimaaktivismus.
„No Alternative“ von Dirk Reinhardt erhielt den Preis der Zielgruppe selbst und widmete ihn den Klimaaktivist:innen, mit denen er in der Vorbereitung auf sein Buch gesprochen hat.
„Empathisch und gewissenhaft"
Die Jugendjury begründete ihre Wahl so: „Wir verleihen den Preis der Jugendjury an Dirk Reinhardt, weil er es versteht, sich mit den Stimmen einer jungen Generation und dessen Einsicht auseinanderzusetzen. Empathisch und gewissenhaft durchleuchtet er die verschiedenen Perspektiven im Umgang mit dem Klimawandel und bietet einen ganz neuen und wichtigen Blick auf Klimaaktivismus, der Veränderung nicht nur fordert, sondern auch erwartet.“
Insgesamt war dieser Jahrgang ein starker, ausgezeichnet durch hohe literarische und gestalterische Qualität, starke Stimmen und Mut zu neuen Formen.