Bernd Stegemann, Essayist und Autor, diskutiert in diesem Gespräch die komplexe Beziehung zwischen Glauben und Säkularisierung. Er reflektiert über die Herausforderungen des Glaubens im 21. Jahrhundert und die Notwendigkeit von Demut in einer polarisierten Gesellschaft. Themen wie die Suche nach Wundern im Alltag und die Gefahren fanatischer Rationalität werden beleuchtet. Stegemann betont die Bedeutung individueller Überzeugungen und die Rolle von Vertrauen in unserem Leben.
In der heutigen säkularisierten Gesellschaft orientieren sich viele Menschen mehr an ihrem eigenen Ich als an religiösem Glauben.
Vertrauen hat eine zentrale Rolle im Alltag, indem es über Rationalität hinausgeht und ein Gefühl der Hoffnung und Stabilität bietet.
Demut ist essenziell für den Glauben und hilft, Hochmut zu überwinden, der zu Entfremdung und sozialen Konflikten führt.
Deep dives
Der Glaube an uns selbst
Der moderne Mensch glaubt oft an sich selbst, anstatt an einen Gott. Diese Verschiebung im Glauben zeigt sich in der Aufklärung, die ein Experiment im Leben ohne Gott darstellt, das jetzt seit über drei Jahrhunderten läuft. Anstelle eines dominanten religiösen Glaubens orientieren sich viele Menschen an ihrem eigenen Ich als Zentrum ihrer Welt. Diese Entfaltung des Individualismus führt dazu, dass Glaubenssysteme neu interpretiert werden und Vertrauen, das früher Gott zugeschrieben wurde, nun in die eigenen Fähigkeiten fließt.
Der Einfluss des Vertrauens
Vertrauen spielt eine zentrale Rolle im Alltag und erstreckt sich von kleinen Aspekten bis hin zu großen Fragen der Existenz. Das Verstehen von Vertrauen geht über die einfache Rationalität hinaus; es ist ein Gefühl des Annehmens und der Hoffnung auf eine stabilisierte Ordnung der Dinge. Der Verlust von religiösem Glauben schafft eine Herausforderung, weil viele Menschen dennoch eine Quelle des Vertrauens benötigen, um Navigationshilfe in einer komplexen Welt zu finden. Diese Konflikte zwischen Glauben und Unglauben führen oft zu unbehaglichen Empfindungen und Fragen über die Grundlage unseres Lebens.
Die Dualität von Säkularisierung
Die Säkularisierung in der westlichen Welt hat sowohl positive als auch negative Folgen hervorgebracht. Auf der positiven Seite steht die Autonomie des Individuums, die dazu geführt hat, dass Menschen zunehmend Kontrolle über ihr eigenes Leben gewinnen. Gleichzeitig zeigen sich Schattenseiten, wie der Klimawandel und technologische Herausforderungen, die durch unseren Fortschritt entstanden sind. Diese Spannungen fordern uns heraus, die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung neu zu evaluieren und dabei die spirituellen Bedürfnisse der Menschen nicht aus den Augen zu verlieren.
Demut versus Hochmut
Demut ist ein zentraler Aspekt des Glaubens und kann eine wertvolle Gegenüberstellung zu Hochmut schaffen, der oft in säkularen Kontexten vorherrscht. Der individuelle Anspruch auf Selbstverwirklichung kann zu einer Verkürzung der menschlichen Erfahrung führen, indem er das Gefühl der Verbundenheit und der gegenseitigen Abhängigkeit untergräbt. Ein Verlust dieser Demut fördert ein Gefühl von Entfremdung und erhöht die Wahrscheinlichkeit von politischen und sozialen Konflikten. Die Fähigkeit, den gemeinsamen Dialog zu suchen und Kompromisse zu finden, wird untergraben, wenn Hochmut und Absolutheitsansprüche dominieren.
Resonanz und Verbindung
Die Suche nach Resonanz ist entscheidend für ein erfülltes Leben und kann helfen, die Entfremdung in der modernen Welt zu überwinden. Viele Menschen sind von Technologien und modernen Kommunikationsmitteln umgeben, die oft weniger authentische Verbindungen schaffen. Die Fähigkeit, sich miteinander in einem Kontext des Verständnisses zu verbinden, kann verloren gehen, und es entsteht eine Kluft zwischen Individuen. Ein Ansatz zur Wiederherstellung dieser Resonanz ist, die Abhängigkeit des Lebens neu zu fühlen und sich aktiv mit der Welt und den Menschen um uns herum auseinanderzusetzen.
In unserer säkularisierten Gesellschaft hat Religion an Bedeutung verloren – nicht aber der Glauben an sich. Der Kultursoziologe Bernd Stegemann spricht mit Jürgen Wiebicke darüber, was unter diesen Umständen einen guten Glauben ausmacht.
Bernhard Stegemann(*1967) ist ein deutscher Essayist, Autor, Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch. Er stellt in unserer Gesellschaft eine Abkehr von Religionen, aber die Verbreitung von Populismus und Fanatismus fest, einen Glauben an das eigene Besserwissen. Sein Plädoyer: Wir müssen wieder Demut lernen.
Warum wir in unserer säkularisierten Gesellschaft trotzdem Vertrauen in etwas brauchen, das wir nicht sehen und erklären können (02:06)
Die Säkularisierungsbewegung hat uns befreit und bemächtigt – aber anfällig gemacht für Kränkung und Ressentiments (08:49)
Wie Entfremdung von der Welt zu ihrer Unterwerfung führt, Resonanz und Gefühle hingegen zu Zugehörigkeit und ihrem Schutz (15:15)
Rationalität und Naturwissenschaft befördern Atheismus – und stoßen selbst an Grenzen des Erklärbaren (22:51)
Wie Säkularisierung zu Hochmut, Anspruchshaltung und Besserwissertum führten und damit zu Ideologie und Fanatismus (27:57)
Wie Theater, Kunst, Musik als Formen der Selbstbegegnung helfen, sich von Absolutheitsansprüchen zu befreien (46:00)
Warum wir unser Konzept vom potenten Individuum erweitern und Resonanz und Verbindung wieder lernen müssen (52:30)
Literatur: Bernd Stegemann (2024): Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse. Stuttgart: Klett-Cotta. 288 Seiten. 25 Euro. ISBN 978-3608988307.
Philosophieren Sie mit über die großen Themen unserer Zeit. Lassen Sie uns gemeinsam nachdenken über KI und Klimawandel, über Einsamkeit und Zusammenhalt, über Glück und Glaube. Das philosophische Radio mit Jürgen Wiebicke immer montags um 19:04 Uhr live in WDR 5. https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/philosophisches-radio/index.html
Im nächsten Podcast sprechen wir mit Peter Strohschneider über autoritären Szientismus.
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