
Gedenkstätten - Institutionen der Demokratie
Radiowissen
Moderne Gedenkstätten und Digitale Medien
In diesem Kapitel wird die Nutzung moderner Ausstellungsformate in Gedenkstätten zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der Geschichte thematisiert. Besonders wird die Rolle von Social Media, wie TikTok, hervorgehoben, um junge Menschen zu erreichen und die Erinnerungskultur lebendig zu halten.
Für Angehörige sind sie Orte der Trauer - Besucherinnen und Besucher sollen über vergangenes Leid informiert und für die Gefahren der Zukunft sensibilisiert werden. Doch ob Gedenkstätten den hohen Ansprüchen einer nachhaltigen Wirkung gerecht werden können, ist nahezu unerforscht. Autor: Justin Patchett (BR 2025)
Credits
Autor dieser Folge: Justin Patchett
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Friedrich Schloffer
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
- Prof. Dr. Jörg Skriebeleit (Leitung KZ-Gedenkstätte Flossenbürg),
- Rikola-Gunnar Lüttgenau (Historiker in der Gedenkstätte Buchenwald),
- Dr. Bert Pampel (Politologe)
- Dr. Iris Groschek (verantwortlich für Social Media der KZ-Gedenkstätte Neuengamme)
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Literatur:
- Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist, ein Buch von Bert Pampel - Campus Verlag
- Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes: Förderinstrument im geschichtspolitischen Spannungsfeld – Detlef Garbe
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Geschichte:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
Alles Geschichte – Der History-Podcast
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 Zsp. Gedenkstätten Skriebeleit:
Dass Verbrechen in einem unvorstellbaren, und ich mag diese Allgemeinwörter nicht, in einem wirklich schwer vorstellbaren Maße an diesen Orten begangen worden sind. Das zieht Menschen hierher und dafür stehen diese Orte.
02 Zsp. Gedenkstätten
Wie können Menschen Menschen sowas antun? Das heißt, der Blick in den Höllenschlund und die Vergegenwärtigung, die an solchen Orten stattfindet, bringt einen an das Fundamentalste von Humanität. Und das merken Menschen, egal mit welchen sozialen, kulturellen, religiösen oder Altershintergründen sie hier auftauchen, das merken nicht alle, aber viele. Das betrifft ja auch mich. Das ist ein Ort, wo es keine Menschenwürde gab.
Musik Ende
Erzählerin:
Prof. Jörg Skriebeleit ist der Leiter der KZ-Gedenkstätte in Flossenbürg. Ein Ort, den er seit seiner Kindheit kennt. Er wächst in der nördlichen Oberpfalz, in Vohenstrauß auf. Ganz in der Nähe von Flossenbürg. In seiner Kindheit besucht er das ehemalige Lager mit seinen Eltern.
03 Zsp. Gedenkstätten Skriebeleit:
Flossenbürg ist ja ein schwieriger Ort, ein irritierender Ort, weil es im Prinzip eine Parklandschaft war. Also es gab zwar eine Gedenkstätte, die aber als Friedhof, als Waldfriedhof gepflegt worden ist. Ich erinnere eigentlich nur, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass da Menschen geschunden und ermordet wurden. Das Krematorium, sowas hatte ich vorher noch nicht gesehen. Und die Erzählung, dass da Menschen verbrannt wurden. Das war ein befremdlich gruseliges Gefühl, das da zurückblieb. Aber mehr auch nicht.
Erzählerin:
Auf dem ehemaligen Lagergelände entstand nach dem Krieg eine Wohnsiedlung. Auf Hinweisschildern zur Gedenkstätte fehlen lange die Buchstaben „KZ“. Jörg Skriebeleit wartet in Berlin auf ein Stipendium für seine Doktorarbeit, als der Kulturwissenschaftler Mitte der 1990er Jahre ein Stellenangebot aus seiner alten Heimat bekommt. Er soll die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg neugestalten, mehr als 50 Jahre nach der Befreiung des Lagers.
04 Zsp. Gedenkstätten Skriebeleit:
Die 90er Jahre, also der 50. Jahrestag der Befreiung, war ja das erste gemeinsame Großgedenken des wiedervereinigten Deutschlands. Und es war überhaupt nicht klar, ob jetzt die Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen verdrängt oder überdeckt. Das heißt, wir sind in einem gesamtgesellschaftlich hochpolitischen Diskurs und in einer extrem hohen Aufmerksamkeit.
Musik: Recalling the trauma
Erzählerin:
Genau wie Flossenbürg geraten viele ehemalige Konzentrationslager nach dem Krieg zunächst in Vergessenheit. In Sachsenhausen, Bergen-Belsen oder Neuengamme werden die Krematorien abgerissen. Die Erinnerung an den Völkermord des NS-Regimes an rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden ist in der Bundesrepublik verknüpft mit Orten wie Dachau oder Auschwitz. Genau wie die Verfolgung von Homosexuellen, politischen Gegnern, Sinti und Roma, Behinderten und Menschen aus Osteuropa. Diejenigen, die sich nach dem Krieg für KZ-Gedenkstätten einsetzen, gelten als Nestbeschmutzer und sind bis in die 1980er Jahre oft in der Minderheit.
05 Zsp. Gedenkstätten Lüttgenau:
Im Westen waren es tatsächlich im Wesentlichen verwaltete Friedhöfe, wo es keine Mitarbeiter gab, wo es keine Sammlung gab, keine Archive gab, keine wissenschaftliche Forschung gab.
Erzählerin:
Sagt Rikola-Gunnar Lüttgenau, Historiker und Kurator der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald. Anders ist es nach dem Krieg in der DDR.
06 Zsp. Gedenkstätten Lüttgenau:
Das gab es schon zu DDR-Zeiten, weil eben Überlebende gesagt haben, wir müssen die Erinnerungen auf Dauer stellen und damit gab es in einer Gedenkstätte wie Buchenwald, wenn Sie so wollen, eine gelungene Infrastruktur, die westdeutsche Gedenkstätten zu dem Zeitpunkt Anfang der 90er Jahre noch nicht hatten. Das musste erst nachgeholt werden in den 90er Jahren. Und da hat tatsächlich erstmals auch die Bundesrepublik gesagt, ja, das ist eine nationale Aufgabe, denn tatsächlich vor 1990 gab es keine einzige Gedenkstätte in Westdeutschland, die Bundesgelder bekommen hätte. Nach 1990 ist es dann erstmals erfolgt.
Erzählerin:
In der „Gedenkstättenkonzeption“ bekennt sich der Bund 1999 zu einer dezentralen Erinnerungskultur und ermöglicht die Förderung von Gedenkstätten. Die 1990er Jahre gelten daher auch als die Jahre des „Memory Booms“, sagt Jörg Skriebeleit, von der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.
07 Zsp. Gedenkstätten Skriebeleit:
Und als wir hier Mitte, Ende der 90er Jahren begonnen haben, diesen Ort neu zu konzipieren, ist es unter der Überschrift Wiederentdeckung eines europäischen Erinnerungsortes gelaufen.
Wichtig war für uns erstmal, einen zugewachsenen, einen bewusst verschwundenen, zum Verschwinden gebrachten Verbrechensort in dem, was noch da ist, wieder sichtbarer zu machen.
Erzählerin:
Unter der Leitung von Skriebeleit werden große Teile des Bewuchses abgeholzt. Grabungen durchgeführt, bis die Spuren der Baracken entdeckt werden. Heute gibt es in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zwei Dauerausstellungen, und ein Bildungszentrum mit einem Museumscafé.
08 Zsp. Gedenkstätten Skriebeleit:
Mir persönlich und uns als dann eine Einrichtung, die sehr schnell gewachsen ist, auch mit den Kolleginnen und Kollegen, war es fundamental wichtig, von Anfang an nicht permanent den moralischen Zeigefinger zu erheben, sondern in einer den Opfern zugewandten, selbstkritischen Geschichtserzählung und in immer offener werdenden Bildungsprogrammen über die Verbrechensgeschichte zu informieren, gleichzeitig aber mit Menschen, sowohl den Bewohnerinnen von Flossenbürg als auch denen, die dann vermehrt nach Flossenbürg gekommen sind, in Gespräche zu kommen, welche Bedeutung diese Verbrechensgeschichte für uns in der Gegenwart und Zukunft hat.
Musik: Foreboding of war
Erzählerin:
Seit der frühen Neuzeit markieren Menschen historische Orte, zum Beispiel Schlachtfelder des Bauernkriegs, sagt der Historiker Rikola-Gunnar Lüttgenau. Doch das, was wir heute unter einer Gedenkstätte verstehen, ist geprägt durch die Erinnerung an die Opfer von Verfolgung und Gewaltherrschaft im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Rikola-Gunnar Lüttgenau:
09 Zsp. Gedenkstätten Lüttgenau:
Was auch damit zu tun hat, dass die Konzentrationslager selber ein völlig neues Ereignis sind, was in ihrer Umwertung und Umwerfung all dessen, was vorher gültig schien, viel radikaler, universal, gleichsam in die Zivilisation eingreifen, als das zweite, dritte, vierte, fünfte, sechste Schlachtfeld, was es vielleicht vorher gab.
Erzählerin:
Gedenkstätten sind mehr als ein Mahnmal oder ein Denkmal. Sie sind Institutionen, sagt der Politologe Dr. Bert Pampel. Er leitet die Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.
10 Zsp. Gedenkstätten Pampel:
Eine Gedenkstätte befindet sich am historischen Ort. Eine Gedenkstätte im Sinne, wie ich es verstehe, ist ein Ort, an dem man sich informieren kann über das Geschehen, in dem es eine Sammlung gibt, an dem im besten Fall historische Delikte sichtbar sind, anschaulich sind. Im besten Fall gibt es noch ein Vermittlungsangebot in Form von Pädagogik.
Erzählerin:
Für Angehörige sollen Gedenkstätten außerdem ein Ort der Trauer sein können. Die Besucher sollen Mitgefühl mit den Opfern empfinden und für die Gefahren der Zukunft sensibilisiert werden, sagt Bert Pampel. Doch gelingt das überhaupt?
11 Zsp. Gedenkstätten Pampel:
Ja, da kommen wir zum schwierigen Thema Wirkungen von Gedenkstättenbesuchen.
Musik: Streichquartett Nr. 2
11 Zsp. Gedenkstätten Pampel:
Es gibt so gut wie keine Forschung über die Wirkungen von Gedenkstättenbesuchen. Es gibt einige Versuche, aber die sind oft auf kleiner Datengrundlage. Sie entstehen durch Beobachtungen von Mitarbeitern, sie entstehen durch Einträge in Gästebüchern. Also im Verhältnis zur Bedeutung der Frage, was bewirken Besuche eigentlich und im Verhältnis zu den Ansprüchen, die an Gedenkstätten öffentlich oder auch von den Mitarbeitern selbst gestellt werden, ist die Forschung kläglich.
Erzählerin:
Bert Pampel zählt zu den wenigen Wissenschaftlern, die zur Wirkung von Gedenkstätten geforscht haben. Er sagt, Besucher erfahren in Gedenkstätten durchaus Neues. Zum Beispiel, wie es den Häftlingen dort ging. Anders sieht es bei der Frage aus, wie es überhaupt so weit kommen konnte.
12 Zsp. Gedenkstätten Pampel:
Und da haben die Untersuchungen, die wenigen Untersuchungen, die es gibt, ergeben, dass der Besuch nicht notwendigerweise simplifizierende, vereinfachte Deutungsmuster, wie zum Beispiel die These vom Befehlsnotstand, dass sich Täter nicht anders verhalten konnten oder dass die Mehrheitsbevölkerung davon nichts wusste, von den Verbrechen. Die ändern sich nicht durch solche Besuche. Also da gibt es wenige Anhaltspunkte dafür.
Erzählerin:
Auch die Frage, ob sich rechts- oder linksextreme Einstellungen durch einen Besuch ändern, haben wenige Studien erforscht. Diese deuten jedoch darauf hin, dass Gedenkstättenbesuche in dieser Hinsicht nicht wirken.
13 Zsp. Gedenkstätten Pampel:
Das heißt, weder nimmt Ausländerfeindlichkeit ab, das ist ein Ergebnis, was man schon in den 1980er-Jahren bei Befragungen gezeigt hat, noch ändern sich Einstellungen zum Nationalsozialismus im Hinblick zum Beispiel auf eine Frage, die man gestellt hat, die lautete, der Faschismus hatte auch seine guten Seiten.
Erzählerin:
Gedenkstätten können im besten Fall bewirken, dass Einstellungen in Frage gestellt werden, sagt Bert Pampel. Doch wie lassen sich Bewusstseinsänderungen überhaupt feststellen? Möglicherweise gibt es einen Effekt, der wissenschaftlich schwer zu erfassen ist. Jörg Sriekebeleit von der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.
14 Zsp. Gedenkstätten Skriebeleit:
Es ist immer so ein bisschen die Erwartung nach diesen Gedenkstättenpädagogischen Marienerscheinungen.
Du schickst die in eine Gedenkstätte und dann werden sie gute Demokraten. So einfach funktioniert das überhaupt nicht. Messen kann man es sowieso nicht. Und auch nicht an Wahlergebnissen. Das ist eine totale Schimäre.
Also ich glaube, wir müssen auch extrem mit in Betracht ziehen, dass das, was Menschen hier ganz real empfinden, als Erlebnis, als Emotion, ein nicht messbarer, aber vielleicht doch auch nachhaltiger Effekt wird.
Musik: Sad story alt
Erzählerin:
Jörg Skriebeleits Schreibtisch steht in der ehemaligen Lagerkommandantur – im Büro des „Schutzhaftlagerführers“. Als Leiter der Gedenkstätte beobachtet er oft, wie sich Besucher über das Gelände bewegen und worüber sie sprechen.
15 Zsp. Gedenkstätten Skriebeleit:
Und auf einmal sitzen da junge Leute und machen da Pause und blicken aufs Lager und unterhalten sich. Das ist das, was man so mitkriegt, wenn man daran vorbeigeht. Die unterhalten sich ganz anders als vor einer Informationstafel. Aber nicht anders despektierlich, sondern anders tiefer.
Erzählerin:
Das, was Besucher abseits einer Führung durch die Gedenkstätte erleben, kann prägende Eindrücke hinterlassen. Auch wenn sie sich mit Fragen beschäftigen, die nicht direkt mit dem Holocaust zu tun haben, kann das zu einer nachhaltigen Wirkung beitragen.