Volker Pabst, Türkei-Korrespondent und Experte für türkische Politik, erläutert die zunehmende Bedeutung der Türkei als sicherheitspolitischen Schlüsselpartner des Westens. Er diskutiert die geopolitischen Herausforderungen und die Rolle Erdogans im Ukraine-Konflikt. Des Weiteren beleuchtet er die Spannungen zwischen den demokratischen Mängeln in der Türkei und den pragmatischen Interessen der Europäischen Union, vor allem im Hinblick auf Migration und Ressourcensicherheit.
Die massenhaften Proteste in der Türkei zeigen einen Wendepunkt für die junge Generation, die gegen autoritäre Strukturen ankämpfen will.
Erdogan wird vom Westen als sicherheitspolitischer Schlüsselpartner hofiert, während demokratische Missstände in der Türkei ignoriert werden.
Deep dives
Proteste gegen Erdogan
In den letzten Wochen sind in der Türkei massenhafte Proteste gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan ausgebrochen, ausgelöst durch die Verhaftung von Ekrem Imamoglu, dem Bürgermeister von Istanbul und Erdgans größtem politischen Rivalen. Diese Verhaftung führte zu einer Welle der Empörung, vor allem unter der jüngeren Generation, die größtenteils unter Erdogans Herrschaft aufgewachsen ist. Viele Bürger sind der Meinung, dass es an der Zeit sei, gegen autoritäre Strukturen aufzustehen, und die Stimmung im Land deutet darauf hin, dass die Protestierenden an einem Wendepunkt für die türkische Demokratie angekommen sind. Die Menschen fordern nicht nur Veränderungen, sondern auch, dass ihre Stimmen gehört werden, insbesondere in Bezug auf die bevorstehenden Wahlen und die politischen Freiheiten in der Türkei.
Die geopolitische Bedeutung der Türkei
Die Türkei hat sich als unverzichtbarer Partner für den Westen etabliert, insbesondere im Kontext der NATO und der europäischen Sicherheitsarchitektur. Erdogan hat während eines Fastenbrechen-Events klar gemacht, dass die Sicherheit Europas ohne die Türkei immer schwerer gewährleistet werden kann, da das Land strategisch wichtig ist. Mit den zweitgrößten Streitkräften der NATO und einer kampferprobten Armee wird die Türkei als Schlüsselakteur in sicherheitspolitischen Fragen zunehmend hofiert, während demokratische Missstände ignoriert werden. Diese geopolitische Relevanz verschiebt den Fokus der westlichen Länder von innenpolitischen Auseinandersetzungen hin zu Sicherheitsinteressen, was die Autorität Erdogans stärkt.
Erdogans 360-Grad-Außenpolitik
Erdogan verfolgt eine ausgeklügelte Außenpolitik, die als '360-Grad-Politik' beschrieben wird, bei der er versucht, die Interessen der Türkei in allen geostrategischen Richtungen zu maximieren. Er laviert geschichtlich zwischen den westlichen und östlichen Mächten, um die eigenen nationalen Interessen zu schützen, was ihn sowohl als Stabilisator in der Region als auch als schwierigen Partner für den Westen positioniert. Während die Türkei ihre Rolle als Brücke zwischen Europa und Asien nutzt, um strategisch zu verhandeln, hat dies auch zur Folge, dass sie zunehmend als Schlupfloch für Sanktionen gegen Russland fungiert. Dieses Gleichgewicht wird von den westlichen Staaten schätzen, da sie die türkischen Interessen in sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Belangen nicht gefährden wollen, was zu einer realpolitischen Zusammenarbeit führt.
Die Türkei ist gerade sehr gefragt im Westen. Türkische Delegationen reisen ständig zu Treffen der Nato und der EU nach Brüssel. Kritische Fragen, etwa zu den Protesten im Land, werden nicht gestellt, denn «Erdogan ist zum sicherheitspolitischen Schlüsselpartner des Westens avanciert».
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