
NachDenkSeiten – Die kritische Website Wie Israel während des Gaza-Kriegs die Apartheid gesetzlich verankert hat
Von westlichen Ländern immer noch als „einzige Demokratie in Nahost“ gelobt, haben israelische Parlamentarier innerhalb von nur zwei Jahren über 30 Gesetze verabschiedet, die die Rechte der Palästinenser einschränken und abweichende Meinungen bestrafen, wie ein neuer Bericht zeigt. Von Orly Noy.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Seit über zwei Jahren ist das öffentliche Leben in Israel in einen dichten, verwirrenden Nebel gehüllt. Es gab eine endlose Abfolge von Krisen, Konflikten und Ängsten im In- und Ausland: den Schock des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober und Israels völkermörderische Rachekampagne gegen Gaza, den Kampf um die Rückkehr der Geiseln und gegen die Verunglimpfung ihrer Familien durch den Staat, die unbesonnenen Konfrontationen mit dem Iran. Alles zusammen hat die israelische Gesellschaft in einen Zustand der kollektiven Starre versetzt und die Tiefe des Abgrunds verschleiert, in den wir abstürzen.
Das Gleiche kann man jedoch nicht von unseren Parlamentariern sagen. Wie ein beunruhigender neuer Bericht des in Haifa ansässigen Rechtszentrums Adalah zeigt, haben sie das Chaos der letzten zwei Jahre genutzt, um mehr als 30 neue Gesetze zu verabschieden, die die Apartheid und die jüdische Vormachtstellung festigen. Damit reihen sie sich in die bestehende Liste von Adalah mit mittlerweile mehr als 100 israelischen Gesetzen ein, die palästinensische Bürger diskriminieren.
Eine der zentralen Feststellungen des Berichts ist ein umfassender Angriff auf die Freiheit der Meinungsäußerung, des Denkens und des Protests in vielen Bereichen. Darunter fallen Gesetze, die die Publikation von Inhalten verbieten, die „die Ereignisse vom 7. Oktober leugnen“, wie von der Knesset festgelegt, und sie schränken die Ausstrahlung kritischer Medien ein, die „der Sicherheit des Staates schaden“.
Ein weiteres Gesetz erlaubt dem Bildungsministerium, Lehrkräfte zu entlassen und Bildungseinrichtungen die Finanzierung aufgrund von Ansichten zu entziehen, die es als Ausdruck der Unterstützung für oder Anstiftung zu einer terroristischen Handlung oder Organisation betrachtet. Und begleitet von einer staatlich geführten Kampagne zur Ausweisung internationaler Solidaritätsaktivisten, verbietet ein drittes Gesetz ausländischen Staatsangehörigen die Einreise ins Land, wenn sie israelkritische Stellungnahmen abgegeben oder internationale Gerichte aufgefordert haben, gegen den Staat und seine Vertreter vorzugehen.
Aber das vielleicht gefährlichste Gesetzesprojekt ist eines, das sich gegen Bürger richtet, die lediglich Informationen aus Quellen konsumieren wollen, die dem Staat nicht gefallen. Nur einen Monat nach dem 7. Oktober verabschiedete die Knesset eine auf zwei Jahre befristete Verordnung – die kürzlich um weitere zwei Jahre verlängert wurde –, die den „systematischen und kontinuierlichen Konsum von Publikationen einer terroristischen Organisation” unter Strafe stellt und mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr ahndet. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber kriminalisiert nun Handlungen, die ausschließlich im privaten Bereich einer Person stattfinden.
Laut den Erläuterungen zum Gesetzentwurf basiert dieser auf der Behauptung, dass „die intensive Auseinandersetzung mit Terrorpublikationen bestimmter Organisationen einen Indoktrinationsprozess bewirken kann – eine Form der selbstverschuldeten ‚Gehirnwäsche‘ –, der den Wunsch und die Motivation, einen Terrorakt zu begehen, auf ein sehr hohes Maß steigern kann“.
Das Gesetz legt jedoch nicht fest, was unter „intensiver Exposition“ oder „kontinuierlichem Konsum“ zu verstehen ist, sodass die Dauer und die Schwelle völlig unbestimmt bleiben.
Es klärt auch nicht, mit welchen Mitteln die Behörden feststellen können, dass eine Person verbotene Inhalte konsumiert hat. Wie sollen Beamte in der Praxis wissen, was jemand privat ansieht? Wie der Adalah-Bericht feststellt, würde die Lokalisierung potenzieller Verdächtiger selbst Spionageoperationen, eine Überwachung der gesamten Bevölkerung und die Kontrolle von Internetaktivitäten erfordern.
Während die verbotenen „Terrorpublikationen“ derzeit nur Materialien der Hamas und des IS umfassen – eine Liste, die zu erweitern der Justizminister bereits seine Absicht bekundet hat –, haben die Gesetzgeber sich auch bemüht, den Zugang zu weiteren Informationsquellen zu unterbinden, die, Gott bewahre, die israelischen Bürger dem vollen Ausmaß der Verbrechen gegen die Menschheit aussetzen könnte, die ihre Armee in Gaza begangen hat und weiterhin begeht. Daher das sogenannte „Al-Jazeera-Gesetz”, das die israelische Öffentlichkeit von einer der weltweit vertrauenswürdigsten Informationsquellen über die Ereignisse in Gaza abgeschnitten hat.
Ebenso erhebt das Gesetz gegen die „Leugnung der Ereignisse vom 7. Oktober“ die Anschläge nicht nur zu einem Verbrechen, das mit dem Holocaust vergleichbar ist, sondern reicht weit über den Bereich des Handelns hinaus in den Bereich des Denkens und der Meinungsäußerung. Es unterscheidet nicht zwischen direkten Aufrufen zu Gewalt oder Terrorismus auf der einen Seite, die bereits verboten sind, und der bloßen Äußerung einer politischen Position, einer kritischen Darstellung oder Zweifel gegenüber der offiziellen Darstellung des Staates auf der anderen Seite.
„Das Gesetz ist konzipiert, um Angst zu schüren, die öffentliche Debatte zu ersticken und Diskussionen über ein Thema von öffentlichem Interesse zu unterdrücken“, stellt Adalah fest. „Es bleibt unklar, welche Handlungen den vom Gesetz verbotenen Akt der ‚Leugnung‘ darstellen, zumal der Staat bis heute weder eine offizielle Untersuchungskommission zu den Anschlägen vom 7. Oktober eingesetzt noch eine ‚offizielle Darstellung‘ der Ereignisse dieses Tages veröffentlicht hat.“
Der Bericht von Adalah gibt einen guten Hinweis darauf, in welche Richtung sich Israel bewegt. Auch wenn es den Anschein hat, als befänden wir uns bereits am Grund eines Abgrunds, gibt es immer noch einen Abgrund jenseits des Abgrunds – einen, der zu neuen Gräueltaten einlädt und auf den wir mit Höchstgeschwindigkeit zusteuern.
Diese verabscheuungswürdigen Gesetze haben nicht Hunderttausende auf die Straße getrieben, nicht einmal unter denen, die einst behaupteten, um das Schicksal der „israelischen Demokratie” zu fürchten. Tatsächlich wurden einige dieser Gesetze mit Unterstützung jüdischer Oppositionsparteien in der Knesset verabschiedet. Die Illusion einer Demokratie nur für Juden hat noch nie so grotesk und gefährlich ausgesehen wie heute.
Der Abgrund jenseits des Abgrunds
Von den ersten Tagen des Krieges an verletzte die israelische Regierung schwerwiegend die Grundrechte der Meinungs- und Protestfreiheit. Am 17. Oktober 2023 kündigte der damalige Polizeichef Yaakov Shabtai eine „Null-Toleranz“-Politik gegenüber „Aufwiegelung“ und Protesten an, und monatelang wurde jeder Versuch, gegen die Zerstörung Gazas durch die israelische Armee zu demonstrieren, mit eiserner Faust beantwortet.
Die Welle neuer drakonischer Gesetze geht aber noch weiter. Neben der Schaffung der rechtlichen Infrastruktur für die systematische Verfolgung von Andersdenkenden, sowohl jüdischen als auch palästinensischen, umfasst sie Maßnahmen, die sich ausdrücklich gegen palästinensische Bürger richten, wie das sogenannte „Gesetz zur Abschiebung von Familienangehörigen von Terroristen”.
Mit diesem Gesetz wurde die Definition des Begriffs „Terrorist“ – eine Bezeichnung, die fast ausschließlich für Palästinenser in Israel verwendet wird – erweitert, um nicht nur Personen einzubeziehen, die in einem Strafverfahren wegen Terrorismus verurteilt wurden, sondern auch Personen, die wegen des Verdachts auf solche Straftaten inhaftiert sind, einschließlich derjenigen, die sich in Administrativhaft befinden. Mit anderen Worten: Personen, die weder angeklagt, geschweige denn wegen irgendetwas verurteilt worden sind.
Gleichzeitig verschärfte die Knesset das ohnehin schon drakonische Verbot der „Familienzusammenführung“, um palästinensische Bürger daran zu hindern, Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen zu heiraten. Auch wurden die Strafen für Palästinenser erhöht, die sich „illegal“ in Israel aufhalten.
Tatsächlich nutzten die Gesetzgeber den Völkermord in Gaza, um ihren seit Langem geführten demografischen Krieg gegen die Palästinenser, einschließlich derjenigen, die innerhalb der Grenzen von 1948 leben, zu eskalieren.
Ein eigenes Kapitel des Berichts von Adalah dokumentiert die schweren Verletzungen der Rechte palästinensischer Gefangener und Häftlinge seit dem 7. Oktober, die laut Zeugenaussagen und anderen Berichten in Folterlagern festgehalten werden.
Die gleiche Gesetzgebungswelle hat auch die Rechte von Kindern schwer verletzt, indem sie „die seit Langem bestehende rechtliche Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Minderjährigen“ bei terroristischen Straftaten aufgehoben hat.
Zusätzlich führt der Bericht detailliert aus, wie die Gesetzgebung palästinensische Bürger durch die Ausweitung des Wehrdienstes als Kriterium für Sozialleistungen und öffentliche Ressourcen benachteiligt. Ebenso benachteiligt sie bewusst palästinensische Flüchtlinge in den besetzten Gebieten durch das Verbot von Hilfsorganisationen wie UNRWA.
Als jemand, der seit Langem mit dem Argument vertraut ist, dass es sinnvoll ist, „die Masken zu entfernen“ und zu zeigen, wie das israelische Regierungssystem wirklich ist – antidemokratisch, rassistisch und in der Apartheid verwurzelt –, sehe ich hier keinen Grund zum Optimismus. Angesichts des offenen Drängens der israelischen Führung in Richtung Faschismus werden nicht nur die am stärksten exponierten und schutzbedürftigen Menschen den höchsten Preis zahlen, sondern ist die Kluft zwischen dem Selbstbild einer Gesellschaft und der Realität genau der Raum, in dem politischer Wandel möglich wird. Wenn sich diese Kluft schließt und die Gesellschaft beginnt, das Bild zu akzeptieren, das ihr im Spiegel entgegenblickt, schrumpft der politische Raum für sinnvolle Veränderungen dramatisch.
Der Beitrag erschien im Original bei +972 Magazine, einem unabhängigen Onlinemagazin, das von einer Gruppe palästinensischer und israelischer Journalisten betrieben wird. Übersetzung aus dem Englischen von Marta Andujo.
Über die Autorin: Orly Noy, eine im Iran geborene israelische Staatsbürgerin, ist Journalistin und Vorsitzende von B’Tselem, dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten.
Titelbild: Shutterstock / Saeschie Wagner
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