
Berliner Märchentage: Alte Sagen, neue Fragen
SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Warum antike Mythen politisch wirken
Moderation und Petra diskutieren, wie Ovids Geschichten als Folie für politische Deutungen dienen können.
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Episode notes
Ein kleiner Saal in einem ehemaligen Schulbau im Prenzlauer Berg. Hier findet ein Erzählabend der Berliner Märchentage statt. Petra Venzke ist eine der vier Erzähler*innen. Sie freut sich jedes Jahr auf das Festival.
„Es sind die 36. Märchentage, das ist wirklich viel für die Erzählerei. So eine lange, anhaltende, ununterbrochene Tradition ist schon was Besonderes, würde ich sagen."
Jeden November gibt es Hunderte Veranstaltungen in Berlin und Brandenburg: Lesevormittage in den Bibliotheken für Kinder, Märchentheater auf den Bühnen, Erzählabende in Vereinen, wie hier im Danziger 50: Live und aus dem Stegreif erzählt, für Erwachsene.
Die ersten Gäste hängen ihre Jacken an die Garderobe. Einige von ihnen sind selbst im Erzählbusiness und wollen gucken, was die Kolleginnen hier machen.
Petra Venzke weiß: „Die Erzähler und Erzählerinnen, das ist ein ganz kleines Szenchen, wir sitzen immer zwischen Bühne und Literatur, irgendwie so."
Und dann geht es los. Petra Venzke, Antje Rebecchi, Christian Lisker und Thomas Pannek stellen sich nebeneinander auf – gegenüber vom Publikum: „Dieser Mensch namens Ovid, der hat ein Buch geschrieben mit dem schönen Titel Metamorphosen und über 250 Geschichten, von denen wir euch heute Abend vier erzählen werden."
Ovids Mythen zwischen Antike und Heute
Was ist das Spannende an Ovids Metamorphosen heute? An Märchen, die vor über 2000 Jahren geschrieben worden sind? „So alt, wie die sind, können einfach eine Folie sein. Die sind, je nachdem, wie man es hört, politisch oder nicht", weiß Venzke. Schon das Märchen von der Schöpfung, das Petra erzählt, ist politisch. Die Götter im Olymp lieben die Welt, die Elemente, die Pflanzen und die Tiere. Doch dann hat Prometheus eine weitere Spezies erschaffen. Mit der war am Anfang auch noch alles in Ordnung: Sie nahm sich nur, was die Natur freiwillig hergab. War friedfertig. Kannte keinen Zwang und keine Gesetze. Venzke erzählt: „Aber bald da flohen die Freundschaft und die Liebe und die Nachsicht, und es folgten die Rachsucht und die Wut und die Gier. Und die Menschen schickten Schiffe über das Meer und beanspruchten fremde Küsten für sich. Und das Land, das bis dahin allen gehört hatte, wie die Luft und das Licht und das Wasser, das unterteilten sie mit Grenzlinien."Was alte Geschichten über uns erzählen
Dass Menschen Gebiete für sich beanspruchen, die ihnen nicht gehören – zweifellos aktuell. Und auch die Geschichte von Hermes und Zeus lässt sich ganz leicht in die Gegenwart verlegen. Die beiden wollen herausfinden, wie es um die Menschheit bestellt ist. Also begeben sich die Götter auf die Erde, verkleidet als einfache Menschen. Das Ganze ist eine Art Willkommenskultur-Test: Sie klopfen an 1000 Türen und sagen sowas wie: „Wir sind müde. Es ist auch kalt und du hast sicher einen Ofen. Können wir einen Moment bei dir sitzen?" Die Reaktionen sind… verhalten. „Ihr seid Bettler, wie ich sehe. Geht! Geht mir aus den Augen!" Erst in der allerletzten Baracke guckt ihnen jemand ins Gesicht und lässt sie reinkommen. Applaus. Sandra hat die Performance der vier Erzähler*innen gefallen: „Ich mochte das mit wunderbarer Stimme und Bildhaftigkeit dargestellte, sodass man sich sehr hineinversetzen konnte." Marta ist die jüngste im Raum und fühlt sich durch die Geschichten in ihrem kritischen Blick auf ihre Mitmenschen bestätigt: „Alle waren zusammen, die ganzen Tiere und so, das fanden die Götter so toll, und dann kamen ja die Menschen und somit auch die Probleme auf der Welt. Aber im Endeffekt, so ist es halt auch irgendwie, muss man ganz ehrlich auch so sagen."Einen Lösungsvorschlag gibt es nicht
Die Probleme vor 2000 Jahren ähneln denen von heute. Ovid hält uns einen Spiegel vor, sagt Christian. Christian: Es ist interessant, wie schnell das ein Impuls ist, dass ein bestimmtes Verhalten Strafe verdient oder braucht oder muss, um in irgendeiner Form, um Gerechtigkeit herzustellen. Wie es besser ginge, das wird nicht erzählt. Christian meint: „Es wäre schön, wenn Geschichten wie diese immer eine Lösung parat hätten. Das haben sie nicht. Und deshalb ist es auch schön, Geschichten so stehen zu lassen, wie sie sind." Auch wenn Zeus und Hermes nur einfällt, die Häuser der 1000 zugeschlagenen Türen zur Strafe in einer Sintflut zu versenken. „Dort, wo früher die Hütten und Häuser und Höfe der Nachbarschaft waren, dort war jetzt sumpfiges Wasser." Aber was richtiges oder falsches Handeln ist – das muss beim Hören oder auch Lesen der Geschichten gar nicht entschieden werden, sagt Andrea: „Für mich ist da drin die Menschheitsgeschichte verwoben. Also ein großer Teil ist Menschheitsgeschichte, Entwicklung, persönliche Entwicklung auch." Sie arbeitet als Sozialarbeiterin mit Menschen mit psychischen Erkrankungen und liest ihnen gern Märchen vor. „Um Wege zu zeigen, um tiefenpsychologisch auch gedeutet zu werden. Also das und auch um den Kreislauf von Natur, von Entwicklung, Vergehen, Werden, Wiederwerden, um Auswege auch zu finden oder zu sehen." Nach eineinhalb Stunden Metamorphosen werden Gäste und Erzähler*innen nach draußen entlassen, ins Zwielicht eines alten Treppenhauses und dann in die Nacht.The AI-powered Podcast Player
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