
SWR Kultur lesenswert - Literatur Sevgi Soysal – Vor dem Morgengrauen
Jun 26, 2025
04:09
Geschichte ereigne sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce, hat ein einflussreicher Philosoph mal notiert.
Wäre die Frage, ob das, was in diesen Tagen in der Türkei geschieht, sich zu vorherigen militärischen Gewaltherrschaften wie eine Farce verhält. Oder doch eher tragisch ist. Die Umwandlung des Landes in eine Diktatur scheint nicht mehr sehr dystopisch.
Die Schriftstellerin Sevgi Soysal würde wahrscheinlich zum Schluss kommen, dass das Geschehen tragisch zu nennen ist: Nach dem Militärputsch von 1971 in der Türkei begehrte sie gegen das Regime auf. 1975 erschien ihr letzter Roman „Vor dem Morgengrauen“.
Erstmals liegt er nun auf Deutsch in der sehr guten Übersetzung von Judith Braselmann-Aslantaş vor. Emine Sevgi Özdamar schreibt in ihrem Nachwort, dass Soysal in jenen frühen siebziger Jahren wie ein Licht gewesen sei.
Das Eindringen der Gewalt
„Vor dem Morgengrauen“ spielt in Adana, wo Soysal selbst nach einem Gefängnisaufenthalt zwei Monate in der Verbannung verbringen musste. Auch wenn es sich um einen vielstimmigen Roman handelt, bildet ihr Alter ego namens Oya doch das Zentrum. Oya ist eine Journalistin und lebt als Verbannte in der südlichen Metropole. Eher zufällig wird sie von ihrem Bekannten Hüseyein eingeladen, ihn zu einem Essen bei seinem Onkel Ali, einem Arbeiter, zu begleiten: Hüseyin ist Anwalt, Alis anderer Neffe Mustafa, ebenfalls zu Gast, ist Mathematiklehrer – beide sind sie politisch engagiert. Oya ist die einzige Frau, die bei den Männern sitzt. Die Ehefrauen bereiten das Essen. Plötzlich werden alle aufgeschreckt. Es klingelt, Polizisten dringen in die Wohnung ein.Oya (…), wie sie da auf der Sofakante hockt, ist fast froh darüber, dass die Ordnung des Hauses durcheinandergeraten ist. Bis die Tür eingetreten wurde, hat sie sich so unwohl und so fehl am Platz gefühlt, dass sie über das Einkrachen der Tür fast erleichtert ist. Dass sie die einzige Frau ist, die an der Mahlzeit teilnimmt, dass Gülşah und Ziynet sich nicht dazusetzen, sondern die anderen bedienen, ärgert sie.Die Männer und Oya werden verhaftet. Der Vorwurf: eine anarchistische Verschwörung. Die nächsten Stunden in den Zellen und bei Verhören schildert Soysal erzählerisch raffiniert und eindringlich: Sie schweift zwischen den Figuren hin und her und in die Vergangenheit ab, lässt Ängste und Hoffnungen komplex aufscheinen, schlüpft in ihre Helden hinein. Manchmal verwischt sie die Grenzen zwischen Außen und Innen, verlässt mitten im Satz die personale Perspektive zugunsten eines Ichs, zeigt auf, wie verworren die Gefühle und Haltungen sein können, ist man erst einmal in die Fänge eines faschistischen Systems geraten: Resignation, Unverständnis, Widerstand sind ebenso virulent wie Opportunismus, Scham, Verdrängung. Eine Atmosphäre der Unruhe, des Verstricktseins, der Absurdität erfasst und verbindet alle Beteiligten, auf welcher Seite der Geschichte sie auch stehen.Quelle: Sevgi Soysal – Vor dem Morgengrauen
Die Schönheit des Mutes
Die dargestellte Gewalt verdeutlicht einmal mehr, auf welch misogyne Mittel Gewaltregime zu allen Zeiten zurückgreifen, wie Unterdrückung und Demütigung funktionieren. Das weist weit über die konkrete historische Situation des Romans hinaus.In den letzten Jahren hat Oya viel von der harten Realität gesehen, doch ihr hässliches Gesicht entsetzt sie immer wieder aufs Neue. Sie weiß, dass Schönes und Hässliches untrennbar in allen Dingen vorkommt, doch als jemand, der mit Schönheit aufgewachsen und vielleicht übertrieben für sie empfänglich ist, muss sie das Hässliche einfach ausblenden. Für schöne oder edle Ziele schreckt sie vor nichts zurück, und weil sie Mut als solchen schön findet, kann sie auch mutig sein.Mustafa und Oya zeichnen sich durch ihren Mut angesichts von Willkür aus. Aber es ist ein gebrochener Mut. Kein Heldentum, eher eine Einsicht ins Notwendige. Und selbst das Notwendige steht immer wieder auf der Kippe. Sevgi Soysals großartiger, im Strudel der Ereignisse geschriebener Roman war 1975 in der Türkei eines der Bücher der Stunde – leider ist er das auch 50 Jahre später noch.Quelle: Sevgi Soysal – Vor dem Morgengrauen
