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INSEL-GESCHICHTEN - Korsika und die Autonomie

Sep 20, 2024
23:23

Korsika: Eine traumschöne Insel im Mittelmeer, bewohnt von Einwohnern, die seit Jahrhunderten um ihre Freiheit kämpfen. "Korsika ist nicht Frankreich", "Freiheit für Korsika": Solche Graffiti finden sich überall auf der Insel. Welche Rolle spielen dabei die eigene korsische Identität und Sprache? Und die alten korsischen Lieder, die Musikgruppen wie "Alba" wieder zum Leben erwecken? Von Vanja Budde (BR 2023)

Credits
Autorin: Vanja Budde
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Laura Maire, Florian Schwarz, Ron Schickler
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Ghjuvanfrancescu Mattei, Alain Di Meglio, Matthias Waechter

Linktipps:

BR (2022): L’Alba beim Nürnberger Bardentreffen 2022

Während die Musiker das Erbe des polyphonen Gesangs ihrer Heimat Korsika bewahren, sind sie offen für zeitgenössische Elemente aus Folk und Jazz sowie Einflüsse aus arabischen und nordafrikanischen Ländern sowie aus Italien, Griechenland, Portugal, dem Senegal und Simbabwe. JETZT ANSEHEN

Deutschlandfunk (2022): Korsika, Frankreich und die ewige Frage der Unabhängigkeit

Im Frühjahr 2022 kehrte die Gewalt zurück. Nach der Ermordung eines inhaftierten Nationalisten kam es zu Protesten auf Korsika. Die Forderung nach Unabhängigkeit ist wieder da, doch die korsische Bevölkerung ist bei diesem Thema zerstritten. JETZT ANHÖREN


Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 02:40 – Eine Insel, schon immer begehrt
TC 05:15 – 14 goldene Jahre
TC 08:53 – Die Universität Korsika Pasquale Paoli
TC 12:56 – Wege in die Autonomie
TC 19:31 – Das Korsisch Paradoxon
TC 22:45 – Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro

MUSIK

Sprecherin
Algajola, ein kleiner Ort an der zerklüfteten Westküste Korsikas. In der Dorf-Kirche verbinden drei Männer ihre Stimmen zum Paghjella-Gesang: Sie sind die Wurzeln der korsischen Musik, diese klagend-dramatischen mehrstimmigen Melodien. Wenn man sie hört, sieht man Korsikas schroffe Berge vor sich, die mehr als 50 Gipfel über 2.000 Meter Höhe, die eiskalten, klaren Flüsse, die zu Tal stürzen, die stachelige Macchia, die das harte Leben der Schäfer im Inneren der Ile de Beauté Jahrhunderte lang bestimme: der heute bei Touristen beliebten „Insel der Schönheit“. Denn Korsika ist schön, aber auch wild. Ein „Gebirge im Meer“, umkämpft seit Jahrtausenden, stets beherrscht von fremden Mächten, gegen die sich die Korsen immer gewehrt haben. All das klingt mit in diesem traditionellen, polyphonen Gesang. Die UNESCO hat ihn darum 2009 zum immateriellen Erbe der Menschheit erklärt.

ATMO

Sprecherin
Einer der drei Sänger ist Ghjuvanfrancescu Mattei. Seine Gruppe L’Alba lade sie dazu ein, mit in die korsische Seele einzutauchen, erklärt er den Touristen, die an diesem Abend zu annähernd 100 Prozent das Publikum stellen. Darum sängen sie ausschließlich in ihrer eigenen Sprache: Korsisch. Das klingt überhaupt nicht wie Französisch, sondern hat eher Ähnlichkeiten mit Italienisch. Weshalb es auch im Norden der Nachbarinsel Sardinien von vielen verstanden wird.

MUSIK

TC 02:40 – Eine Insel, schon immer begehrt

Sprecherin
Korsika ist nach Sizilien, Sardinien und Zypern die viertgrößte Insel im Mittelmeer; mit knapp 350.000 Einwohnern, in etwa so viele wie Island hat. Früher wurde in den Dörfern im Inselinneren viel gesungen, bei Festen, aber auch abends in den Familien. Doch immer mehr junge Leute wandern in die Städte ab, nach Bastia an der Ostküste mit ihren langen Sandstränden oder in die Insel-Hauptstadt Ajaccio im Südwesten. Zurück bleiben die Alten, gesungen wird immer seltener. Gruppen wie I Muvrini, A Filetta oder eben L’Alba sind darum die Hüter nicht nur von Geschichte und Tradition, sondern sie bewahren und fördern auch die korsische Identität. Sagt Ghjuvanfrancescu Mattei:

O-Ton 1 Ghjuvanfrancescu Mattei, Französisch, OV
OV MÄNNLICH
„Unsere Insel hat in der Vergangenheit gelitten. Und sie hat sich an jedes Leiden angepasst. Deshalb findet man auch in der Musik, im künstlerischen Ausdruck, eine Form von Melancholie, eine Form von Schmerz. Denn die korsische Bevölkerung wurde in all den Jahren der Fremdherrschaft mundtot gemacht. Das erzählen wir auch in unseren Liedern: Dass wir Korsen schweigen mussten. Immer wieder unsere Staatsangehörigkeit ändern mussten. Sicherlich spürt man das in unserer Musik: Korsikas melancholische Leuchtkraft.“

ATMO

Sprecherin
Sie ist lang, die Liste der fremden Herrscher über diese gebirgige Insel, die zwischen dem italienischen Festland und Sardinien liegt: Byzantiner, Langobarden, Sarazenen und Franken setzten sich an den Küsten fest. Die Markgrafen der Toskana meldeten ebenso Ansprüche an, wie die Seerepubliken Pisa und Genua. Die meisten Korsen zogen sich ins unzugängliche Inselinnere zurück.

MUSIK

Dabei war die Insel schon in prähistorischer Zeit bewohnt. Und schon immer begehrt. Ligurer und Etrusker vom nahen italienischen Festland siedelten sich an, aber auch Griechen und Araber hinterließen genetisch ihre Spuren. Unter der Herrschaft Genuas im Mittelalter kamen viele italienische Siedler, die ihre Sprache und Kultur mitbrachten. Es wird daher angenommen, dass die moderne korsische Bevölkerung eine Mischung all dieser ethnischen und linguistischen Gruppen ist. So blieb Korsika, das nie eine brave Kolonie oder Provinz war, immer eine Welt für sich.

TC 05:15 – 14 goldene Jahre

1729 hatten die Korsen genug: In mehreren, Jahre langen Aufständen lehnten sie sich gegen die Zwangsverwaltung und das Feudalsystem der Genuesen auf. 1755 riefen sie ihre staatliche Unabhängigkeit aus. Unter Führung des Widerstandskämpfers Pascal Paoli, der bis heute als „Babbu di a Patria“ verehrt wird, als „Vater des Vaterlandes“, gaben sich die Korsen eine demokratische Verfassung. Übrigens war es die erste Verfassung im Zeitalter der Aufklärung, lange vor den Verfassungen der Vereinigten Staaten im Jahr 1776 und Frankreichs 1791. Inklusive Gewaltenteilung und Volkssouveränität und des europaweit ersten Frauenwahlrechts immerhin für alleinstehende Frauen und Witwen. Einer der engsten Mitarbeiter Paolis dabei war Carlo Buonaparte: Napoleons Vater. Die Genuesen mochten sich mit der kämpferischen Inselbevölkerung nicht länger herumärgern und verkauften ihre Ansprüche an Frankreich. Schon nach 14 Jahren war es dann vorbei mit der Freiheit: 1769 besiegte Frankreich die korsischen Truppen in der Schlacht bei Ponte Novu.

MUSIK

Sprecherin
Seither ist Korsika französisches Staatsgebiet. Sieht man von einer kurzen Periode während der Französischen Revolution ab, als die Insel unter englische Oberhoheit geriet. Pascal Paoli ging ins Exil nach England, 1807 starb er in London. Der junge Napoleon schrieb später in seinen unveröffentlichten „Lettres sur la Corse“: „Die Geschichte Korsikas ist ein ständiger Kampf zwischen einem kleinen Volk, das frei sein will, und seinen Nachbarn, die es unterjochen wollen.“ Obwohl der korsische Kampf um Unabhängigkeit nur so kurze Zeit Erfolg hatte, beeinflusste er nicht nur viele Intellektuelle und Staatsmänner jener Zeit, unter ihnen Jean-Jacques Rousseau und die Gründungsväter der Vereinigten Staaten. Sondern die Erinnerung an diese 14 goldenen Jahre der Freiheit ist auch heute noch lebendig. Vor allem in der damaligen Hauptstadt des unabhängigen Korsikas: Corté, in den Bergen im Inselinneren gelegen. Heute hat die lebendige Kleinstadt am Zusammenfluss von Restonica und Tavignano 7.500 Einwohner. Die Hälfte davon sind Studenten der einzigen Universität Korsikas.

TC 08:53 – Die Universität Korsika Pasquale Paoli

Die nach Pascale Paoli benannte Universität ist ein wichtiges Symbol des Strebens nach Autonomie, erklärt ihr Vize-Direktor Alain Di Meglio in seinem lichten Büro im oberen Stockwerk des modernen Baus. 

O-Ton 2 Alain Di Meglio, Französisch (kein OV, da kurz und unten erklärt)
„Pascal Paoli, der Gründer des unabhängigen Korsikas, hatte hier eine Universität ins Leben gerufen, die vier Jahre lang bestand, von 1765 bis 1769.“

Sprecherin
Denn Pascale Paoli hat hier in Corté nicht nur das unabhängige Korsika gegründet, sondern 1765 auch eine Universität, die bis zur Machtübernahme Frankreichs 1769 bestand.

O-Ton 3 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Korsikas Universität war 212 Jahre lang geschlossen und wurde 1981 wiedereröffnet. Und zwar unter Druck, auf Grund von Forderungen. Zu dem Zeitpunkt, als die Universität wiedereröffnet wurde, saßen 120 politische Gefangene in den französischen Gefängnissen. François Mitterrand hat sich dann des Problems angenommen, Wahlen zum ersten Korsischen Regionalparlament zugelassen und die Universität wiedereröffnet. Das war erst möglich, nachdem die Sozialistische Partei unter François Mitterrand an die Regierung gekommen war. Von diesem Zeitpunkt an hat die Universität das Studium der korsischen Sprache wiederaufgenommen und korsischsprachige Lehrer für das Bildungssystem ausgebildet.“

Sprecherin
Neben Französisch ist an der Universität Korsisch obligatorisches Nebenfach in sämtlichen Fächern.

O-Ton 4 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Das ist sehr, sehr wichtig, weil die Sprache ein Identitätskriterium ist. Aber sie ist keine geschlossene Identität, keine ethnische Identität, sondern eine offene Identität, eine kulturelle Identität.“

MUSIK

Sprecherin
Weil sie über die Sprache transportiert werde und nicht über Abstammung, erklärt Di Meglio. Die Sprachforscher der Uni haben die Jahrhunderte lang nur mündlich überlieferte Grammatik des Korsischen verschriftlicht und eine verbindliche Rechtschreibung festgelegt. Die Wissenschaftler zogen kreuz und quer über die Insel, zeichneten die verschiedenen Dialekte auf und brachten ein Wörterverzeichnis des Korsischen heraus.

O-Ton 5 Alain Di Meglio, Französisch (kein OV da kurz und unten erklärt)
„Die Wiedergeburt der korsischen Sprache ist nicht der Universität allein zu verdanken, sie hat aber einen großen Beitrag dazu geleistet.“

Sprecherin
So habe die Uni einen wichtigen Beitrag für die Wiedergeburt der Sprache geleistet, sagt Di Meglio. Das war auch dringend nötig, denn unter französischer Herrschaft wurde das Korsische gezielt unterdrückt, wie Matthias Waechter erklärt. Der deutsche Historiker und Frankreich-Experte leitet das Institut Européen des Hautes Etudes Internationales in Nizza. Er hat umfassende Werke über die Geschichte Frankreichs verfasst.

O-Ton 6 Matthias Waechter
„1870 bis 1940: Das war die Phase, in der sich dieses republikanische Staats- und Nationsmodell in Frankreich durchgesetzt hat. Und es musste sich gegen starke Widerstände durchsetzen. Und in diesem Zusammenhang hat man sich gedacht, um eine einheitliche Republik zu gründen, müssen wir auch alle eine einheitliche Sprache sprechen. Die Regionalsprachen, die ja in Frankreich extrem verbreitet waren, noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wurden vom Zentralstaat brutal unterdrückt. Insofern hat Frankreich große Schwierigkeiten, damit zurechtzukommen, dass es ein Volk gibt in Korsika, das seine Kultur autonom leben möchte.“

Sprecherin
An öffentlichen Orten wie zum Beispiel den Schulen Korsisch zu sprechen, war verboten. Doch die Unterdrückung ging noch weiter, richtete sich auch gegen die musikalische Tradition, erklärt Matthias Waechter:

O-Ton 7 Matthias Waechter
„Der Harmoniegesang, der in Korsika gepflegt wurde, galt ja auch als ein Ausdruck korsischen Widerstands. Diese gesamten Ausdrucksformen einer Eigenständigkeit wurden als Widerständigkeit gegenüber der Französischen Republik angesehen. […] Man fürchtete, dass die Menschen, die in diesen Grenzregionen oder auf einer Insel wie Korsika lebten, zum Separatismus neigen würden, wenn man ihnen zu viel Eigenständigkeit lassen würde.“

Sprecherin
In der französischen Nationalversammlung ging die Angst um, dass dann etwa auch die Bretagne, das Baskenland oder das Elsass ähnliche Ansprüche wie die „störrischen“ Korsen erheben könnten.
O-Ton 8 Matthias Waechter
„Und diese Angst ist natürlich immer noch im Hintergrund, dass eine Region, die zu viel Eigenständigkeit besitzt, separatistisch wird. Und dass die Autonomie nur der erste Schritt zur Sezession ist“.

TC 12:56 – Wege in die Autonomie

MUSIK
Sprecherin
Im Falle Korsikas nicht ganz zu Unrecht: Nicht nur die restriktive Sprachenpolitik trieb die Korsen auf die Barrikaden. Nachdem Algerien 1962 in einem grausamen Krieg seine Unabhängigkeit errungen hatte, siedelten tausende Algerienfranzosen, die so genannten „Pieds noirs“ nach Korsika über. Viele Korsen fürchteten, eines Tages zur Minderheit auf ihrer eigenen Insel zu werden. Denn gleichzeitig wanderten zehntausende Korsen auf der Suche nach Arbeit von der wirtschaftlich rückständigen Insel ins Ausland ab. Wegen dieser massiven Landflucht verlor Korsika ein Drittel seiner Bevölkerung. In Sorge um die eigene Identität radikalisierte sich der korsische Nationalismus, Korsika wurde mit einer französischen Kolonie verglichen. In den frühen 1970er Jahren gründeten sich mehrere Parteien als politischer Arm der Nationalbewegung. Nachdem Frankreich Forderungen nach offizieller Zweisprachigkeit, Autonomie oder gar Unabhängigkeit strikt ablehnte, gingen einige Nationalisten in den Untergrund. Der 1976 gegründete Frontu di Liberazione Naziunalista Corsu, kurz FLNC, versuchte die Unabhängigkeit mit Bombenattentaten und Morden zu erzwingen. Mehrere bewaffnete Gruppen bekämpften sich auch gegenseitig. 1998 eskalierte die Gewalt: Ein nationalistisches Mordkommando erschoss den französischen Präfekten der Insel, Claude Erignac, aus nächster Nähe, auf offener Straße, mitten in der Hauptstadt Ajaccio. Die französische Öffentlichkeit war schockiert.

O-Ton 10 Matthias Waechter
„Und insofern wurde dieses Autonomiebestrebungen oder Unabhängigkeitsbestreben der Korsen auch oft als eine Bedrohung wahrgenommen.“

Sprecherin
Über diese blutigen Zeiten spricht man auf der Insel heute nicht gern. Die Täter von damals und ihre Hintermänner wurden gefasst und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die militanten Gruppen haben die Waffen niedergelegt. In den Supermärkten kauft man Baguette und auf den Dorfplätzen spielen die Korsen Boule. Haben sie ihren Frieden mit Frankreich gemacht? Nicht wirklich: Fährt man auf der sich durch die Berge schlängelnden Straße D18 nach Corte, durchquert man kurz vor der Universitätsstadt einen Straßentunnel. Dessen Wände sind über und über mit Spraydosen beschrieben: „Korsika ist nicht Frankreich“, liest man da auf Französisch. „Freiheit für Korsika“, „Franzosen raus aus Korsika“ und so weiter.

MUSIK

Sprecherin
Auf der ganzen Insel weht der „Mohrenkopf“ mit Stirnband auf Bannern und Fahnen und klebt als Aufkleber auf Autos: Das Emblem des Freiheitskampfes. Und in den Altstadt-Gassen von Corte ist das Konterfei eines Mannes allgegenwärtig: Es ist das Porträt von Yvan Colonna. Der korsische Nationalist war wegen Beteiligung an dem Präfekten-Mord zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte dabei stets seine Unschuld beteuert. Im März 2022 wurde Yvan Colonna im Gefängnis im südfranzösischen Arles von einem Mithäftling angegriffen und schwer verletzt. Daraufhin kam es auf Korsika zu Protesten und Ausschreitungen. Dutzende Polizisten wurden verletzt. Yvan Colonna starb drei Wochen später im Alter von 61 Jahren im Krankenhaus. Zu seiner Beerdigung in seinem Heimatdorf in den korsischen Bergen ordnete der Regionalpräsident der Insel Trauerbeflaggung an.

MUSIK

Anfang der 2020er-Jahre stand damit Korsikas Verlangen nach Autonomie wieder auf der Tagesordnung. Auf Korsika machte man sich Hoffnungen auf neue Verhandlungen und Fortschritte. Doch dann griff der russische Präsident Vladimir Putin die Ukraine an. Die folgende Energiekrise und eine hohe Inflation hielten ganz Europa in Atem, so auch Frankreich. Das Thema Korsika rückte wieder auf die hinteren Ränge. Dabei seien die Forderungen im Vergleich zu den achtziger und neunziger Jahren mittlerweile gemäßigt, betont Alain Di Meglio, der Vize-Direktor der Universität in Corté: Nur noch zehn Prozent der Korsen verlangten die Unabhängigkeit ihrer Insel von Frankreich. Doch für die Autonomie seien 90 Prozent. Er eingeschlossen.

O-Ton 11 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Ich bin Autonomist. Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ich bin Autonomist, da ich ein Aktivist der korsischen Sprache bin! Ich fordere das Korsische als offizielle Sprache neben Französisch. Und ich bin für ein System, das mehr Vertrauen in Korsika setzt, das Korsika mehr Macht gibt, aber ohne die Armee oder die Polizei zu fordern oder sich aus dem System der Solidarität mit Europa und Frankreich zu lösen. Die deutschen Bundesländer: Die sind ein Modell für uns. Deutschland ist viel besser dezentralisiert als Frankreich.“

Sprecherin
Die Verfechter korsischer Freiheit haben ihre Ansichten auch deshalb abgemildert, weil sie den Gang in die Politik und durch die Institutionen angetreten haben: Autonomisten und Separatisten taten sich zusammen und errangen 2015 die Mehrheit im korsischen Regionalparlament. Doch Korsika müsse sich auch Europa und der Welt öffnen, fordert Di Meglio. Ebenso wie Frankreich, das zu sehr auf seinen einheitlichen Zentralstaat fixiert sei und Befugnisse nur zögerlich abgebe.

O-Ton 12 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Und ich glaube auf jeden Fall, dass das Prinzip der Autonomie heute ein notwendiges Prinzip ist, sogar weltweit: Wir werden aufgefordert, kurze Transportwege zu fördern, vor Ort zu konsumieren, um die CO2-Kosten des Großhandels zu vermeiden. Man verlangt von uns, die Verpackungen zu reduzieren, man verlangt von uns mehr Ökologie, man verlangt von uns, Energie zu sparen. All das, was in Europa und der Welt im Trend liegt, ist ein Prinzip, das in Richtung Autonomie geht.“

TC 19:31 – Das Korsisch Paradoxon

MUSIK
Sprecherin
Auf dem Weg zu mehr Eigenständigkeit sei die korsische Sprache ein wichtiger Trittstein, betont Di Meglio.

O-Ton 13 Alain Di Meglio, Französisch/kein OV, da kurz und oben erklärt
„Die Sprache ist das wichtigste Kriterium für das Bedürfnis der Korsen nach Identität.“

Sprecherin
Doch obwohl sie heute im öffentlichen Leben, auch in der Literatur, anerkannt sei, gebe es da eine große Gefahr: Nur noch zehn bis 15 Prozent der Jugendlichen sprächen aktiv Korsisch und nur noch etwa die Hälfte verstehe die Regionalsprache. Denn in den Familien wird Korsisch zum ersten Mal seit Jahrhunderten nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben.

O-Ton 14 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„In den vergangenen 40 Jahren hat sich eine Art Paradoxon entwickelt: Die korsische Sprache ist sichtbarer und präsenter in der Politik und in den Medien. In der Bevölkerung geht sie jedoch zurück. Sie wird im Alltag weniger gesprochen.“
MUSIK

Sprecherin
Die UNESCO stuft Korsisch darum als bedrohte Sprache ein. Diese Entwicklung müsse gestoppt werden, fordert Alain Di Meglio. Doch er ist guter Hoffnung. Auch wenn es immer weniger gesprochen wird, werde Korsisch immer häufiger an den Schulen gelehrt. Und dann sei da ja auch noch die Musik: Viele korsische Lieder sind in der Zeit der Unterdrückung verloren gegangen, doch erstaunlich viele haben auch überlebt. Dank der Überlieferung in den Familien, wie Ghjuvanfrancescu Mattei von L’Alba erzählt: Alle Mitglieder der Gruppe hätten von einer mündlichen Weitergabe profitiert. Fragt man ihn, ob er sich als Korse fühle oder als Franzose, antwortet der Musiker überraschend weltoffen:

O-Ton 17 Ghjuvanfrancescu Mattei, Französisch/OV
OV MÄNNLICH
„Ich fühle mich sehr wohl und gut verstanden in der korsischen Sprache, natürlich. Aber ich fühle mich auch sehr gut mit Französisch. Und ich empfinde mich in gewisser Weise auch ein bisschen deutsch, und auch spanisch und auch italienisch. Ich fühle mich jedenfalls sehr wohl in meiner Rolle als Mittelmeeranrainer und das gilt auch für die anderen Musiker der Gruppe.“

Sprecherin
Mattei erklärt: Sie stünden mit einem Bein auf jedem Ufer des Mittelmeeres. Zwar bewahren sie die Tradition der korsischen Musik und hüten damit eine uralte kulturelle Tradition. Doch sie wollen sie auch kreativ weiterentwickeln. Darum habe L’Alba sich auch anderen mediterranen Einflüssen geöffnet, sagt Ghjuvanfrancescu Mattei: Griechischen, nordafrikanischen, italienischen Musiktraditionen.

O-Ton 18 Ghjuvanfrancescu Mattei, Mix aus Korsisch und Französisch/OV
OV MÄNNLICH
„Wir versuchen eigentlich mit der korsischen Sprache, der korsischen Musik, eine neue Musik zu machen, die ihre Wurzeln aber nicht verleugnet. Wir versuchen, ein Bindeglied zu schaffen, zwischen allen Ufern des Mittelmeers. Aber natürlich ist der Ausgangspunkt immer noch die Art und Weise zu singen, die für Korsika spezifisch ist.

ATMO

TC 22:45 – Outro



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