Prof. Hans-Werner Sinn, emeritierter Präsident des IFO-Instituts und renommierter Wirtschaftswissenschaftler, diskutiert die Dringlichkeit eines radikalen Wandels in der deutschen Wirtschaftspolitik. Er kritisiert die aktuelle Energiepolitik und deren kurzfristige Lösungen. Außerdem thematisiert er die Herausforderungen des Sozialstaates sowie die Reformunwilligkeit der Parteien. Sinn beleuchtet die Deindustrialisierung und die Probleme der europäischen Automobilindustrie im globalen Wettbewerb. Abschließend wird die Notwendigkeit grundlegender Reformen zur Wettbewerbsfähigkeit betont.
Deutschland steht vor einem dringenden Reformbedarf in der Wirtschaftspolitik, der über die Agenda 2010 hinausgeht.
Die aktuellen Herausforderungen im Energiesektor erfordern eine nachhaltige und kosteneffiziente Politik, anstatt populistischer Lösungen.
Die Notwendigkeit eines grundlegenden Umbaus des Sozialstaates wird ignoriert, während die Politik lediglich populistische Versprechungen macht.
Deep dives
Die Dringlichkeit der wirtschaftlichen Erneuerung Deutschlands
Deutschland steht vor erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen, die nach Ansicht von Experten dringend angegangen werden müssen. Eine toxische Mischung aus hohen Energiekosten, einem überdimensionierten Sozialstaat, ungesteuerter Migration und unzureichenden Investitionen in Bildung und Infrastruktur hat dem Standort Deutschland schwer zugesetzt. Der demografische Wandel verstärkt diese Probleme zusätzlich. Es besteht die Gefahr einer Deindustrialisierung, die bereits eine realistische Bedrohung darstellt, und eine grundlegende Reform der Wirtschaftspolitik ist unerlässlich.
Energiekosten und ihre Auswirkungen auf den Wohlstand
Wettbewerbsfähige Energiekosten sind für den zukünftigen Wohlstand Deutschlands entscheidend, insbesondere bei dem steigenden Energiebedarf neuer Technologien. Die aktuelle Energiewende hat nicht nur zu einem höheren Strompreis geführt, sondern auch die Industrie unter Druck gesetzt, da viele Unternehmen die Kosten nicht mehr tragen können. Die Parteien scheinen die Problematik anzuerkennen, jedoch werden oft lediglich populistische Lösungen vorgeschlagen, anstatt eine nachhaltige und kosteneffiziente Energiepolitik zu etablieren. Ein Beispiel dafür wäre die Diskussion um neue fossile Kraftwerke im Süden Deutschlands und die Möglichkeit, bestehende Atomkraftwerke wieder ans Netz zu bringen.
Umbau des Sozialstaates und Reformbedarf
Der Sozialstaat in Deutschland erfordert einen grundlegenden Umbau, da die aktuellen Strukturen nicht mehr tragbar sind, insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Rentenansprüche der Babyboomer. Viele Parteien scheinen jedoch davor zurückzuschrecken, notwendige Reformen wie Änderungen im Rentenalter oder Rentenniveau anzugehen. Stattdessen werden populäre, aber ineffektive Lösungen präsentiert, um Wählerstimmen zu gewinnen. Die aktuelle Politik ignoriert die Tatsache, dass das System langfristig nicht so fortgeführt werden kann und es auf die Füße fallen wird.
Wachstum und Steuerpolitik: Ein unheilvolles Zusammenspiel
Zahlreiche Parteien versprechen massive Steuererleichterungen, die jedoch oft unrealistisch erscheinen und nicht mit den wirtschaftlichen Herausforderungen in Einklang stehen. Diese Steueranreize erscheinen verlockend, können jedoch die finanziellen Spielräume des Staates belasten und zu einer weiteren Verschuldung führen. Das Vertrauen in die tatsächliche Umsetzung dieser Versprechen ist gering und angesichts der benötigten Investitionen in Infrastruktur und soziale Dienstleistungen erscheint es fraglich, wie realistisch die angekündigten Entlastungen sein können. Flexible Steuer- und Abgabensysteme sind fundamentale Komponenten für zukünftiges Wachstum und Wohlstand.
Wohnen und die Herausforderungen des Immobilienmarkts
Der Wohnungsmarkt in Deutschland leidet unter Übernachfrage und unzureichendem Angebot, was durch Faktoren wie Zuwanderung und das Versäumnis von Neubauten bedingt ist. Während einige Parteien versuchen, die Symptome mit Mietpreisbremsen und anderen Maßnahmen zu bekämpfen, fehlt oft eine langfristige Lösung, die auf einem umfassenden Neubau von Wohnungen basiert. Eine nachhaltige Strategie zur Schaffung von Wohnraum und zur Förderung von Eigentum ist notwendig, um die Wohnungsproblematik nachhaltig zu lösen. Maßnahmen wie die Abschaffung der Grunderwerbsteuer für Selbstnutzer könnten Anreize für den Wohnungsbau schaffen.
Bürokratieabbau und Rolle des Staates
Das Übermaß an Bürokratie in Deutschland wird als Hemmnis für wirtschaftliches Wachstum und unternehmerisches Handeln angesehen. Viele Parteien sprechen zwar von Bürokratieabbau, ignorieren jedoch die Notwendigkeit, den Staat als übergriffigen Akteur zurückzudrängen. Ausgedehnte Regulierungen führen zu Komplexität und Unsicherheit für Unternehmen, was sich negativ auf deren Wettbewerbsfähigkeit auswirkt. Eine klare Strategie zur Reduzierung überflüssiger Bürokratie und zur Förderung von Freiheit für wirtschaftliches Handeln könnte erhebliches Potenzial zur Stärkung der deutschen Wirtschaft entfalten.
bto#277 – Deutschland benötigt einen radikalen Neustart in der Wirtschaftspolitik. Der erforderliche Politikwechsel geht weit über die Reformen der Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder hinaus. Nun haben wir in wenigen Wochen die Möglichkeit, mit unserer Stimme den Weg aus der Krise zu wählen - theoretisch. Doch haben wir diese Wahl wirklich auch praktisch? Haben die Parteien die enormen Herausforderungen, vor denen unser Land steht, erkannt? Wenn ja, geben sie auch die richtigen Antworten und ist es überhaupt realistisch, dass nach der Wahl ein politischer Kurswechsel erfolgen wird? Die wirtschaftspolitischen Überlegungen in den Programmen von Union, SPD, Grünen, FDP, BSW und AfD geben leider wenig Anlass zur Hoffnung, wenn man auf die entscheidenden Themen blickt.
Wie fundamental der Reformbedarf ist, erläutert Prof. Dr. Dr. hc. mult. Hans-Werner Sinn im Gespräch mit Daniel Stelter
Das Interview von Marcel Fratzscher in der Augsburger Allgemeinen finden Sie hier: https://is.gd/ZFHxI3
Das Interview von Michael Hüther in der SZ finden Sie hier: https://is.gd/uF3T6R
Die Analyse des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel zu den wichtigsten Ausgabenpositionen des Bundes finden Sie hier: https://is.gd/daVRPW
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