KI-Experte Neil Lawrence: „Ich halte Künstliche Intelligenz für einen zutiefst problematischen Begriff“
Oct 18, 2024
auto_awesome
Neil Lawrence, Professor für Machine Learning an der University of Cambridge, diskutiert die problematische Natur des Begriffs „Künstliche Intelligenz“. Er glaubt, dass KI nicht die menschliche Entscheidungsfindung ersetzen kann, insbesondere nicht in der Bildung. Lawrence kritisiert die utopische Vorstellung einer Allgemeinen Künstlichen Intelligenz und warnt vor der Machtkonzentration bei großen Tech-Unternehmen. Er fordert eine breitere gesellschaftliche Diskussion über KI, damit auch die Stimmen der Laien Gehör finden.
Neil Lawrence kritisiert den Begriff Künstliche Intelligenz als irreführend, da er falsche Erwartungen an maschinelles Denken weckt.
Die persönliche Verbindung zwischen Lehrern und Schülern ist entscheidend und kann durch Technologie nicht ersetzt werden.
Die Dominanz von großen Tech-Firmen über die akademische Forschung gefährdet die Unabhängigkeit der Hochschulen und schränkt die Vielfalt der Innovationen ein.
Deep dives
Die Grenzen der Maschinenintelligenz
Es wird betont, dass es Entscheidungen gibt, die menschliches Eingreifen erfordern, und dass Technologie nicht alle Aspekte des menschlichen Lebens ersetzen kann. Besonders im Bildungsbereich ist die persönliche Verbindung zwischen Lehrern und Schülern von entscheidender Bedeutung. Ein Beispiel ist die Geschichte eines Jungen aus einem gewaltsamen Umfeld, der durch die Unterstützung eines engagierten Lehrers positive Veränderungen in seinem Leben erfährt. Solche menschlichen Beziehungen und die erforderliche Empathie können nicht durch maschinelles Lernen oder KI repliziert werden.
Die Relevanz der Nobelpreise für KI-Forscher
Die Vergabe von Nobelpreisen an KI-Forscher zeigt einen bedeutsamen Wandel in der Wahrnehmung von Wissenschaft und Technik. Traditionell wurden diese Auszeichnungen in Physik und Chemie vergeben, nun jedoch an Forscher, die zuvor primär im Bereich der Künstlichen Intelligenz tätig waren. Dies wirft Fragen zur Deutungshoheit über technologische Entwicklungen und zur Rolle der freien Forschung im Vergleich zu industriefinanzierten Projekten auf. Die Diskussion um die Anerkennung solcher Arbeiten spiegelt die Verschiebung der wissenschaftlichen Anerkennung und die Herausforderungen der Wissenschaftsgesellschaft wider.
Die Herausforderungen der Innovation im Gesundheitswesen
Es wird kritisiert, dass große Technologieunternehmen weiterhin unzureichend auf öffentliche Bedürfnisse eingehen und stattdessen in Bereiche investieren, die nicht unbedingt soziale Probleme lösen. Trotz der bisherigen Fortschritte in Bereichen wie der Künstlichen Intelligenz haben diese Unternehmen keinen nachgewiesenen Erfolg bei der Lösung grundlegender Herausforderungen im Gesundheitswesen. Ein Beispiel ist die Überlastung von Pflegekräften mit administrativen Aufgaben, die durch digitale Lösungen verstärkt wurde. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, den menschlichen Aspekt in technologiegestützten Prozessen zu bewahren und zu verbessern.
Der Einfluss von großen Technologiefirmen auf die Forschung
Es wird hervorgehoben, dass große Tech-Firmen wie Google die akademische Forschung über ihre finanziellen Ressourcen dominieren, was die Unabhängigkeit von Hochschulen infrage stellt. Während akademische Institutionen an Relevanz verlieren, beobachten wir eine zunehmende Abhängigkeit von unternehmerisch finanzierten Initiativen. Diese Dynamik führt dazu, dass ein Großteil der Innovationen zur kommerziellen Nutzung anstatt zu sozialen Zwecken erfolgt. Solche Strukturen gefährden die Vielfalt und Kreativität in der Wissenschaft, indem sie drängen, sich an geschäftlichen Zielsetzungen auszurichten.
Die Rolle der Gesellschaft im Zeitalter der KI
Es wird betont, dass die Entwicklung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz ein gemeinschaftlicher Prozess ist und nicht nur das Resultat individueller Anstrengungen darstellt. Historisch gesehen zeigt sich, dass viele technologische Fortschritte auf der Zusammenarbeit innerhalb von Gemeinschaften beruhen, während Einzelpersonen oft überschätzt werden. Die Autorin fordert dazu auf, die Verantwortung zu teilen und die gesellschaftlichen Strukturen zu stärken, um sicherzustellen, dass technologische Innovationen sowohl den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen als auch deren Werte berücksichtigen. Ein Umdenken ist nötig, um eine effektive und gerechte Nutzung dieser Technologien zu fördern.
Cambridge-Professor Neil Lawrence gilt als einer der renommiertesten Experten für Künstliche Intelligenz – dabei mag er diese Bezeichnung gar nicht: „Ich halte Künstliche Intelligenz für einen tief problematischen Begriff“, sagt er in einer neuen Folge des Podcasts Handelsblatt Disrupt. Der Begriff wecke bei Menschen nämlich die völlig falsche Erwartung, dass da eine Technologie entwickelt werde, die ähnlich denke und Entscheidungen treffe wie sie. Laut Lawrence ist das eine Fehlannahme.
Ein ganzes Buch hat der Computerwissenschaftler gerade der Frage gewidmet, was menschliche von maschineller Intelligenz unterscheidet. Im Podcast sagt der Brite: „Mir hat jemand gesagt, wir könnten den Grundschulunterricht bereits durch Maschinen ersetzen. Ich meine: Wovon in aller Welt reden Sie da?“ Kein Kind werde aus schwierigen Verhältnissen eine Karriere aufbauen, werde jemals sagen: „Ich habe ChatGPT getroffen und es hat an mich geglaubt.“
Lawrence hält Künstliche Intelligenz für eine transformative Technologie. Aber die Vorstellung, dass eine Allgemeine Künstliche Intelligenz all unsere Probleme löse, bezeichnet er als „verrückt“. Die Vision, eine solche Technologie erschaffen zu können, sei eine „Heldenerzählung“ , mit der Männer im Silicon Valley und an der Wall Street die Hoffnung auf Wohlstand wecken könnten und selbst immer reicher und mächtiger würden.
Die zunehmende Machtkonzentration bei den Technologiekonzernen beobachtet Lawrence mit Sorge. Im Gespräch mit Handelsblatt KI-Teamleiterin Larissa Holzki spricht er darüber, warum er dennoch selbst für einige Jahre bei Amazon gearbeitet hat, welche techno-sozialen Risiken er bei der KI-Entwicklung sieht – und warum ihn die Verleihung von zwei Nobelpreisen an KI-Forscher überrascht hat.
Das exklusive Abo-Angebot für alle Hörerinnen und Hörer von Handelsblatt Disrupt: Jetzt 30% auf das Jahresabo sichern unter:
handelsblatt.com/podcast30