
Dieses Buch ist ein Wunderwerk: „Pusztagold“ von Clara Heinrich
SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Die Erkrankung A: ME-CFS und Pflege
Moderator beschreibt A's schwere ME-CFS-Erkrankung und die medizinische Ratlosigkeit als Rückkehrgrund.
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Produktiv und klug
Dieses Buch ist ein Wunderwerk. Weil es auf so einleuchtende Weise Dinge in Verbindung bringt, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören. Weil seine Autorin ihre Lektüren so produktiv und klug in die Praxis umsetzt, wie man es selten liest. Und weil bei aller Verzweiflung und auch Wut, die in Clara Heinrichs Text steckt, immer auch ein leiser, grimmiger Humor mitschwingt. Clara Heinrich, Jahrgang 1993, ist im Burgenland am Neusiedlersee großgeworden. Der östlichste Winkel Österreichs an der Grenze zu Ungarn. Die Puszta gibt dem Buch seinen Titel; eine flache Landschaft, über die der Wind weht; unspektakulär nur auf den ersten Blick.Landschaften prägen das Schreiben
Gleich am Anfang von „Pusztagold“ zitiert Clara Heinrich die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion mit dem Satz, dass die Menschen stets von jener Landschaft geprägt seien, in der sie aufgewachsen sind. Wie also hat das Terrain rund um den Neusiedlersee, jenem riesigen Steppensee zwischen Leithagebirge und Karpaten, die Schriftstellerin Clara Heinrich geprägt? „Was ich schön daran finde, ist dass die Landschaft automatisch eine Interdependenz hat, weil wenn es die Landschaft ist, die den Menschen formt oder mitformt, haben wir automatisch eine Auflösung von Kultur und Natur, weil beides ineinander übergreift,“ beschreibt die Autorin. „Es ist natürlich so, dass die Landschaft die einen prägt, nicht nur wie in meinem Fall aus dem Neusiedlersee besteht und den Steppengräsern und den Rindern, die dort weiden, sondern die Kultur dort mit hineinkommt. Das Gemüse, das angebaut wird, wird wiederum zu einer Suppe oder zu gefüllten Paprika. Das ist sehr naheliegend, dass man etwas mitnimmt oder so ist wie die Landschaft, in der man aufwächst.“Kindheit auf dem Land
Clara Heinrich entstammt einer von der Landwirtschaft geprägten Familie. Ihr Vater ist ein international renommierter Winzer, pardon: Weinbauer, so sagt man hier. Heinrichs Erzählerin, die große Ähnlichkeiten mit der Autorin hat, beschreibt, wie sich seit ihrer Kindheit in ruralen Kontexten fremd gefühlt hat. Sie war die, die als Arbeitshilfe nicht zu gebrauchen war: zu ungeschickt, zu langsam, nicht früh genug wach. Als Jugendliche ging sie nach Wien aufs Internat; dort war sie das Dorfkind voller Scham; später studierte sie Sprachkunst und Politikwissenschaft in Wien, um schließlich nach Berlin umzuziehen. Ein Milieuwechsel, der von der Familie und der dörflichen Gemeinschaft mindestens mit Misstrauen, wenn nicht gar mit Missbilligung betrachtet wurde, wie Clara Heinrich erzählt: „Es war nicht ganz konfliktfrei, dieses Schreiben und nichts mit den Händen arbeiten und eine Schreibtischarbeit machen. Das hat für mich und die Erzählerin in meinem Text schon ein großes Konfliktpotential gehabt, weil das eben nicht mit Wertigkeit besetzt war.“Mischung aus autobiografischer Erzählung, literarischem Essay und originellem Nature Writing
Dieser Konflikt war auch der Ausgangspunkt für ihren Text und ihre Erzählerin. Heinrich erklärt, dass sich das ganze Textgewebe darum ausbreite, dass es einen Zweifel an der Sprache und an der nichtkörperlichen Arbeit gebe. „Pusztagold“ ist eine faszinierende Mischung aus autobiografischer Erzählung, literarischem Essay und originellem Nature Writing. In kurzen Sequenzen, gegliedert in thematische Kapitel, schreibt die Erzählerin über ihre Lektüren, von Monika Rinck, Inger Christensen, Paul Celan; von Esther Kinsky, Anja Utler und Peter Waterhouse. Einen „Chor der Musen“ nennt die Autorin das; eine ganze Phalanx von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die an „Pusztagold“ ihren eigenen Anteil haben.Rückkehr an den Neusiedlersee
Clara Heinrich liest Landschaften, sei es die Stadt Berlin, sei es das Burgenland, wie einen literarischen Text. Diese Form des Denkens schließt Räume auf, erschließt Zusammenhänge. Acht Jahre war Clara Heinrich in Berlin; dann kehrte sie zurück an den Neusiedlersee. In Gols, in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, hat sie auf rund 2200 Quadratmetern einen Gemüsegarten angelegt. Alle Pflanzen zieht sie selbst auf, pflegt die Vielfalt, hegt alte, oft in Vergessenheit geratene Sorten. Der Klimawandel ist am Neusiedlersee besonders anschaulich. Die Sommer werden heißer und heißer; der flache See und die um ihn herum gelagerten wasserspendenden Lacken trocknen in beängstigender Geschwindigkeit aus. Die Großeltern mit ihrem alten Wissen werden der Erzählerin zu wertvollen Ratgebern.Etwas bearbeiten, damit es gedeihen und wachsen kann
All das hat nichts Gemütliches, nichts Heimeliges, aus mehreren Gründen, aber eine große Selbstverständlichkeit. Auf die Frage, ob das Schreiben von „Pusztagold“ ein Graben in und an der Sprache gewesen sei, antwortet Clara Heinrich: „Graben ist ja auch schon wieder etwas Gewaltvolles, also dieses Umgraben ist etwas, was in meiner Gartenpraxis keine Relevanz hat und was ich versuche zu vermeiden, und ich glaube, dass ich genau das in meinem Schreiben auch machen wollen würde, wenn sich das übertragen lässt: etwas so zu bearbeiten, damit etwas gedeihen und wachsen kann.“Care-Arbeit und Erkrankung
„Pusztagold“ hat gleich mehrere dunkel pulsierende Kerne. Die Umweltzerstörung ist einer davon. Der andere ist die während der Corona-Epidemie einsetzende schwere Erkrankung des Lebensgefährten der Erzählerin. A., so wird er nur genannt, leidet an ME/CFS, am so genannten Fatigue-Syndrom, und wird zum Pflegefall. Die Ratlosigkeit und Ignoranz der Ärzte gehört ebenfalls zu dieser Geschichte. A.‘s Erkrankung ist der Grund für die Rückkehr nach Österreich. Aus der Lektüre der Werke von Joan Tronto, einer US-amerikanischen Soziologin, entwickelt Clara Heinrich einen universalen Begriff von dem, was im Englischen „care“, also: Fürsorge heißt: „Pflege verlangt nach einem Handeln im Jetzt. Es gibt die Zukunft nicht, weil die Tätigkeiten genau jetzt stattfinden müssen. Und ich habe das Gefühl, dass das etwas ist, auch im Umgang mit dem Klimawandel, was den Fokus auf die Probleme stellt und es keine Erwartung oder Hoffnung hat auf etwas Zukünftiges. Es geht mir um eine Hoffnung im Jetzt, die care anbietet. Das ist natürlich politisch, zugleich aber auch etwas sehr Individuelles. Es ist wirklich die Erzählerin, die versucht zu überleben. Und das ist schon eine Form der Hoffnung.“Eindrucksvoll klug
So kristallisiert sich letztendlich eine allumfassende Ethik heraus; ein erweiterter Ansatz von Gemeinschaftlichkeit, der Mensch und Natur gleichermaßen einschließt. In „Pusztagold“ zeigt Clara Heinrich ohne jede Sentimentalität und auf eindrucksvoll kluge Weise, wie sich ein Bewusstsein für die Bedürfnisse einer angeschlagenen Welt auf literarisch elegante Weise formulieren lässt.The AI-powered Podcast Player
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