
Gebrochene Zeit - Egon Schieles Weg in den Expressionis
Radiowissen
Die kreative Vision und Mission von Egon Schiele
Dieses Kapitel untersucht die einzigartige künstlerische Vision von Egon Schiele, der durch seine Werke die innere Realität der Menschen erfasst. Schiele bricht mit traditionellen Darstellungen und konzentriert sich auf emotionale, entblößte Körper, um die tiefen Dimensionen von Leben und Tod zu thematisieren.
Ein Jahrhundert wird brüchig und mit den Rissen, die durch die Gesellschaft gehen, wird Kunst radikal anders: Egon Schiele, der 1918 mit 28 Jahren starb, macht die Schutzlosigkeit des Menschen zu seinem Thema. Er wird zu einem der Wegbereiter der Moderne und trifft den Nerv auch unserer Zeit. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2025)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Benjamin Stedler, Clemens Nicol
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Katharina Hübel
Im Interview:
- Hilde Berger, Schauspielerin, Buchautorin, Drehbuchautorin
- Gregor Mayer, Journalist und Buchautor
Weiterführende Links:
Die Wiener Sezession: Der Kunst ihre Freiheit. Um 1900 suchen die Wiener Sezessionisten, allen voran Gustav Klimt, Anschluss an die europäische Avantgarde in der bildenden Kunst. Sie rebellieren gegen den rückwärtsgewandten Kunstgeschmack der etablierten Kunstinstitutionen.
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-wiener-sezession-der-kunst-ihre-freiheit/2097363
Auguste Renoir ist der wohl populärste Maler Frankreichs – und Stellvertreter des Impressionismus. Seine sonnendurchfluteten Bilder zeigen pure Lebensfreude.
Literatur:
Hilde Berger: Tod und Mädchen. Egon Schiele und die Frauen. Hilde Berger: Egon Schiele - Tod und Mädchen. Wien: Hollitzer Verlag, 2018. (Buch zum Film: Egon Schiele Tod und Mädchen) Romanbiographie mit Schwerpunkt auf Schieles komplizierten Beziehungen zu Frauen.
Gregor Mayer: Ich ewiges Kind. Das Leben des Egon Schiele. Residenz Verlag Salzburg 2018 Biographie des umstrittenen Künstlers mit viel zeithistorischem Kontext und Interpretation seiner Gemälde und Zeichnungen
Natter, Tobias G (Hrsg.) Egon Schiele: Die Gemälde. April 23: Essays zu allen wichtigen Belangen rund um Egon Schiele mit vielen Abbildungen.
Wunberg, Gotthart: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart Reclam 1981. Originaltexte der Literaten, Philosophen, Psychologen und Publizisten der Wiener Moderne mit Einführung und Erläuterungen.
Weiterführende Links:
Die Wiener Sezession: Der Kunst ihre Freiheit. Um 1900 suchen die Wiener Sezessionisten, allen voran Gustav Klimt, Anschluss an die europäische Avantgarde in der bildenden Kunst. Sie rebellieren gegen den rückwärtsgewandten Kunstgeschmack der etablierten Kunstinstitutionen.
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-wiener-sezession-der-kunst-ihre-freiheit/2097363
Auguste Renoir ist der wohl populärste Maler Frankreichs – und Stellvertreter des Impressionismus. Seine sonnendurchfluteten Bilder zeigen pure Lebensfreude.
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/pierre-auguste-renoir-malerei-voll-licht-und-luft/1787408
Quellen zu Egon Schiele:
Egon Schiele online, Kallir Research Institute
Links zu den zitierten Quellen:
https://www.egonschiele.at/de/objekt/2435-2435-brief-von-egon-schiele-an-oskar-reichel
https://onlinecollection.leopoldmuseum.org/objekt/4600-gedicht-ein-selbstbild/
https://www.egonschiele.at/de/objekt/2297-2297-brief-von-heinrich-benesch-an-egon-schiele
https://www.egonschiele.at/en/item/2142-2142-letter-from-egon-schiele-to-anton-peschka
Brief von Egon Schiele an Karl Ernst Osthaus/Folkwang Museum - Egon Schiele Datenbank der Autografen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN:
Am 12. Juni 1890 wird in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie ein Kind geboren, das, kaum dass es laufen kann, zum Zeichenstift greift, und dies mit unglaublichem Talent. Das Lieblingsmotiv des kleinen Egon sind Züge. Vater Adolf Schiele ist der Bahnhofsvorstand von Tulln bei Wien, die Familie wohnt im Bahnhofsgebäude, sagt Gregor Mayer, Autor der Schiele-Biographie „Ich ewiges Kind“.
01 O-TON GREGOR MAYER:
Für den kleinen Egon Schiele war das insofern eine wichtige Inspiration, als dass da wirklich viel los war. Anders als heute, wo das nur ein kleiner Provinzbahnhof ist. Da fuhren Schnellzüge, da fuhren Güterzüge, es gab Signalanlagen, das war eine durchstrukturierte Welt. Ich glaube, den kleinen Schiele hat das fasziniert, diese Strukturen von Schienen, Gleisen, Signalanlagen, und dann gab es eine Geräuschwelt dazu. Es gibt Überlieferungen: In der Wohnung hat er selbst gebastelt, auch Schienen aufgelegt. Und es gibt Überlieferungen, die besagen, dass er noch als 23-Jähriger, wenn er verreiste, eine Spielzeugeisenbahn dabeihatte.
Musik NEURO LOGIC_Gregor Huber
Das 19. Jahrhundert ist ganz im Bann des technischen Fortschritts, die Industrialisierung verändert das ganze Leben. Und auch in der Kunstszene brodelt es. Im traditionell eher konservativen Wien hat der Maler Gustav Klimt im Jahre 1897, da ist Egon Schiele sieben Jahre alt, die Sezession gegründet. Diese Künstlervereinigung gibt der damals modernen Kunst, den europäischen Stilrichtungen des Symbolismus und Jugendstils vor allem, auch in Österreich eine Heimat und trägt viel dazu bei, dass Wien zum lebendigsten, spannungsreichsten kulturellen Zentrum im damaligen Europa wird. Der heranwachsende Schiele bewundert Klimt und bewegt sich jahrelang ganz in seinem Fahrwasser. Mit 20 Jahren findet er zu seinem eigenen Stil: 330 Gemälde und über 3000 Zeichnungen und Aquarelle entstehen in nur 10 Jahren, bis zu seinem frühen Tod im Alter von 28 Jahren.
Musik Zitate Diffused Light
ZITATOR SCHIELE:
„Ich bin wissend geworden. (…) Ich sehe mich verdunsten und immer stärker ausatmen, die Schwingungen meines astralischen Lichtes werden schneller, unvermittelter, einfacher und ähnlich einem großen Erkennen der Welt.“
ERZÄHLERIN:
… schreibt Schiele im Jahr 1911 an seinen Förderer Oskar Reichel. Schiele empfindet sich als Seher. Der Künstler als Seher sieht die innere Wirklichkeit der Menschen und macht sie sichtbar für andere. Er verbindet sich aus Liebe mit der Schöpferkraft der Welt und treibt Neues aus ihr hervor. Das Publikum kann in die Werke eintreten und ebenfalls neu schauen lernen: auf die Tiefendimension von Welt und Mensch, die in einer von Materialismus, Technik und Fortschritt besessenen Zeit unter die Räder zu geraten droht. So hat Schiele seine künstlerische Mission verstanden, und so beschreibt er seinen Dienst am Menschen in einem Gedicht aus dem Jahre 1910:
Musik Zitate Diffused Light
ZITATOR SCHIELE:
„Ich bin für mich und die, denen die durstige Trunksucht nach Freisein bei mir alles schenkt, und auch für alle, weil alle ich auch liebe, - liebe.
Ich bin vom Vornehmsten der Vornehmste und von Rückgebern der Rückgebigste.
Ich bin Mensch, ich liebe den Tod und liebe das Leben.“
ERZÄHLERIN:
Den Beschenkten wird einiges zugemutet. Denn der Zwanzigjährige Egon Schiele malt keine Züge mehr, sondern nackte Menschen. Die aber sehen aus, als sei ein Zug über sie hinweggebraust. Kantige, ausgemergelte Männerakte winden sich mit verrenkten Gliedern, blicklosen Augen und wilden Grimassen, Frauen und Mädchen schürzen die Röcke und geben den Blick auf den Unterleib frei.
ZITATOR BENESCH:
Ich habe mich in die Betrachtung Ihrer Arbeiten vertieft und komme immer mehr zur Erkenntnis Ihrer machtvollen künstlerischen Eigenart, die anfänglich abstößt, um später umso mehr gefangen zu nehmen“,
ERZÄHLERIN:
…. bekennt Schieles Freund und Förderer, der Kunstsammler Heinrich Benesch in einem Brief aus dem Jahre 1910:
ZITATOR BENESCH:
„Um Eines bitte ich Sie noch, lieber Herr Schiele, stecken Sie von Ihren Skizzen, was immer es sein möge, auch von den kleinsten unscheinbarsten Sachen, nichts in den Ofen.
ERZÄHLERIN:
Wer es tatsächlich einmal gewagt hat, Egons Kinderzeichnungen bündelweise in den Ofen zu stecken, das war Egons Mutter, verzweifelt über seine schlechten Schulnoten und die nicht erledigten Hausaufgaben. Egon soll Eisenbahningenieur werden später mal. Der Vater ist krank, die Familie lebt in finanzieller Not, einen verkrachten Künstler kann man nicht auch noch brauchen. Adolf Schiele hat sich bei einem Seitensprung mit Syphilis angesteckt, siecht jahrelang dahin, verliert seinen Beruf, endet in Wahnsinn und Delirium. Als er stirbt, ist Egon 15 Jahre alt und zutiefst erschüttert, zutiefst traurig. In einem Brief an seinen Freund Anton Peschka aus dem Jahr 1913 klingt der Schmerz noch nach:
Musik Zitate Diffused Light
ZITATOR SCHIELE:
Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemanden gibt, welcher mit
jener Wehmut an meinen edlen Vater sich erinnert; ich weiß nicht wer es verstehen kann, warum ich gerade solche Orte aufsuche, wo mein Vater war, wo ich den Schmerz in mir in wehmütigen Stunden absichtlich erleben lasse. … Warum malte ich Gräber? und viele ähnliche
Bilder? Weil das innig in mir fortlebt.
ERZÄHLERIN:
Die Aufnahmeprüfung an der Wiener Kunstakademie besteht er mit Bravour. Mit seinen 16 Jahren ist er der jüngste Student seines Jahrgangs. Wichtiger noch als die Anerkennung der Professoren ist ihm der Kontakt zu Gustav Klimt, der das Genie des jungen Mannes sofort erkennt. Klimt ist so umstritten, erfolgreich und wohlhabend wie kein zweiter Künstler seiner Zeit, aber mit der Akademie hat er nichts zu tun. Sein Einfluss dürfte Egons Konflikte mit den konservativen Professoren eher befeuert als besänftigt haben. Jedenfalls verlässt Schiele die Akademie bereits im dritten Studienjahr und gründet mit anderen jungen Avantgardisten eine eigene Gruppe, die Neukunstgruppe. Im Juli 1913 schreibt Schiele das Manifest:
Musik Zitate Diffused Light
ZITATOR SCHIELE:
„Der Neukünstler ist und muß unbedingt selbst sein, er muß Schöpfer sein, er muß unvermittelt ohne all das Vergangene und Hergebrachte zu benützen ganz allein den Grund bauen können. Dann ist er Neukünstler.“
M And yes, there will be silence
ERZÄHLERIN:
Das bedeutet: Auch Klimt ist jetzt – trotz Vorbildfunktion – einer von gestern in den Augen der jungen Leute. Klimt nimmt es gelassen. Kunst entwickelt sich eben weiter, das geht nicht ohne Brüche, er hat ja früher selbst genügend Wirbel gemacht. Allerdings hat sein farbenfrohes, ornamentales, dekoratives Werk immer auch den Schönheitssinn des Publikums angesprochen.
M Fortschritt Micro metric (Länge: 0´31´´) C1595030106
Schiele hingegen misstraut dem Versprechen der Schönheit, er misstraut auch dem Versprechen der Ganzheit, der Einheit des Subjekts, wie viele Denker damals. Alles ist brüchig geworden, die Zeit ist aus den Fugen, die multinationale Habsburgermonarchie erbebt unter ethnischen Konflikten, Sigmund Freuds Psychoanalyse hat das Menschenbild revolutioniert. Egon Schiele ist zwar kein großer Theoretiker, aber …
02 O-TON GREGOR MAYER:
Wir stellen uns vor, dass Schiele vieles mitbekommen hat und das sofort für sich auf seine eigene Art und Weise umgesetzt hat. Schiele hatte ja auch so seine eigenen Ich- und Identitätskrisen.
ERZÄHLERIN:
Sagt Schiele-Biograph Gregor Mayer. In Schieles erster Schaffensperiode dominieren die Aktzeichnungen, so Hilde Berger, Autorin der Romanbiographie „Tod und Mädchen. Egon Schiele und die Frauen“
03 O-TON HILDE BERGER
Die ersten Frauen, die ihm als Modelle zur Verfügung gestanden sind, waren seine Schwestern. Die Melanie, die ältere Schwester, von der gibt es einige schöne Porträtzeichnungen.
ERZÄHLERIN:
Auf dem bekanntesten ist Melanies Kopf unter silberfarbenen Tüchern verborgen, nur Augen und Nase liegen frei, die Augen blicken besorgt und erschöpft. Die künstlerischen Exzesse ihres Bruders sind ihr fremd, sie hält Distanz. Aber die jüngere Schwester Gertrude ist immer für Experimente zu haben.
04 O-TON HILDE BERGER:
Mit Gerti hat er in seiner ganzen Kindheit ein sehr intimes Verhältnis gehabt, und Gerti ist ihm auch für Akte zur Verfügung gestanden. Es gibt Aquarelle, es gibt Zeichnungen, die ganz eindeutig Gerti als Aktmodell zeigen. Und dazu kamen die Selbstporträts, die er vor einem Spiegel gezeichnet hat, ein Spiegel, den er immer mit sich geschleppt hat, das war übrigens der Schlafzimmerspiegel seiner Mutter.
ERZÄHLERIN:
Schiele will Menschen in ihrer Nacktheit, in ihrer Kreatürlichkeit, in ihrer Verwundbarkeit begreifen: nicht so symbolistisch und dekorativ wie Klimt, sondern provokanter und schonungsloser, auf das individuelle, oft konfliktreiche innere Erleben konzentriert. Damit stößt er in Österreich die Tür zum Expressionismus auf, eine Kunstrichtung, die in Europa ungefähr seit 1905 Fahrt aufnimmt und mit ihrer intensiven Farbigkeit, mit ihren dynamischen Linien traditionelle Konventionen sprengt. Allerdings muss Egon zunächst sehr aufs Geld schauen. Professionelle Modelle sind teuer, und die Apanage seines Onkels und Vormunds ist nicht allzu üppig.
05 O-TON HILDE BERGER:
Eine weitere Quelle für Aktmodelle stand ihm zur Verfügung in der gynäkologischen Abteilung eines Dr. Graf in Wien, dort durfte er die schwangeren Frauen zeichnen. Das waren in erster Linie Frauen aus der Unterschicht, arme Frauen, die dort gratis behandelt worden sind und die sich auch nicht wehren konnten dagegen, dass da ein junger Mann daherkam, der sie jetzt zeichnete.