
Die Zeit der Schlafgänger - Die große Wohnungsnot um 1900
Radiowissen
Die Auswirkungen des Schlafgänger-Phänomens auf das Familienleben
Dieses Kapitel behandelt die schwierige Wohnsituation um 1900, insbesondere das Phänomen des Schlafgängers, der in Familienzimmern Unterschlupf sucht. Es wird untersucht, wie diese Umstände das Familienleben beeinflussen und welche wirtschaftlichen Notwendigkeiten dazu führen, dass Familien Temporärbewohner aufnehmen müssen.
Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einem explosionsartigen Anwachsen der Städte. Viele der neu Zugezogenen wohnen zur Untermiete. Dabei haben "Schlafgänger" lediglich Anspruch auf ein Bett, das sie sich häufig sogar noch in einer Art Schichtbetrieb mit einem oder zwei anderen Schicksalsgenossen teilen. Von Carola Zinner (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christoph Jablonka, Stefan Merki, Caroline Ebner
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Stefan Fisch, emerit. Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte,
insbes. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an der Universität Speyer
Literatur
Ernst Cahn: Das Schlafstellewesen in den deutschen Großstädten und seine Reform: mit besonderer Berücksichtigung der Stadt München.
Reichard van Dülmen (Hersg.) Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung.
Lena Christ: Die Rumplhanni.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN
Wir mieteten ein Kabinett, das wir für uns allein hatten. Auch mein jüngerer Bruder kam wieder zu uns und brachte einen Kollegen mit, mit
dem er sein Bett teilte. So waren wir vier Personen in einem kleinen Raum, der nicht einmal ein Fenster hatte, sondern das Licht nur durch die Fensterscheiben erhielt, die sich in der Tür befanden. Als einmal ein bekanntes Dienstmädchen stellenlos wurde, kam sie auch zu uns, sie schlief bei meiner Mutter im Bett und ich musste zu ihren Füßen liegen und meine eigenen Füße auf einen angeschobenen Stuhl lehnen.
ERZÄHLER/IN
Im Jahr 1909 veröffentlichte die österreichische Sozialistin und Frauenrechtlerin Adelheid Popp mit ihrer „Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ eine der wenigen Autobiographien, die aus eigener Erfahrung vom harten Dasein städtischer Unterschichten im 19. Jahrhundert erzählen.
MUSIK ENDE
Die Epoche war geprägt von einem noch nie dagewesenen Bevölkerungswachstum, das Städten wie München, Berlin oder Wien einen ungeheuren Boom bescherte. Dabei landete der größte Teil derer, die hierherzogen, um ihr Glück zu finden, in schlecht bezahlten Jobs und miserablen Wohnverhältnissen. Oft reichte der Verdienst lediglich für eine Schlafstelle als Untermieter in einem der Mietshäuser, die hastig aus dem Boden gestampft wurden.
ZUSPIELUNG 1 (Fisch)
In München gab es um 1900 etwa 500.000 Münchner. Von denen waren also nur sieben Prozent Eigentümer der Wohnung, in der sie gewohnt haben. - Und in Berlin sogar nur drei Prozent. Deswegen ist Berlin ja auch mal als die größte Mietskasernenstadt der Welt bezeichnet worden.
ERZÄHLER/IN
Der Historiker Prof. Stefan Fisch, Emeritus der Universität Speyer, verfasste mit seinem Buch „Stadtplanung im 19. Jahrhundert – Das Beispiel München“ ein grundlegendes Werk zur Bau- und Wohngeschichte jener Zeit. Als Quellen nutzte er unter anderem eine Wohnungsumfrage von 1904, die der damalige Münchner Bürgermeister Wilhelm von Borscht in Auftrag gegeben hatte.
ZUSPIELUNG 2 (Fisch)
Von den Mietern wohnten etwa hunderttausend in unvollständigen „Teilwohnungen“: Da konnte also eine Wohnung dann in Wirklichkeit aus drei Wohnungen bestehen und entsprechend verkleinert worden sein, damit man sie bezahlen konnte, nicht? Jetzt sagen wir noch etwas über den Standard der Wohnungen: also bei der Wohnungsumfrage hat man festgestellt, dass 45 Prozent der Wohnungen keine Toilette haben. Die Wohnung bestand aus Wohnraum und ´ner Küche mit ´nem Wasserhahn - mit viel Glück. Das war aber auch alles. Und 17 Prozent hatten durchgefaulte Fußböden, und 11 Prozent hatten das, was man in der Sprache der Wohnungs-Umfrage „schlecht beleuchtete Zimmer“ nennt und was in der Realität Zimmer ohne Fenster waren.
MUSIK „Knowledge is Passed On“
ERZÄHLER/IN
Dabei waren solche Behausungen alles andere als günstig, wie die Umfrage ergab: die Miete für eine 50 Quadratmeter-Wohnung betrug rund die Hälfte des Durchschnittsverdienstes. Der so niedrig war, dass der Rest nicht mehr genügte, um davon den Lebensunterhalt zu bestreiten. So blieb vielen Familien nichts anderes übrig, als unterzuvermieten: an Zimmerherren oder Zimmerfräulein – oder aber an Schlafgänger.
MUSIK ENDE
ZUSPIELUNG 3 (Fisch)
Der Zimmerherr konnte es sich leisten, ein ganzes Zimmer zu mieten; das waren also die klassischen Studenten, das waren vielleicht auch unverheiratete junge Beamte oder sonstiger alleinstehende Personen, die einen etwas einkömmlicheren Beruf hatten und die auf diese Weise schnell eine Wohnung gefunden haben in den beengten Verhältnissen. Der Schlafgänger - oder Bettbursche - hat dagegen nur ein Bett zum Schlafen gemietet. Und da gibt es durchaus glaubwürdige Darstellungen, dass so ein Bett beim Schichtbetrieb an drei aufeinanderfolgende Schichtarbeiter reihum vermietet worden ist, dass also das Bett nie kalt geworden ist in der Nacht und am Tag.
„Familiar things disappear“
ZITATOR
Nahezu durchweg wird über Unreinlichkeit der Fußböden und Wände, besonders über den Schmutz der Bettwäsche Klage geführt.
ERZÄHLER/IN
Ernst Cahn: Das Schlafstellewesen in den deutschen Großstädten und seine Reform. Stuttgart, 1898.
ZITATOR
Es kommt zuweilen sogar vor, dass nach Verlassen einer Schlafstelle durch einen Schlafburschen nicht einmal die Bettwäsche gewechselt wird. Auch die Wände starren vor Schmutz. An Gebrauchsgegenständen ist meist nur das Allernotwendigste vorhanden. Ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl, vielfach noch eine Kommode bilden die ganze Ausstattung. Aufbewahrungsgegenstände für die Kleider sind meist nicht vorhanden. Selbst Haken stehen nicht allzu oft zur Verfügung. Auch fehlen oftmals die Waschbecken und Waschkrüge. Da wird dann am Ausguss die Toilette besorgt und aus einem Maßkrug das notwendige Wasser zum Waschen in die Hand gegossen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER/IN
Auch in vorindustriellen Zeiten wurden Lehrlinge, Gesellen und Personal meist extrem einfach untergebracht. Sie übernachteten in überfüllten Schlafräumen oder in den - im Winter eiskalten, im Sommer brütend heißen - Speichern. Hausmädchen schliefen häufig auf der Küchenbank, die dafür nachts mit einer dünnen Matratze belegt wurde, oder auf dem „Hängeboden“, einer Art Verschlag unter der Decke im Flur. Eines aber hatten all diese Schlaflager gemeinsam: sie befanden sich innerhalb des Herrschaftsbereichs der Arbeitgeber. Bei den Schlafgängern sieht die Sache anders aus: sie sind zahlende Mieter bei Außenstehenden, mit denen sie ansonsten nichts verbindet.
ZITATOR (Ernst Cahn)
Das Verhältnis zwischen Vermieter und Schlafburschen ist äußerlich betrachtet ein reines Vertragsverhältnis, beruhend auf geldwerter Leistung und Gegenleistung. Dieser Vertrag bedingt indes trotzdem eine enge Lebensgemeinschaft von schwerwiegenden sozialen und sittlichen Folgen.
ERZÄHLER/IN
Sprich, es gibt keine Kontrolle in traditioneller Form: Mieter und Vermieter sind weder verwandt, noch ist ganz eindeutig, wer hier hierarchisch oben steht und wer unten. Das birgt angesichts der räumlichen Enge einigen Sprengstoff, wie Ernst Cahn schreibt.
ZITATOR
Ehebruch, Verführung erwachsener Töchter in den Haushalten mit Schlafburschen ist durchaus nichts Seltenes.
MUSIK „Time lapse“
ERZÄHLER/IN
Mit seiner Zeichnung „Der späte Schlafbursche“ hat der Berliner Heinrich Zille die Situation mir der ihm eigenen Treffsicherheit festgehalten. Zu sehen ist ein überfüllter Wohnraum, durch den sich quer eine Leine mit zum Trocknen aufgehängter Wäsche zieht. Mehrere Kinder schlafen, ineinander verschlungen, teils auf dem Diwan, teils im Bett, auf dessen Rand, beleuchtet vom Schein einer Petroleumlampe eine halbentblößte, ungekämmte Frau ihr Baby stillt. Im Vordergrund wäscht sich, den Rücken zum Betrachter, ein rundliches nacktes Mädchen in einem Zuber. Zwischen ihr und der Mutter steht breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, der eben nach Hause gekommene Untermieter. Das Käppi sitzt schräg auf seinem Kopf; einige Knöpfe des Hosentürchens stehen offen.
MUSIK ENDE
MUSIK „Familiar things disappear“
ZITATORIN
Einmal an einem Feiertag kam der Bettgeher abends allein nach Hause und wir gingen schlafen, ohne dass mein Bruder da war.
ERZÄHLER/IN
Adelheid Popp.
ZITATORIN
Ich lag neben der Mutter an die Wand gedrückt. Ich schlief noch nicht fest genug, denn plötzlich erwachte ich mit einem Schreckensschrei. Ich hatte über mir einen heißen Atem gespürt, konnte aber in der Finsternis nicht sehen, was es sei. Mein Schrei hatte die Mutter geweckt, die sofort
Licht machte und die Situation erkannte. Der Bettgeher hatte
sich von seinem Bette, dessen Fußende an unser Kopfteil stieß,
erhoben und über mich gebeugt. Ich zitterte vor Schreck und Angst am ganzen Körper und ohne recht zu wissen, was der
Mensch vorhatte, hatte ich den Instinkt, dass es etwas Unrechtes
sei.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER/IN
Trotzdem lässt die Mutter zu Adelheids Verzweiflung den Untermieter noch so lange weiter bei ihnen im Zimmer schlafen, bis er ein neues Quartier gefunden hat.
ZUSPIELUNG 4 (Fisch)
Es gab da natürlich eine Riesenfluktuation. Den Schlafgänger, den wollte man wieder los sein. Da gibt es Berichte, dass also das Bett an den Schlafgänger vermietet ist und die übrige Familie auf dem Fußboden schläft und so, und dann war man froh, wenn der möglichst bald wieder gegangen ist.
MUSIK „A Zed and Two Noughts“
ZITATOR
Die meisten und größten Übel kamen jedenfalls durch das Schlafstellen- und Kostgänger-Unwesen. Das ist der Ruin der deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit.
ERZÄHLER/IN
So die Bilanz des Pastors und Sozialreformers Paul Göhre, der für drei Monate das Leben mit Fabrikarbeitern in Chemnitz geteilt hatte.
ZITATOR
Ein Handarbeiter meiner Kolonne, der eine energische, fleißige Frau, ehemalige Köchin, hatte und zwei herzlich geliebte und sorgsam gehütete Kinder, bewohnte in einem mit Menschen vollgestopften Hintergebäude mit drei jungen Schlossergesellen aus unsrer Fabrik ein enges zweifenstriges Zimmer, einen Alkoven und eine Bodenkammer. Hier schliefen Eltern und Kinder in je einem Bette zusammen, die fast den ganzen Raum einnahmen, und die drei Burschen in der etwas geräumigeren Bodenkammer ebenfalls nur in zwei Betten, also zwei einander fremde zusammen in einem Bette, und nur einer allein, wofür er natürlich entsprechend mehr zu bezahlen hatte.
MUSIK ENDE
ZUSPIELUNG 5 (Fisch)
Dass man alle möglichen Krankheiten von der Krätze angefangen bis zur Tuberkulose sich durch diese Wohnungsverhältnisse holen konnte, ist relativ einsichtig.
MUSIK M0089162 101„Knowledge is Passed On“ 00:21
ZITATOR
In Bogenhausen fand ich eine Wohnung mit 3 Zimmern, deren eines von der Vermieterin, einer Witwe, bewohnt war. Das eine der abvermieteten Zimmer hatten 3 Arbeiter inne. Der Raum war ca. 40 Kubikmeter groß. Hier starrte alles förmlich vor Schmutz.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER/IN
Ein Raum von 40 Kubikmetern für drei Personen: das gilt sogar 1898, als Ernst Cahns Bericht erscheint, als überfüllt. Stefan Fisch:
ZUSPIELUNG 6 (Fisch)
Die Überfüllung hat man interessanterweise in Kubikmetern gemessen, also nach Luftraum. Und da war die Maßgabe 15 Kubikmeter pro Person. Und 15 Kubikmeter bei der damaligen Wohnungs-Höhe von drei Metern heißt fünf Quadratmeter pro Person.
ERZÄHLER/IN
Für die Zuwanderer vom Land gilt: sie müssen nehmen, was sie bekommen, denn für eine eigene Wohnung reicht ihr Lohn bei weitem nicht. Ob in Hamburg, der Stadt der Seeleute und Hafenarbeiter, oder in München, in Leipzig, Dresden oder Berlin, überall gilt dasselbe: Ledige mit geringem Einkommen, die nicht bei Verwandtschaft unterschlüpfen können oder vom Arbeitgeber untergebracht werden, übernachten irgendwo als Schlafgänger respektive als Schlafmädchen. Im Jahr 1900 gilt das allein in Berlin und seinen Vororten für rund
114 000 Menschen - bei einer Bevölkerung von knapp 1,9 Millionen.
ZITATOR (Cahn)
Die Schlafleute werden mit Notwendigkeit abends ins Wirtshaus auf den Tanzboden getrieben. Ein großer Teil des Lohns wird dann vertrunken oder sonst vertan. Die moderne Gestaltung des Schlafstellenwesens ertötet damit den Sinn für Familienleben, für Häuslichkeit, für den Wert eines traulichen Heims; damit wird aber auch jene Rohheit erzielt, die leider gerade in den Kreisen der jugendlichen Arbeiter in erschreckendem Masse zunimmt. Jene Genusssucht, die nichts gemein mehr hat mit den berechtigten Bestrebungen der Arbeiterklasse nach Anteilnahme an den Kulturgütern und nach einem besseren Dasein, jener Mangel an Sparsinn, der oft in Verschwendung ausartet.
MUSIK „Der Truderinger“
ERZÄHLER/IN
Mit solchen Menschen, da sind sich alle zeitgenössischen Studien mit der von Ernst Cahn einig, lässt sich wahrhaft „kein Staat machen“.
ERZÄHLER/IN
Das Leben in der Stadt stellt die Zuwanderer vor völlig neue Herausforderungen, zu denen neben der Wohnungsnot auch die Freizeitgestaltung gehört. In den bäuerlichen Betrieben auf dem Land, woher die meisten von ihnen stammen, wird vom Aufstehen bis zum Ins-Bett-Gehen in dem Tempo gearbeitet, das die Landwirtschaft vorgibt. In der Stadt, wo sie nun ihr Geld als Maurer oder als Kellnerin verdienen, in einer Fabrik, bei der Eisenbahn, der Post oder einer der großen Brauereien, gibt es feste Arbeitszeiten. Die betragen zwar um 1890 immer noch durchschnittlich 66 Stunden pro Woche, doch bleibt daneben trotzdem noch viel Zeit, die irgendwie gefüllt werden muss. Nur – womit? In der engen, überfüllten Unterkunft sind die Schlafgänger nicht gern gesehen, zumal die Betten ja oft schichtweise an mehrere Nutzer vermietet sind. Es bleiben die Kirche, die Straße und – das Wirtshaus, wo man nicht nur essen, trinken und diskutieren kann, sondern wo es auch ein immer größeres Unterhaltungsangebot gibt. (Musik instrumental evtl. hier hoch) Es wird die große Zeit der Volkssänger und Unterhaltungskünstler. Ob sie im Wirtshaus am Eck auftreten, im Krystallpalast oder in einer der bayerischen Bierhallen: ihr Publikum ist ihnen sicher.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER/IN
Es sind die Sehnsüchte und Alltagsthemen der einfachen Leute, die hier thematisiert werden, frech, kitschig, manchmal auch zotig-derb – aber immer so, dass es das Publikum berührt. Auf diese Art entsteht eine ganz spezifische Unterhaltungskultur, die prägend wird für die Entstehung einer gemeinsamen Identität.
ERZÄHLER/IN
Anders als etwa in Hamburg, Berlin oder Leipzig, wo die Szene stark von der wachsenden Arbeiterbewegung geprägt ist, gibt man sich im Süden Deutschlands eher gemütlich. Dabei gäbe es auch hier durchaus Anlass zu Protest, denn wichtige politische Entscheidungen wie etwa die zum Wohnungswesen der Stadt sind allein den Begüterten vorbehalten. Stefan Fisch:
ZUSPIELUNG 8 (Fisch)
Also grundsätzlich zu den politischen Verhältnissen in den bayerischen Städten bis 1918 ist festzuhalten, dass das Kollegium der Gemeindebevollmächtigten nicht von den Einwohnern der Stadt gewählt worden ist unter den üblichen Voraussetzungen – also damals nur Männer ab 25 oder sowas –, sondern dass diese Gemeindebevollmächtigten von den Münchner Bürgern gewählt worden sind. Und Bürger wurde man in München entweder wenn man Sohn eines Bürgers war oder Tochter eines Bürgers war oder wenn man sich das Bürgerrecht kaufte. Und das hat so ungefähr hundert Mark in die Gemeindekasse gekostet - für normale, vom Land zugezogene Zuwanderer, die als Schlafgänger gewohnt haben, war das also völlig undenkbar, das sich zu leisten.
MUSIK „A Zed and Two Noughts“
ZITATORIN
Das Haus ist offen, und sie treten ein in den winzigen Hausflöz. Da liegen und stehen Körbe, Kisten, Häfen und Holzscheite herum, auf den ausgetretenen Stufen der geländerlosen Stiege liegt Wäsche und Spielzeug, und vor der Tür, die in die eine Kammer führt, steht das eiserne Zylinderhütlein ihrer Kinder.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER/IN
Im Roman „Die Rumpelhanni“ thematisiert die Schriftstellerin Lena Christ auch die unsichtbare Wand zwischen der Welt der Besitzenden und den Mittellosen. Hanni erlebt die Tristesse der Slums zum ersten Mal, als ihr eine Hausiererin für einige Tage bei sich daheim in der Münchner Vorstadt Au Unterschlupf gewährt.
MUSIK „A Zed and Two Noughts“
ZITATORIN
In der Kammer liegen drei der Hascherl in einer mageren Betthaut, einer sitzt hemdärmelig auf dem kalten Stubenboden, hat die Kaffeemühle und etliche Erdäpfel als Spielzeug neben sich und jammert um die Morgensuppe. Ein aufgeschossenes Maidl hockt vor dem alten Sesselofen und bläst aus vollen Backen in die schwelenden, rauchenden Reiser, während ein etwa sechsjähriger Bub auf dem zusammengesessenen, pichigen Kanapee steht und die Herdringe zur Melodie des Münchner Schäfflertanzes schwingt. Die Hanni nimmt den Blecheimer, auf dem noch ein Zettel klebt: »Feinste Aprikosenmarmelade", und will hinein in die Geißenkammer. Aber erschrocken fährt sie zurück. Da liegt auf einem elendigen Lager ein bleicher Mann mit eingefallenen Wangen und fiebernden Augen, der flüstert heiser etwas Unverständliches und winkt mit matter Hand seiner Franzi, wobei ihn ein dürrer Husten peinigt.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER/IN
Ob im Roman, in offiziellen Untersuchungen oder in Berichten von Amtsärzten: immer häufiger wird die katastrophale Wohnsituation der unteren Schichten öffentlich thematisiert und auf die wirtschaftlichen Schäden hingewiesen, die der Gesellschaft dadurch entstehen. Wie Abhilfe zu schaffen wäre, ist kein großes Geheimnis; hatten doch in Regionen mit Arbeitskräftemangel wie etwa im Ruhrgebiet Unternehmer bereits Mitte des 19. Jahrhunderts große Siedlungen für ihre Arbeiter bauen lassen. Doch den Ballungszentren fehlt es für derartige Aktionen an Interesse ebenso wie an Geld. So sind es am Ende häufig die Arbeiter selbst, die, protegiert von finanzstarken Gönnern, auf der Basis von Wohnungsvereinen und Baugenossenschaften bezahlbaren Wohnraum für sich und ihresgleichen schaffen. Auch diese Unterkünfte allerdings sind primär auf Familien ausgerichtet.
ZUSPIELUNG 9 (Fisch)
Eine große Diskussion in der Zeit so ab 1890/1900 ist die Frage, ob man nicht von Seiten der Gemeinde oder von Seiten der Kirchen oder von Seiten von Unternehmern etwas für die alleinstehenden Arbeiter tun soll. Und daraus ist dann das Konzept der Ledigenheime entstanden.
MUSIK „Time lapse“
ERZÄHLER/IN
Die Häuser sind ausgestattet mit Waschräumen, Toiletten und Badewannen, mit Aufenthaltsräumen und Kantinen – mit allem also, was die Schlafgänger sonst meist entbehren müssen. Und doch sind die Heime angesichts ihrer strengen Regeln nicht sonderlich beliebt bei den Arbeitern: Es gibt eine Sperrstunde, und Alkoholgenuss ist im „Bullenkloster“, wie die Häuser spöttisch genannt werden, ebenso verboten wie Frauenbesuch.
ZITATOR
“Ein kleines Zimmer zum erschwinglichen Preis, das ist der Wunsch vieler Menschen.”
ERZÄHLER/IN
So heißt es auf der Website des Münchner Ledigenheims in der Bergmannstraße, für dessen Errichtung 1913, in einer Zeit schlimmster Wohnungsnot, ein eigener Verein gegründet worden war. Noch heute stehen hier alleinstehenden Männern für wenig Geld möblierte Zimmer zur Verfügung. Wer hier untergekommen ist, hat es gut. Und träumt meist trotzdem noch den gleichen Traum wie einst die Schlafgänger: Den Traum von einer eigenen kleinen Wohnung.