Im Gespräch mit Raimund Löw analysiert Stefan Lehne, EU-Experte bei Carnegie Europe, die neuen Machtverhältnisse in Europa nach den Wahlen. Er diskutiert die Schwächen der deutsch-französischen Führungsstärke und den wachsenden Einfluss rechtspopulistischer Kräfte im Europäischen Parlament. Lehne beleuchtet die geopolitischen Herausforderungen Europas, insbesondere im Kontext des Ukraine-Konflikts, und thematisiert die Uneinigkeit innerhalb der EU in Bezug auf den Nahen Osten. Die Suche nach Stabilität in einer unsicheren Welt steht ebenfalls im Fokus.
Die starken Gewinne der rechtsextremen Parteien im Europäischen Parlament stellen neue Herausforderungen für die bestehende proeuropäische Mehrheit dar.
Die politische Unsicherheit in Deutschland und Frankreich gefährdet die EU-Stabilität und die Fähigkeit, dringende geopolitische Herausforderungen angemessen zu bewältigen.
Deep dives
Der Rechtsruck in Europa
Die Wahlen zum Europäischen Parlament führten zu einem bemerkenswerten Anstieg rechtsextremer Abgeordneter, die nun etwa ein Viertel der insgesamt 720 Abgeordneten ausmachen. Trotz dieser Verschiebung bleibt eine proeuropäische Mehrheit, bestehend aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, bestehen. Die Wahlen haben jedoch eine politische Unsicherheit geschaffen, insbesondere in Deutschland, wo die Ampelkoalition geschwächt ist, sowie in Frankreich, wo Präsident Macron inmitten interner Turbulenzen mit Neuwahlen konfrontiert ist. Diese neuen Machtverhältnisse stellen die EU vor Herausforderungen, da eine stärkere Abhängigkeit von nationalistischer Politik in den Mitgliedstaaten zu erwarten ist.
Schwächen der Führungen in Deutschland und Frankreich
Die Schwäche der Führungen in Deutschland und Frankreich wird als ein ernsthaftes Problem für die EU angesehen, da beide Länder traditionell als Motoren der europäischen Integration fungieren. In Frankreich hat die Auflösung des Parlaments durch Macron zusätzliche Unsicherheiten geschaffen, während Deutschland mit internen Konflikten innerhalb der Regierungskoalition kämpft. Diese Lähmung der politischen Vorreiter könnte dazu führen, dass die EU die dringenden Herausforderungen nicht adäquat angehen kann, insbesondere in einer Zeit, in der europaweite Zusammenarbeit unerlässlich ist. Die mangelnde Unterstützung für die Regierungen verstärkt die Notwendigkeit für starke Führungen, um die Stabilität der EU zu sichern.
Veränderungen im Europäischen Parlament
Im Europäischen Parlament hat sich das Machtgefüge zwar verändert, jedoch nicht grundlegend. Die Parteien, die zuvor eine Koalition bildeten, bleiben stark, während die Liberalen und Grünen an Einfluss verloren haben und die EVP nun flexibler Allianzen schließen kann. Dies könnte dazu führen, dass die rechtsextremen Kräfte zwar an Stärke gewonnen haben, aber dennoch uneinheitlich agieren und keinen entscheidenden Einfluss auf die Gesetzgebung der EU ausüben. Ein Teil der rechtsextremen Abgeordneten scheint wenig an der aktiven Mitgestaltung der EU-Politik interessiert zu sein und nutzt ihre Positionen oft für nationale Propaganda.
Europas geopolitische Herausforderungen
Europa steht vor gravierenden geopolitischen Herausforderungen, insbesondere im Kontext des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Während der Drang nach einer stärkeren europäischen Verteidigungsfähigkeit wächst, bleibt die Abhängigkeit von den USA umstritten, was die Einigung auf eine gemeinsame Verteidigungsstrategie erschwert. Gleichzeitig gilt es, zukünftigen nationalistischen und euroskeptischen Strömungen innerhalb der Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, da diese die europäische Zusammenarbeit gefährden können. Die Aufstellung eines neuen mehrjährigen Finanzplans für die EU wird entscheidend sein, um Mittel für Verteidigung, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und den Klimaschutz sicherzustellen.
Gewinne für Konservative und Rechte, Verluste für Liberale und Grüne: Der EU-Experte Stefan Lehne (Carnegie Europe) analysiert im Gespräch mit Raimund Löw die neuen Machtverhältnisse in Europa.