Martin Breul, ein Philosoph und Theologe an der TU Dortmund, erforscht das gute Leben in der Spätmoderne. Er diskutiert die Freiheit zur Selbstgestaltung und die damit verbundene Orientierungslosigkeit. Soziale Interaktionen sind entscheidend für Identität und persönliche Entwicklung. Breul beleuchtet die Verbindung von Kreativität und gesellschaftlichen Herausforderungen, wie der Klimakrise, und verweist auf die Bedeutung von Gemeinschaft und Kooperation für ein erfülltes Leben.
Die Frage nach dem guten Leben ist zentral in der Philosophie und erfordert eine aktive Auseinandersetzung über individuelle Entscheidungen hinaus.
Moderne Freiheit ermöglicht individuelle Lebensgestaltung, birgt jedoch das Risiko von Orientierungslosigkeit und innerem Druck durch Selbstverpflichtungen.
Ein erfülltes Leben hängt stark von der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen ab, die das 'Ich' und 'Wir' in Wechselwirkung setzen.
Deep dives
Die Enthaltsamkeit der modernen Philosophie
Seit der Aufklärung hat sich die Philosophie zunehmend mit der Frage beschäftigt, was ein gutes Leben ausmacht, doch oft bleibt sie in der Zurückhaltung verhaftet. Diese Zurückhaltung begründet sich in der Idealisierung der individuellen Autonomie, wonach jeder Mensch selbst entscheiden soll, was für ihn das gute Leben ist. Die These lautet, dass Philosophen aus der Angst, anderen etwas vorzuschreiben, welche sie selbst regeln sollten, diese wichtige Frage vernachlässigen. Dies ist besonders problematisch in einer Zeit, in der viele Menschen nach Anleitung und Orientierung suchen, während die Philosophie sich gesichtslos und indifferent zeigt und dadurch eine Entfremdung von der gesellschaftlichen Realität erzeugt wird.
Der antike Ansatz zum guten Leben
In der Antike war die Frage nach dem guten Leben zentral für die Philosophie, und es gab lebhafte Debatten zwischen verschiedenen Schulen des Denkens. Aristoteles sah das gute Leben im Streben nach Wissen und der Vernunft, während Epikur es mit Seelenruhe und dem Streben nach Lust verband. Diese unterschiedlichen Ansätze wurden skeptisch betrachtet, weil die Philosophen der Antike den Anspruch hatten, universell gültige Wahrheiten zu vermitteln, anders als viele zeitgenössischen Philosophen. Diese historische Perspektive verdeutlicht die Notwendigkeit und Relevanz einer aktiven Auseinandersetzung mit der Frage des guten Lebens, die über individuelle Privatsphäre hinausgeht.
Der leere Kalender und die Freiheit
Der Leerlauf in persönlichen Kalendersystemen symbolisiert die moderne Vorstellung von individueller Freiheit, wo jeder selbst entscheidet, wie er sein Leben gestaltet. Früher waren Kalender gefüllt mit Anweisungen und heiligen Festtagen, während heute die Verantwortung zur Selbstgestaltung ernst genommen wird. Diese Freiheit ist jedoch ambivalent: Sie ermöglicht persönliche Entfaltung, kann jedoch auch erdrückende Verpflichtungen mit sich bringen, da die Gesellschaft keine vorgegebenen Lebensentwürfe mehr bietet. Dieses Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verpflichtung schafft sowohl Möglichkeiten als auch inneren Druck, das eigene Leben aktiv zu gestalten.
Die Rolle der Gemeinschaft im guten Leben
Eine entscheidende Perspektive in der Diskussion um das gute Leben ist die Bedeutung von Gemeinschaft und sozialen Beziehungen. Ein gutes Leben wird nicht nur durch individuelle Errungenschaften definiert, sondern auch durch die Qualität der Beziehungen, die man pflegt. Der Gedanke, dass das 'Ich' ohne das 'Wir' nicht existieren kann, unterstreicht die Wechselwirkung zwischen persönlicher Identität und sozialen Bindungen. Somit ist das Streben nach einem erfüllten Leben eng mit der Fähigkeit verbunden, sowohl gelingende zwischenmenschliche Beziehungen zu führen als auch aktiv zur Gemeinschaft beizutragen.
Die Herausforderungen der Selbstbestimmung
Die Frage nach dem guten Leben zeigt sich auch in der Herausforderung der Selbstbestimmung, die von äußeren Umständen wie der Geburtsregion oder gesellschaftlichen Erwartungen beeinflusst wird. Während Autonomie und Freiheit als populäre Werte gefeiert werden, bleibt die Frage, wie viel Kontrolle Individuen tatsächlich über ihr Lebensglück haben. Viele äußere Faktoren, wie wirtschaftliche oder soziale Bedingungen, stimmen oft nicht mit den Vorstellungen vom guten Leben überein. Daher ist es wichtig, die gesellschaftliche Dimension der Frage zu betrachten und darauf hinzuarbeiten, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, ein erfülltes Leben zu führen.
Das menschliche Streben nach einem guten und erfüllenden Leben ist seit der Antike ein Thema der Philosophie. Wie die Suche nach Identität und Glück gelingen kann, diskutiert Moderator Jürgen Wiebicke mit dem Philosophen Martin Breul.
Martin Breul (1986) ist Theologe und Philosoph und hat eine Professur für Katholische Theologie mit Schwerpunkt Systematische Theologie an der TU Dortmund inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die theologische und evolutionäre Anthropologie.
Die Frage nach dem guten Leben in der Antike und die weitere Entwicklung (03:44)
Kalender des Lebens: Verständnis der Neuzeit vom guten Leben (05:41)
Die Rolle der Horoskope (08:06)
Warum Gemeinschaft und gelingende Beziehungen wichtige Bestandteile eines guten Lebens sein können (12:05)
Abhängigkeiten und Zufälle: Grenzen der Selbstbestimmung (17:37)
Was es mit der Resonanztheorie von Hartmut Rosa auf sich hat (25:40)
Verfehltes Leben und Entfremdung nach Theodor W. Adorno (29:32)
Plädoyer für den Genuss des schönen Augenblicks (35:10)
Eudaimonia: Tugenden in der Ethik des Aristoteles (40:31)
Ökologie und Klimakrise versus Selbstbestimmung (47:11)
Warum die Frage nach dem guten Leben eine politische Komponente hat (50:48)
Philosophieren Sie mit über die großen Themen unserer Zeit. Lassen Sie uns gemeinsam nachdenken über KI und Klimawandel, über Einsamkeit und Zusammenhalt, über Glück und Glaube. Das philosophische Radio mit Jürgen Wiebicke immer montags um 19:04 Uhr live in WDR 5. https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/philosophisches-radio/index.html
Im nächsten Podcast sprechen wir mit dem Philosophen Jonas Zorn über die Ökonomisierung des Privaten.
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Unser Podcast-Tipp:WDR Lebenszeichen: Der Podcast über das Leben in Familie, Partnerschaft oder im Berufsleben, den Umgang mit Glück und Trauer. Zu einem guten Leben gehört für viele eine gute Schulzeit. "WDR Lebenzeichen" über erfolgreiche, aber bedrohte kirchliche Privatschulen. In der Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/lebenszeichen/kirchliche-privatschulen-100.html
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