
So ein Depp! Schimpfen, Fluchen und Verwünschen
Radiowissen
Aberglaube und apotropäische Praktiken im slawischen Raum
Dieses Kapitel beleuchtet den Aberglauben im slawischen Raum, insbesondere in Bezug auf Kinder und soziale Interaktionen. Es werden Praktiken und Rituale vorgestellt, die dazu dienen, negative Einflüsse abzuwehren und Unglück zu verhindern.
Schimpfen gehört zum Menschsein dazu und "Servus, du Scheißkerl" kann durchaus freundlich gemeint sein. Die Funktionen des Schimpfens sind vielfältig und die Kreativität des Schimpfens ist grenzenlos. Von Silke Wolfrum
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Friedrich Schloffer, Rahel Comtesse
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Oksana Havryliv, Sprachwissenschaftlerin, Institut für Germanistik, Wien;
Dr. Rolf-Bernhard Essig, Kurator der Ausstellung PotzBlitz. Vom Fluch des Pharao bis zur Hate Speech
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Potz! Blitz! Vom Fluch des Pharao bis zur Hate Speech
22. Februar 2024 – 12. Januar 2025
Wir alle tun es: Schimpfen und Fluchen. Kraftausdrücke gibt es seit es Sprache gibt und in allen Kulturen der Welt. Die Ausstellung „Potz! Blitz! Vom Fluch des Pharao bis zur Hate Speech“ geht diesem Sprachphänomen auf unterhaltsame Weise nach. HIER geht es zur Website.
Literatur:
Oksana Havryliv - Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen.
Wikrlich ALLES über das Schimpfen, Beschimpfen, Fluchen und Verwünschen. Unterhaltsame Zusammenfassung der jahrelangen Forschungsarbeiten der Sprachwissenschaftlerin.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER: (schmerzerfüllt) Ahhhhhh! Grrrrrrrrrr! Mmmmmm!
SPRECHERIN:
War das vielleicht der Anfang allen Schimpfens und Fluchens? Eine reflexartige verbale Explosion, um Dampf abzulassen, nachdem man sich mit dem Faustkeil auf den Finger geschlagen hat? Fakt ist: alle Menschen schimpfen und fluchen, in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Manch einer hält das Schimpfen aufgrund seiner Einfachheit und Ausdrucksstärke sogar für die Urform des Sprechens überhaupt. Verdammt gute These, aber...
01 Zsp. Schimpfen, Fluchen Rolf-Bernhard Essig
Das Hauptproblem in der Fluch-Forschung ist, dass wir nicht wissen, wann das losging. Wir haben ja nur schriftliche Quellen und insofern tappen wir im Dunkeln. Wir können mit Anthropologen, mit Primaten-Forschern aber sagen, dass Aggressionsäußerungen spätestens bei den Primaten, aber auch bei anderen Tieren sehr, sehr deutlich sind und sich auch deutlich von anderen Äußerungen unterscheiden. Vielleicht liegt da so ein Anfang, aber wie gesagt, das können wir nicht genau sagen.
SPRECHERIN:
Dr. Rolf-Bernhard Essig hat nicht nur die Wander-Ausstellung „PotzBlitz. Vom Fluch des Pharao bis zur Hate Speech“ kuratiert, er ist auch der Schöpfer eines Fluch-Generators, der Wortschnipsel von Hans Sachs und Goethe kombiniert, um den Anwender niveauvoll fluchen zu lassen.
SPRECHER:
Quarkender todsündlicher Lausewenzel!
Musik: Mystic tendency (a) 0‘37
SPRECHERIN:
Die ältesten handfesten schriftlichen Beweise dafür, dass die Menschen schon immer geflucht und geschimpft haben, sind sumerische vier - bis 6.000 Jahre alte Tontafeln. Da heißt es zum Beispiel:
02 Zsp. Schimpfen, Fluchen Rolf-Bernhard Essig
Wer diese Tafel bricht oder sie ins Wasser legt oder auf ihr herumschabt, bis man sie nicht mehr entziffern und verstehen kann, den mögen (...) die Götter des Himmels und der Erde und die Götter Assyriens mit einem Fluch strafen, der nicht mehr getilgt werden kann (...) seine Nachkommen sollen vom Land hinweggefegt und sein Fleisch den Hunden zum Fraß vorgeworfen werden!“
SPRECHERIN:
So eine Verwünschung gehört neben dem Fluchen, das eher ein spontaner Ausruf ist …
SPRECHER:
Scheiße!
SPRECHERIN:
… und dem Beschimpfen, welches sich immer an ein Gegenüber richtet, ob anwesend oder nicht …
SPRECHER:
Trottel!
SPRECHERIN:
… zur Rubrik „aggressiver Sprechakt“. Ob auf die Worte Taten folgen, ist dabei völlig offen. In den griechischen Epen wie der Ilias oder der Odyssee kloppen die Helden tatsächlich erstmal verbal aufeinander ein, bevor sie dann zur Waffe greifen, doch man kann auch mit Wörtern statt mit Messern kämpfen. Und da war man noch nie zimperlich. Wer denkt, früher ging alles noch viel höflicher zu als heute, der kennt nur die entsprechenden Textstellen nicht. Zu den Hochzeiten der Schimpferei, so Rolf-Bernard Essig, zählt u.a. die Reformation im 16. Jahrhundert.
03 Zsp. Schimpfen, Fluchen Rolf-Bernhard Essig
Wenn ich einen Furz lasse, dann riecht man den noch in Rom!
Musik: Forgotten landscape B 0‘8
Luther sprach von sich und den Wittenbergern als „nos vermes in hoc culo mundi latitantes“, das ist auf Deutsch „wir im Arsch der Welt verborgene Würmer“.
Musik: Forgotten landscape B 0‘8
Wer kennt sich denn in der Reformationszeit aus? Das sind ja nur ein paar wenige, wer aber da drin liest, der merkt, da sind Verwandten- und Krankheits-Flüche der ekelhaftesten Art ganz, ganz üblich, nur ist das heute nicht mehr bekannt. Die Drastik heute ist wirklich nicht stärker als damals, aber die Verbreitung macht es deutlicher und ich kann viel leichter viel mehr Menschen erreichen, das ist der wirklich qualitative Unterschied.
SPRECHERIN:
Neben der Reformationszeit schimpfte man auch im 18. Jahrhundert und auch späten 20. Jahrhundert recht kreativ und produktiv.
Musik: Gute Nacht 0‘8
Gute Nacht, gute Nacht, scheiß ins Bett daß' kracht; gute Nacht, schlaf fei' g'sund und reck' den Arsch zum Mund
(Wolfgang Amadeus Mozart)
04 Zsp. Schimpfen, Fluchen Rolf-Bernhard Essig
Es gibt zwei Dinge, die diese Modezeiten besonders charakterisieren: Das ist einmal die politische, die auch eine sprachliche Auseinandersetzung war, eine religiöse natürlich. Das lässt überhaupt die Wellen hochschlagen. Und es waren alle drei genannten Zeiten sehr sprachfixiert, man hatte den Eindruck noch mit Sprache kann ich ganz, ganz viel erreichen, so eine Art Sprachmagie.
SPRECHER:
Sprechen ist, sprachwissenschaftlich ausgedrückt, immer ein Sprech-Akt, eine Handlung. Über Sprache kann ich bei anderen etwas auslösen, ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Emotion. Worte haben also enorme Macht und glaubt man an Verwünschungen, dann kann ein Wort oder ein Satz das Leben der anderen sogar gravierend beeinträchtigen.
Musik: Z8019017131 Disturbing factors 0‘19
ZITATOR&ZITATORIN: (im Idealfall verschiedene Stimmen)
Du sollst Krätze am Arsch und zu kurze Hände zum Kratzen bekommen!
Alle Zähne sollen dir ausfallen bis auf einen, damit du weißt, wie sich Zahnschmerzen anfühlen!)
Mögen dich die Deutschen besetzen und die Russen befreien!
SPRECHER:
Die ukrainische Sprachwissenschaftlerin Oksana Havryliv (Okk’sahna Haww’rihliff) forscht an der Universität Wien schon lange über den Gebrauch von Fluch- und Schimpfwörtern. Ihr letztes Buch trägt den schönen Titel: „Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen. Wirklich ALLES über das Schimpfen, Beschimpfen, Fluchen und Verwünschen. Was das Verwünschen angeht – also einen Sprechakt, der Unheil für andere herbeiwünscht -, hält sie die Deutschen für nicht besonders kreativ:
05 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Also das ist auch meine These, dass die Leute im slawischen Raum zumindest, weil da kenne ich mich aus, also abergläubiger sind oder zumindest es noch bis vor Jahrzehnten waren, also noch vor 20 Jahren. Als meine Kinder klein waren und beim Besuch im Dorf zum Beispiel, da wurde nicht gesagt „ach wie hübsche Kinder du hast“, sondern es wurde auf das Kind, also nicht direkt, aber so als ob man auf das Kind spucken würde, „tu tu tu, ist das Baby hässlich“, gesagt. Das war dieser Aberglaube, man darf nichts Gutes über ein Kind sagen, sondern es wird etwas Schlechtes gesagt um die - es war natürlich nicht allen bewusst-, aber um die bösen Dämonen zu verwirren, es soll dann in Ruhe gelassen werden, dann wird dem Kind nichts Schlimmes passieren.
Musik: The lost cabaret 0‘25
SPRECHER:
Toi Toi Toi! Das wünschen sich auch die Schauspieler am Theater vor der Aufführung. Ursprünglich spuckte man sich drei Mal über die Schulter, denn Spucke gilt als apotropäisch, also Unheil abwendend.
06 Zsp. Schimpfen, Fluchen Rolf-Bernhard Essig
Das war in bürgerlichen Kreisen nicht besonders gern gesehen, also hat man statt Ausspucken nur noch eine Art Lautmalerei daraus gemacht und daraus wurde dann die Wortfolge toi toi toi. Ganz bekannt ist dann auch den Arsch zeigen, also blankziehen, der Hintern gilt als apotropäisch und leck mich am Arsch, das ist dadurch auch viel besser zu verstehen. Also ich möchte alles, was mir jemand Böses möchte, dadurch, dass ich sage, leck mich am Arsch, indem ich da blankziehe, abwehren.
SPRECHERIN:
Ja leck mich doch am Aaaaaa....llerwertesten!
SPRECHER:
Man kann also mit Wörtern Unheil stiften, sich aber genauso auch mit ihnen vor Unheil schützen. Aber was macht überhaupt ein Wort zum Schimpfwort? Oder besser zum Kraftausdruck?! Seine Stärke steckt nicht in der begrifflichen Bedeutung, also in dem, was das Wort konkret aussagt, sondern in ihrer negativen Aufladung, in dem, was mitschwingt.
07 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Dieser negative Bedeutungsaspekt kann dem Wort schon auf der Ebene der Sprache angehören, also das sind Schimpfwörter, die schon in Schimpfwörterbüchern fixiert sind, die wir gleich als Schimpfwörter identifizieren, wie Scheißkerl oder Idiot. Aber die Wörter können diese negativen Konnotationen auch im Kontext in einer konkreten Situation bekommen. Neutrale Wörter können diese bekommen und zu Schimpfwörtern werden, und das sehen wir auch gut an Ersatz-Schimpfwörtern, also wenn neutrale Wörter wie Scheibenkleister oder Scheibe als Schimpfwörter funktionieren.
SPRECHERIN:
Du Armleuchter!
SPRECHER:
Jedes Wort kann also zum Schimpfwort werden. Und gerade weil der emotive Gehalt eines Schimpfwortes im Vordergrund steht, werden viele gebraucht ohne dass die Nutzer überhaupt wissen, was sie eigentlich bedeuten. Eine Abschlussarbeit des Lehrgangs „Jugendarbeit“ am Wiener Institut für Freizeitpädagogik ergab, dass 87 Prozent der befragten sechs- bis 12Jährigen den Schimpfwörtern, die sie gebrauchten, nicht die korrekte Bedeutung zuordnen konnten. Eine ‚Hure’ wurde z.B. mit „bekloppt’ gleichgesetzt und „Missgeburt“ mit „im Mist geboren“. Hier ist Nachhilfeunterricht also dringend nötig.
Musik: Equilibrium (reduced 1) 0‘36
SPRECHERIN:
Schimpfwörter können weh tun, aber meistens werden sie nicht eingesetzt, um andere zu beleidigen. Im Gegenteil! In den allermeisten Fällen dienen sie einfach nur dazu, sich abzureagieren und werden gar nicht in der Gegenwart des Angesprochenen geäußert. Das Schimpfen hinter dem Rücken des anderen hat eine wichtige Funktion. Neben dem ‚Dampf Ablassen‘, kann es auch Gemeinschaft schaffen. Schimpft man gemeinsam gegen den Chef, die Lehrer, die Politiker kann das ungemein zusammenschweißen.
SPRECHER: (idealerweise von mehreren Stimmen gesprochen)
So ein Dummschwätzer! Von nichts eine Ahnung haben, aber blöd daherreden! – Genau! Volldepp!
Musik: Live better 0‘21
SPRECHERIN:
Die zweithäufigste Funktion von Schimpfwörtern ist ihr scherzhafter Gebrauch. Wenn Freunde sich mit „Hallo du alter Sack“ begrüßen, kann das direkt liebevoll gemeint sein. Diese Art Anrede – v.a. unter Männern gebräuchlich - ist ein echter Freundschaftsbeweis, soll heißen: Wir kennen uns so gut, dass wir uns das leisten können.
SPRECHER: (begeistert)
Du Seppl, du Wurschthaut, du older Haderlump, dass ich dich hier seh!
08 Zsp. Schimpfen, Fluchen Rolf-Bernhard Essig
Es ist auch ein soziales Erkennungs- oder Bindemittel in der Bundeswehr beispielsweise. Männerkulturen wie das Militär oder das Gefängnis, da ist es wichtig sich innerhalb dieser Kreise als besonders männlich und stark und damit dann auch eben in einer starken Sprache zu zeigen.
Es kann dann auch die körperliche Leistung stärken, ganz viele Sportler, die verwenden Kraftausdrücke, und die wirken ja auch neurophysiologisch, wie man sagen kann. Und es macht einfach dann auch Spaß in der Unterhaltungsindustrie, bei Piratenfilm beispielsweise, da müssen solche Kraftausdrücke natürlich vorkommen.
SPRECHER:
Räudige Seepocke! Du bist gleich Haifutter!
Musik: New discovery 0‘23
SPRECHERIN:
Kevin LaBar von der Duke University in Durham und Elizabeth Phelps von der Harvard University in Cambridge konnten nachweisen, dass man sich an Schimpfwörter besser als an andere Wörter erinnern kann. Sie lösen offensichtlich beim Gegenüber höhere Erregung aus. Außerdem erhöhen Schimpfwörter die Glaubwürdigkeit des Sprechers. Eric Rassin und Simone van der Heijden ließen 70 Freiwillige fiktive Aussagen von Menschen lesen, die einer vermeintlichen Straftat verdächtig waren. Im Anschluss sollten sie deren Glaubwürdigkeit einschätzen. Tatsächlich trauten die Probanden jenen Aussagen mehr, die Kraftausdrücke enthielten, wie:
SPRECHER:
Nein, verdammt noch mal. Wie ich schon zehnmal gesagt habe, habe ich damit nichts zu tun. Ich bin jetzt seit fast zwei Stunden hier in diesem Scheißraum. Was für eine verdammte Schweinerei!
Musik:Talent check (b) 0‘25
SPRECHERIN:
Schimpfen kann außerdem auch Schmerzen lindern. Richard Stephens von der Keele University in Staffordshire ließ 67 Studenten ihre Hand in Eiswasser halten. Wer währenddessen vulgäre statt neutrale Wörter von sich schleuderte, hielt im Schnitt ganze 40 Sekunden länger durch.
SPRECHER (als wäre Hand in Eiswasser)
Alter, he, Scheiße ist das kalt, Fuck!!!!
SPRECHERIN:
Oksana Havryliv von der Universität Wien hat in ihrem Buch über 20 Funktionen des Schimpfens und Fluchens zusammengestellt, darunter auch die, Widerstand zu leisten. In diesem Zusammenhang sieht sie die Reaktionen auf die tödlichen Schüsse eines IS-Sympathisanten in der Wiener Innenstadt im Jahr 2020.
09 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Spruch des Jahres 2020 „Schleich di, du Arschloch“, das war der Ausruf eines Unbekannten zum Terroristen, also bei dem Terroranschlag am 2. November 2020. Er hat diese Szene gefilmt und entsetzt eben diesen Ausdruck ausgeschrien und in den nächsten Tagen wurde der Ausdruck auch zum Meme, wurde geteilt auf sozialen Medien und hat diese Funktion des Widerstandes entwickelt.
Musik: Secret proofs (red) 0‘23
SPRECHER:
Wie wir schimpfen, hängt stark von dem Kulturkreis ab, aus dem wir kommen – auch wenn in einer mobilen Welt die Grenzen verschwimmen. In Deutschland, Frankreich und der Ukraine werden gern fäkal-anale Schimpfwörter gebraucht. Wie sagte Joschka Fischer 1984 zum Bundesvizepräsidenten?
ZITATOR:
Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.
SPRECHER:
Keine europäische Sprache kennt so viele fäkal-anale Schimpfwörter wie die Deutsche. Ganz schön Scheiße eigentlich.
10 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Das hängt auch mit Werten in der Gesellschaft zusammen, mit Tabus, weil beim Schimpfen geht es immer um einen Tabubruch. Leute im deutschsprachigen Raum gelten weltweit als besonders ordnungsliebend, Sauberkeitsliebend. Das Leben im deutschsprachigen Raum ist auch stark reglementiert. Deshalb besteht der Tabubruch beim Schimpfen dann zu diesen schmutzigen Wörtern zu greifen.
SPRECHER:
In Russland, England oder Serbien bevorzugt man dagegen Schimpfwörter aus dem sexuellen Bereich.
SPRECHERIN:
Fuck!
SPRECHER:
In von der katholischen Kirche stark geprägten Ländern wie Italien, Spanien oder auch Österreich und Bayern hat man hingegen eine Vorliebe für Gotteslästerungen:
SPRECHERIN:
Himmiherrgottsakrament nochamal!
SPRECHER:
Und in den USA wie im Nahen Osten beleidigt man gerne die Verwandtschaft.
SPRECHERIN:
Fffff.... deine Mutter!
Musik: Political efforts 0‘21
SPRECHER:
Wer jetzt gerade zusammengezuckt ist, dem sei gesagt: Was uns Anal-Fäkal-Schimpfer als echt zu drastisch erscheint, fühlt sich für die Verwandtschafts-Beleidiger gar nicht so schlimm an. Mütter verwenden sogar selbst diesen Ausdruck, ohne sich der eigentlichen Bedeutung bewusst zu sein.
11 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Als Beispiel kann ich so Videos anführen wie der österreichische TikTok Satansbraten. Also er hat Migrationshintergrund, also serbische Wurzeln, und bei ihm gibt es eine Figur der Balkan-Mutter. Diese Balkan-Mutter schimpft mit dem Kind, also das Kind kommt mit einer schlechten Note nach Hause und diese Mutter schimpft hier (Satz auf serbisch) also wörtlich „ich ficke (evtl. nur f oder Ton oder Pause) deine Mutter“ ja und dabei denkt sie nicht, dass der Ausdruck sich wirklich auf sie bezieht. Also für sie ist das so viel wie verdammt noch mal, wieso hast du wieder schlechte Note gebracht?
SPRECHER:
Deswegen kann man Schimpfwörter auch nicht einfach so 1 zu 1 übersetzen. Ohne das Wissen um die kulturellen Unterschiede kann es da leicht zu großen Missverständnissen kommen. Übrigens hat sich so mancher Engländer über Angela Merkels Gebrauch des Wortes „Shitstorm“ auch recht gewundert. Für Engländer ist ein „Scheiße-Sturm“ ein echt starkes Wort aus dem Munde einer Kanzlerin.
Musik: Pulsating enviroments 0‘16
SPRECHER:
Nicht nur kulturelle Unterschiede prägen unser Schimpf-Verhalten, auch das Alter macht etwas aus. Jugendliche sind wesentlich kreativer und produktiver, wenn sie schimpfen, Erwachsene eher konservativ. Das zeigen jedenfalls die Studien von Oksana Havryliv.
12 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Ich habe meine erste Umfrage in Wien zum Beispiel 2008 durchgeführt und die zweite fast nach zehn Jahre, also 2015, 2017 und da hat sich herausgestellt, dass die häufigsten Schimpfwörter, die drei häufigsten, dieselben waren. Das waren Trottel, Arschloch und Idiot, in derselben Reihenfolge. Bei den Kindern sehen wir dagegen starke Dynamik, also in der Jugendsprache. Da kann sich jedes Jahr etwas ändern, neue Schimpfwörter kommen dazu.
SPRECHER:
Was die Rolle des Geschlechts angeht, so wird oft davon ausgegangen, Männer würden häufiger schimpfen als Frauen, stärkere Wörter gebrauchen und über ein größeres Repertoire an Schimpfwörtern verfügen. Oksana Havryliv hat diese Annahmen wissenschaftlich untersucht und kommt zu dem Schluss: Der Bildungsgrad kann eine Rolle spielen, das Geschlecht eher nicht.
13 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Was die Wörter anbetrifft, also die Intensität, die Vulgarität der Wörter, auch die Häufigkeit des Gebrauchs von Schimpfwörtern, da gibt es keine Unterschiede. Also das Schimpf-Verhalten ist aus geschlechtlicher Hinsicht homogen. Es gibt aber Unterschiede in der Wahrnehmung von Schimpfwörtern. Für Frauen sind zum Beispiel Schimpfwörter, die sich auf ihr Äußeres richten, oder auch auf ihr Alter im bestimmten Alter natürlich, also diese Schimpfwörter sind dann sehr beleidigend, wie „Du ja alte, dicke Kuh“. Und für die Männer sind dann Schimpf-Wörter am schlimmsten, die ihre Charaktereigenschaften angreifen, ihre Leistungen „Du Loser, du Feigling, du Lügner“, das ist sehr beleidigend für Männer oder die auch die Mutter mit beleidigen, auch im deutschsprachigen Raum.
SPRECHER:
Die Wirkung eines Schimpfworts kann also ganz unterschiedlich ausfallen und hängt immer vom Kontext ab. Von der Art der Betonung, der Mimik und Gestik, der Lautstärke, der Intention des Schimpfers oder der Schimpferin, aber auch von der persönlichen Situation der oder des Beschimpften. Und so können Schimpfwörter, die als eindeutig rassistisch gelten, manchmal auch ganz freundschaftlich gemeint sein.
14 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Das N-Wort zum Beispiel. Das gehört neben anderen wenigen Wörtern zu den Wörtern, die auch keine Kontexte abschwächen können. Aber es gibt eine Ausnahme: Wenn das zum Beispiel in der Eigengruppe gebraucht wird. Also wenn schwarze Rapperinnen und Rapper das scherzhaft gegenüber gebrauchen oder überhaupt in der eigenen Gruppe Schwarze das zueinander scherzhaft sagen und lachen, dann ist das okay, dann ist das in Ordnung, aber wenn das jemand von der Außengruppe sagt, dann ist das natürlich die stärkste Diskriminierung und rassistischer Ausdruck.
Musik: Needle & twine red 0‘32
SPRECHER:
Es gilt also nicht Schimpfwörter an sich zu verteufeln, sondern vielmehr uns für die Feinheiten der Sprache zu sensibilisieren und generell natürlich immer mit einzukalkulieren, wie unsere Wörter beim anderen ankommen. Selbst die Methoden der so genannten „gewaltfreien Kommunikation“ nach Marshall B. Rosenberg raten nicht, den Ärger „einfach“ runterzuschlucken. Es gibt vielmehr oft eine feinere Art ihn loszuwerden.
15 Zsp. Schimpfen, Fluchen Oksana Havryliv
Mein Vorschlag ist das situationsbezogen Schimpfen. Wenn zum Beispiel die Kollegin Ihnen einen Tätigkeitsbericht nicht abgegeben hat und Sie haben sie davor schon viele Male daran erinnert und hier mit ihr geredet, also konstruktiv reden und jetzt kochen die Emotionen und suchen den Ausweg und das könnte in einer Form wie „faules Aas, wo ist mein Tätigkeitsbericht?“ passieren oder Sie können „verdammt noch mal, wo ist der blöde Tätigkeitsbericht“ ausrufen, auf diese Art und Weise haben Sie ihre negativen Emotionen abreagiert, aber Sie haben die Person und ihr Image nicht angegriffen, weil Sie schimpfen über die Situation generell „verdammt noch mal“ und Sie richten negative Emotionen auf den fehlenden Bericht, also „der verdammte Bericht“. Der Person, die für diese Situation zuständig ist, ist aber sehr wohl bewusst: „Aha es ist ernst.“
Musik: Undercover investigations 0‘31
SPRECHERIN:
Fazit: Schimpfen ist wichtig und verdammt menschlich. Darum lässt es sich auch nicht verbieten. Ganz oft geschieht es reflexhaft. Der vordere Bereich des Stirnhirns, der für die Kontrolle des Fluchens zuständig ist, ist oft einfach zu langsam, um einen Fluch zurückzuhalten. Bei Menschen mit Tourette-Syndrom, also Menschen die zwanghaft schimpfen und fluchen müssen, scheint diese Region oft gar nicht zu funktionieren. Und auch die Geschichte zeigt: Schimpfen verbieten funktioniert nicht.
16 Zsp. Schimpfen, Fluchen Rolf-Bernhard Essig
In der Bibel geht das ja schon los, dass Gott das nicht möchte, übrigens flucht er aber selber. Es gab bei den Pilgervätern sogar die Todesstrafe für solche Leute, die Gotteslästerungen ausstießen. Es gab immer wieder auch Schwörbüchsen, Fluchkassen, in die jemand etwas hineintun sollte, der einen Kraftausdruck verwendet hat und so zieht sich das durch die Geschichte. Immer wieder versuchte man, gerade in religiösen Gesellschaften, das Fluchen und Schimpfen zu verbieten. Ja das kann man verbieten, aber man kann es nicht vermeiden.
SPRECHERIN:
Und warum auch? Natürlich gehört zum Schimpfen und Fluchen auch verbale Gewalt, ein Sprechakt, der gezielt verletzen und demütigen will und beim Empfänger schlimmste, oft lebenslange Effekte erzielen kann, wie Opfer von Mobbing eindrücklich berichten können. Doch gut dosiert und richtig eingesetzt fördern Schimpfwörter einen gesunden Umgang mit Emotionen und sind generell Teil einer funktionierenden Gesellschaft. Sie helfen uns, Stress abzubauen, Kraft zu schöpfen und sie können uns mehr verbinden, als dass sie uns trennen.
Musik: Easy Dramedy (Reduced 2) 0‘16
Darauf ein herzliches
SPRECHER:
Servus, alte Wurschthaut!