
Der Mythos vom Räuber Kneißl - Wie aus einem Verbrecher ein Volksheld wird
Radiowissen
Der Mythos des Räuber Kneißl
In diesem Kapitel wird die faszinierende Transformation von Matthias Kneißl von einem gewöhnlichen Menschen zu einem legendären Volkshelden thematisiert. Es wird untersucht, wie Fiktion und Berichterstattung das Bild des Räubers prägten und ihn in der Bevölkerung als einen edlen Verbrecher darstellten, der gegen soziale Ungerechtigkeit kämpft. Zudem wird die Rolle der Literatur und Theaterkunst in der Entwicklung des Räuberbildes zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert analysiert.
Legenden ranken sich um ihn. Er ist der Held zahlloser Bücher, Theaterstücke und Filme: Mathias Kneißl, genannt der Räuber Kneißl oder der Schachenmüller-Hiasl. Der bayrische Räuber wurde wegen seiner Verbrechen - darunter auch Mord - zum Tode verurteilt. Und doch verehrte man Kneißl schon zu Lebzeiten als Volksheld. (BR 2025)
Shownotes:
Autor: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Sprecher:innen: Thomas Birnstiel
Redaktion: Susanne Poelchau
Interviews:
- Prof. Dr. Elke Höfler, promovierte über Fiktionalisierung von Räubern
Robin Hood - Die Legende vom edlen Räuber
Die Geierwally - Von der Malerin zum Mythos
Sherlock Holmes und sein Autor Doyle - Eine komplizierte Beziehung
Literatur:
- Hugo Friedländer: Räuberhauptmann Kneißl vor dem Schwurgericht. In: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. 1911 (Wikisource)
(historisch interessante Text eineszeitgenössischen Journalisten und Gerichtsreporters)
- Elke Höfler: Der Räuber in der europäischen Literatur. Fiktionalisierung, Fiktivierung und Literarisierung einer populären Figur im 18. und 19. Jahrhundert. Dissertation 2012.
(ausführliche Analyse über das Räuber-Motiv mit sehr interessanten Erkenntnissen wie aus Realität Fiktion wird).
- Horst-Dieter Radke: Räuber und Räuberbanden im deutschsprachigen Raum. Daun 2021. (Überblick über verschiedene Räuber und Räuberbanden vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert).
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR
Ich kann kein Unrecht leiden. Ich kann mich nicht beugen, lieber geh’ ich selber zugrunde.
ERZÄHLERIN
Soll er gesagt haben. Einer, der steckbrieflich gesucht wurde. Zwei Morde, versuchter Totschlag, schwerer Raub und räuberische Erpressung wurden ihm im November 1901 vor dem Schwurgericht Augsburg zur Last gelegt. Und es kam, wie es kommen musste:
ZITATOR
De Woch fangt scho guad o, heit wird i g’köpft.
ERZÄHLERIN
War sein Kommentar, als er an einem Montag im Februar 1902 – der in Wahrheit ein Mittwoch war - erfuhr, dass sein Gnadengesuch vom Prinzregenten Luitpold abgelehnt worden war.
ZITATOR
Zuagricht, hergricht, higricht.
ERZÄHLERIN
Murrte der bayerische Volksmund über den Umgang der Obrigkeit mit dem bayerischen Robin Hood:
ZITATOR
Den Räuber Kneißl.
ERZÄHLERIN
Kneißls Henkersmahlzeit:
ZITATOR
Sechs Maß Bier! (trinkt und seufzt). Aah!
MUSIK hoch und weg
MUSIK „Kneißl-Lied“
In Notstuih hams´n eini, wia ma d´Ochsn bschlagn duat,
beim letztenmoi Rasieren is gflossen no a Bluat.
Der Kerl der hat grad z´ arbatn, des war a wahrer Graus.
Mei Liadl is jetzt gsunga, mitn Kneißl is´ jetz aus!
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Aus? Von wegen. Am 21. Februar 1902 kurz nach sieben Uhr morgens endet im Hof des Landgerichtsgefängnisses Augsburg an der Karmelitengasse durch das 80 Pfund schweren Fallbeil einer Guillotine Matthias Kneißls irdische Existenz. Doch der Mythos lebt!
Ein Leben, das auf dem Schafott endet, wird zum Stoff überbordender Volksverehrung, der Räuber Kneißl zum Helden verklärt.
O-Ton 1 Höfler (03:07)
Und dann hat es eben bei Kneißl zum Beispiel ein Volkslied gegeben, das wahrscheinlich zu der Zeit alle konnten. Wir haben Berichterstattungen in Flugblättern, und man hat halt natürlich sehr viel erzählt von diesen Personen. Und da ist es dann auch von der realen Person ein bisschen ins Fiktive schon gegangen. Wir kennen das: wir erzählen was, jeder tut, so ein bisschen was dazu, so das Stille-Post-Prinzip und schnell wird aus einem normalen Menschen ein Übermensch, der übermenschliche Fähigkeiten hat, der besondere Dinge leistet, die er vielleicht so gar nicht geleistet hat.
ERZÄHLERIN
Erzählt die Assistenzprofessorin für Mediendidaktik und Sprachendidaktik Dr. Elke Höfler von der Universität Graz. Sie erforscht die Fiktionalisierung und Literarisierung des Räubers.
Kneißl ist ein Beispiel dafür, wie ein Heldenmythos geboren wird, Taten erdichtet und weitererzählt werden.
MUSIK 1 001 „Räuber“;
ZITATOR
Es war am vierten März, in aller Hergotts Fruah,
da gehts in Geisenhofen so sakramentisch zua,
160 Mann san aufmarschiert, zwoa Kommissar´, a Arzt,
da hat si da Kneißl Hiasl hinter de Ohrn a bisserl kratzt.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Aber wer war der Räuber Kneißl denn wirklich?
MUSIK „Treibjagd“; ZEIT: 00:47
ZITATOR
Von kleiner Gestalt (nur 1,60 – 1,64 Meter groß), untersetzt, blonde in der Mitte gescheitelte Haare, dunkelblondes Schnurrbärtchen – nach neueren Erhebungen zeigt sich Kneißl auch mit schwarz gefärbten Haaren und schwarz gefärbtem Schnurrbärtchen – blaue Augen, blonde Augenbrauen, ovales Gesicht, oberbayerischer Dialekt, am linken Unterarm eine Tätowierung (einen Armbrustschützen und die Jahreszahl 1892 darstellend) und am linken Oberschenkel zwei alte Schussnarben; auch soll er eine Warze am Hals haben und kleine Ohrringe tragen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Die Beschreibung auf einem polizeilichen Steckbrief von 1901 deckt sich mit der Realität, die uns auf Fotos von Mathias Kneißl entgegenblickt.
MUSIK „Namenlos“; ZEIT
Mathias Kneißl, geboren am 12. Mai 1875 in Unterweikertshofen bei Dachau, ist das älteste von sechs Kindern italienisch-deutscher Gastwirte.
ZITATOR
Das Gasthaus ist Treffpunkt von Kriminellen und Umschlagplatz von Diebesgut und Gewildertem.
ERZÄHLERIN
Belegen mehrere Quellen. 1886 zieht die Familie in die Schachenmühle bei Sulzemoos, südlich des Ortsteiles Altstetten am Steindlbach. Neben der Mahlmühle mit einem kleinen Sägewerk lässt sich hier etwas Landwirtschaft betreiben.
ZITATOR
Doch es reicht hinten und vorne nicht. In arger Geldnot kommen die Eheleute auf die Idee, mit ihren Söhnen Alois und Mathias in der Wallfahrtskirche Herrgottsruh bei Friedberg das Altarsilber zu stehlen.
ERZÄHLERIN
Allzu geschickt angestellt haben sie sich dabei offenbar nicht: bald steht die Gendarmerie bei Familie Kneißl vor der Tür. Der Vater stirbt bei der Verhaftung – die genauen Umstände seines Todes sind unklar. Die Mutter bestraft man wegen Hehlerei mit Zuchthaus.
ZITATOR
Die minderjährigen Kinder des Paares überlässt man sich selbst.
ERZÄHLERIN
Mit seinen Brüdern wildert Kneißl, stiehlt Obst, Hühner, ein Schaf und Bargeld. Am 2. November 1892 erscheinen zwei Polizisten in der Mühle. Es kommt zum Schusswechsel. Der jüngere Bruder Alois trifft den Polizeistationskommandanten in den Unterleib. Alois wird dafür zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Er stirbt nach vier Jahren an Tuberkulose. Mathias‘ Strafmaß: fünf Jahre Haft.
ZITATOR
Nach seiner Entlassung arbeitet Mathias kurz als Schreiner, wird von seinem Meister jedoch sofort entlassen, als dieser erfährt, dass Kneißl ein „Zuchthäusler“ ist. Wegen seines Leumunds findet er auch sonst keine Anstellung mehr.
ERZÄHLERIN
So etwas wie Resozialisierung kannte man damals nicht. Und so setzt Kneißl schwer bewaffnet seine Laufbahn als Räuber fort. Nach einem Raubzug, bei dem er Pfandbriefe im Wert von 2.500 Mark erbeutet, wird steckbrieflich nach ihm gesucht.
ZITATOR
Am 30. November 1900 kommt es in Irchenbrunn zu einem Schusswechsel, als man versucht, Kneißl festzunehmen. Zwei Gendarmen werden – wohl durch Querschläger – so schwer getroffen, dass sie später ihren Verletzungen erliegen.
ERZÄHLERIN
Drei Monate später wird Kneißl von 70 Polizisten im Aumacheranwesen in Geisenhofen gestellt.
ZITATOR
Nach eintägiger Belagerung, beschießen 150 Mann das Haus. Eine Dreiviertelstunde später stürmen die Polizisten das Haus. Kneißl erleidet einen Steckschuss in den Kopf, zwei Schüsse in den rechten Arm, einen Streifschuss am rechten Handgelenk und eine lebensgefährliche Verletzung des Unterleibs.
ERZÄHLERIN
Der Volksmund spricht fortan von der Kneißl-Schlacht von Geisenhofen. Der Räuber Kneißl war dingfest gemacht. Nach vier Monaten Flucht, während der er die ganze Gegend in Atem gehalten hatte.
ZITATOR
Am 21. Februar 1902 um 7.00 Uhr wird Kneißl unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Hinterhof des Augsburger Gefängnisses mit der Guillotine enthauptet.
MUSIK ENDE
O-Ton 2 Höfler (24:30)
Bei Räubern war dieses letzte Auftreten bei der Hinrichtung immer sehr interessant. Knicken sie ein? Was sind die letzten Worte, die man eben noch von ihnen hört? Verfluchen sie noch einmal die Obrigkeit? Also da war man schon ziemlich gespannt, wie die quasi diese letzten Momente erleben und das hat dann noch einmal dazu geführt, dass man nach den Hinrichtungen, sich noch einmal interessiert hat dafür. Was war jetzt eigentlich im Hintergrund von dieser Person? Warum ist das so? Und dann hat man diese Dinge noch einmal aufgerollt.
ERZÄHLERIN
So die Räuberforscherin Elke Höfler.
ZITATOR
Der reale Kneißl war ein armer Hund, der in eine Rolle gedrängt worden ist.
ERZÄHLERIN
Meint Toni Drexler, der Kreisheimatpfleger von Fürstenfeldbruck, der sich viele Jahre lang mit Kneißls Schicksal beschäftigt hat.
Der Mensch Mathias Kneißl steigt vom Ehr- und Gesetzlosen zum zeitlosen Volkshelden auf.
O-Ton 3 Höfler (23:41)
Wenn man es mit heute vergleicht, ist es schon so ein bisschen ein Filterblasen-Social-Media-Phänomen. Man drückt halt keine Daumen nach oben, sondern man biegt sich die Dinge oder man teilt die Dinge weiter, die eh schon alle erzählen.
ERZÄHLERIN
Die Stereotypen vom Rebellen gegen die ungerechte Staatsgewalt, der Mythos vom Räuber als Rächer der Unterdrückten und die Wahrnehmung als Opfer zutiefst ungerechter Umstände bestimmen die Erzählung vom Räuber Kneißl. All das wird nicht nur im Nachhinein von Presse oder mündlicher Legendenbildung gewoben. So stark ist der Mythos vom edlen Räuber, dass er auch schon die handelnden Akteure beeinflusst.
MUSIK C1456830 001 „Räuber“; ZEIT: 00:56
ZITATOR
Die Bevölkerung ist leider gar nicht mitteilsam, auch irreführend. Versprechungen von Belohnungen sind wirkungslos.
ERZÄHLERIN
Berichtet etwas das Streif-Oberkommando Althegnenberg am 18. Dezember 1900 von seiner Fahndung nach Kneißl.
ZITATOR
Die Gegend selbst ist schlechtes Terrain: alles Bekannte des Kneißl.
ERZÄHLERIN
Aus Unterweikertshofen, Kneißls Geburtsort, notiert ein Gendarm gar folgende Aussage eines Bauern:
ZITATOR
Wir zahlen unsere Steuern und scheißen auf die Staatsgewalt.
ERZÄHLERIN
Die Bauern durften sich so als Teil des Mythos vom heldenhaften Rebellen gegen die ungerechte Obrigkeit empfinden. Kneißl selbst wiederum, versorgte die Kleinbauern, bei denen er sich versteckte, mit frisch geschossenem Wild.
MUSIK ENDE
O-Ton 4 Höfler (33.27)
Wir tun immer so, als wären diese Influencer*Innen und diese Menschen, die sich so stilisieren, als wäre das ganz ein neues Phänomen. Nein, die Räuber haben sich ja auch selber stilisiert. Es gibt von Schinderhannes den berühmten Auftritt auf dem Ball, also wo er einen Ball veranstaltet hat, um sich zu stilisieren, um sich zu zeigen. Natürlich haben die sich stilisiert, damit sie auch die Unterstützung der Bevölkerung haben. Also im Grunde genommen: Das sind alles Phänomene, die haben wir durch die Geschichte. Und wir tun heutzutage so, als wäre das alles was ganz, ganz Neues.
ERZÄHLERIN
Sagt die Fiktionsforscherin Elke Höfler. Der Diskurs vom und über den Räuber prägt das Bild von Kneißl also nicht nur in der Rückschau, sondern schon zu seinen Lebzeiten.
Aus Mathias Kneißl wurde so Bayerns beliebtester Mörder. Eine Werbeikone im Tourismus und natürlich eine Figur von Liedern, Theater, Film und Fernsehen. Und damit befindet er sich in bester Gesellschaft mit anderen Räubern:
ZITATOR
Matthias Klostermayr, der Bayerische Hiasl, Anführer einer „gerechten Räuberbande“, hingerichtet 1771. Der Wilderer Georg Jennerwein, erschossen 1877…
ERZÄHLERIN
Der Bayerische Hiasl angeblich das Vorbild für Karl Moor in Friedrich Schillers „Die Räuber“, Jennerwein: Held in Romanen, Theaterstücken, Kinofilmen -
Räuber als verklärte Figuren in Anekdoten, Liedern und Legenden?
O-Ton 5 Höfler (02:28)
Man muss sich die Zeit ein bisschen vorstellen. Grundsätzlich es gab Hunger, die waren mit der Obrigkeit unzufrieden, und einige der Räuber haben sich dann auch um die Bevölkerung gekümmert. Das heißt es waren nicht nur Räuber, die waren auch Wilderer. Das heißt, die haben dann Fleisch günstiger unter die Bevölkerung gebracht. Die haben sich ja auch durch den räuberischen Akt gegen die Obrigkeit aufgelehnt.
ERZÄHLERIN
Räuberromantik: Das Motiv vom edlen Räuber, der zwar Verbrechen begeht und als „Verbrecher“ endet, aber zugleich als Beschützer und Befreier der Armen und Entrechteten und als Rebell gegen die Willkür der Machthaber auftritt: ein Spannungsfeld zwischen Held und Anti-Held, in das der Protagonist gesetzt wird.
O-Ton 6 Höfler (03:44)
Und die Dinge wurden dann im Laufe der Zeit auch verschriftlicht. Und da sind dann auch Räuber-Romane, vor allem im neunzehnten Jahrhundert, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, sehr kitschige Räuber- romantische Romane oder auch Theaterstücke entstanden. Und das hat sich dann durchaus weiter gehalten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Und ja, einige Räuber haben wir ja heute noch: Räuber Hotzenplotz, Ronja Räubertochter also vor allem in der Kinderliteratur. Aber natürlich auch die die Konstante, die sich durchzieht: Robin Hood.
MUSIK 3 „Robin Hood und seine fröhliche Schar“
Die 1678 erschienene volksbuchartige englische Prosa-Erzählung um den historisch nicht belegbaren Robin Hood ist so etwas wie die Mutter aller Räuberromane.
MUSIK ENDE
O-Ton 7 Höfler (01:51)
Wir haben jedenfalls in Heldenliedern schon räuberische Personen, die auftreten. Wir haben es im Schelmenroman in Spanien, wo eben räuberische Akte auch passieren. Aber dass der Räuber tatsächlich zum echten Protagonisten wird - und tatsächlich männlich, weil es hauptsächlich Räuber waren und keine Räuberinnen - das war so im achtzehnten Jahrhundert.
ERZÄHLERIN
Zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Bilds vom Räuber hat aber kein Roman, sondern ein Drama:
ZITATOR
Friedrich Schiller: „Die Räuber“. Ein Schauspiel. 1781.
O-Ton 8 Höfler (38:11)
Und da vermutet man: Da geht es um Räuber! Tut es ja nicht! Und das ist ja das Spannende, dass wir quasi ein Räuber-Theaterstück haben, wo es nicht um die Räuberfigur geht oder um den Raub geht, sondern um etwas ganz Anderes. Also reine Moralisierung eigentlich.
ERZÄHLERIN
In Schillers „Räubern“ kulminieren alle politisch-sozialen Spannungen, die Veränderung des Menschenbildes, die Gestaltung einer Heldenfigur in der Gestalt des Karl Moor, der gegen die starren Normen aufbegehrt. Literarisch etabliert sich jetzt einerseits künstlerisch das Interesse für die Psychologie des Räubers, seine sozial- oder zeitkritischen Motive. Andrerseits entsteht nahezu zeitgleich eine kommerzielle Vermarktung von Räubergeschichten: Kolportagen und spannungsbetonte Trivialliteratur.
ZITATOR
1.000 Mark Belohnung: Mord. Kneißl, Mathias, katholisch, ledig, Müller und Schreiner beheimatet in Unterweikertshofen, geboren daselbst 12. Mai 1875.
ERZÄHLERIN
Und die entscheidenden Hebel, die die Fiktion in Gang setzen, sind die realen Räuber der Zeit und ihre Geschichten. Sie verleihen den Erzählungen vom Räuber mit Berichten und Gerüchten, Quellen und Anekdoten scheinbar Authentizität.
O-Ton 9 Höfler (09:55)
Wir haben tatsächlich die Gespräche, die geführt worden sind, Dinge, die dazugekommen sind, die weggenommen wurden. Jemand hat was gesehen. Jemand hat etwas gehört. Das ist dann weitergetragen worden. Und da gibt es ja dann einfach mal Verfremdungen. Und meistens also, wenn die Räuber schon sehr brutal waren, ist es brutaler geworden, erwähnt sie schon sehr edel und gut waren, dann ist es noch edler und noch besser geworden. Also das war diese orale Tradierung. Und dann natürlich in den Medien. Auch die Medien wollten damals natürlich schon an den Mann und die Frau gebracht werden. Es hat eine große Sensationslust gegeben. Es ist auch die Zeit, wo die Menschen angefangen haben, zu lesen im großen Stil. Und man hat natürlich so geschrieben das ist auch gelesen werden konnte, das heißt keine übertrieben schwierige Sprache. Und natürlich auch so ein bisschen sensationsgeil war es natürlich auch, muss man sagen. Es war medienwirksam aufbereitet. Wir haben auch die Prozessakten, die zu der Zeit veröffentlicht worden sind.
ERZÄHLERIN
Im bayerischen Mythos von Räuber Kneißl treffen sich exemplarisch Räuberromantik und Realität.
MUSIK 4 „Früher“;
ZITATOR
Der Räuber-Kneißl-Radweg. Ein bayerisches Gangsterr(o)admovie. An den Flüssen Amper und Maisach rollt es sich leicht dahin. Wer an einem bewölkten Werktag durch die oberbayerische Provinz zieht, braucht nur ein bisschen Fantasie, um sich Kneißl mit dem Fahrrad auf einem seiner Streifzüge vorzustellen. Bewaffnet überfiel er um das Jahr 1900 in der Gegend Einödhöfe. Vielleicht hat er dort im Wirtshaus eine Halbe getrunken oder in dem Hof da drüben Unterschlupf gefunden? Einmal soll er sich in einem Jauchefass vor den Gendarmen versteckt haben. In den ruhigen Dörfern fühlt man sich in jene Tage versetzt.
ERZÄHLERIN
Wirbt der Deutsche Alpenverein für einen 110 Kilometer langen Radweg, der im Mai 2020 eröffnet wurde. Und wer beim Radeln durstig wird, kann zum Beispiel im Bräustüberl Maisach eine Halbe Räuber-Kneissl-Dunkelbier, gebraut nach Original-Rezeptur, trinken.
ZITATOR
Unser Räuber Kneißl. Er war der bayerische Robin Hood. Mutig und unverdrossen hat er sich gegen Ungerechtigkeiten und Obrigkeiten aufgelehnt und ist so weit über die Region hinaus zur Legende geworden.
ERZÄHLERIN
Promotet die Brauerei Maisach.
ZITATOR
Räuber-Kneißl-Räuberessen, Räuber-Kneißl-Musical, Räuber-Kneißl-Oldtimer-Rallye, Räuber-Kneißl-T-Shirts…
MUSIK ENDE
O-Ton 10 Höfler (13:01)
Theaterstücke Gedichte, Lieder, Volkslieder, die irgendwann einmal verschriftlicht worden bin. Es hat Märchen gegeben. Es hat natürlich Sagen gegeben, dann sind irgendwann einmal auch Zeichnungen dazugekommen. Auch frühe Kupferstiche und Holzstiche hat natürlich gegeben. In der heutigen Zeit gibt es Comics, es gibt Graphic Novels. Es gibt den Film es gibt Hörspiele. Ich glaube, es gibt nichts, was es nicht gibt zu Räubern.
ERZÄHLERIN
Erläutert Räuberforscherin Elke Höfler zur Medialisierung des Räubers. Alles Klischees? Reine Erfindung? Bloße Fiktion?
O-Ton 11 Höfler (22:36)
Also es gibt ganz unterschiedliche Abstufungen von der realen Figur hin zu einer sehr stark fiktionalisierten Figur, also stark stilisierten Figur, wo dann halt meistens - bei Kneißl war’s halt so - die positiven Aspekte - der arme Mensch, der abgerutscht ist, dem Unrecht zuteilgeworden ist und der unverschuldet eigentlich in diese Räuberkarriere eingetreten ist und dann das Beste draus auch für das Volk gemacht hat - das tradiert sich halt dann. Und natürlich werden die Geschichten dann einfach weitererzählt. Die Räuber sind halt in ihren Regionen Volkshelden.
ERZÄHLERIN
Der legendäre Räuber Kneißl steht exemplarisch für die romantisierte Figur vom Räuber mit ihrem Ahnherren Robin Hood:
ZITATOR
König der Vagabunden, König der Diebe, Helden in Strumpfhosen für Liebe und Gerechtigkeit.
ERZÄHLERIN
Und zugleich ist Mathias Kneißl innerhalb all der Mythen, Legenden und Sagen vom Räuber ein Sonderfall.
O-Ton 12 Höfler (36:20)
Kneißl ist einer der wenigen, wo wir wirklich - nennen wir es einmal faktuale - Artefakte haben, die übrig geblieben sind. Nämlich eben die Fotografien. Arm auf dem Krankenbett oder bei der Verhaftung. Also da gibt es tatsächlich Fotografien. Da tun wir uns mit dem Stilisieren tatsächlich ein bisschen schwer. Also aus dem Mann jetzt einen quasi Robin Hood zu machen, eine makellose Schönheit. Soll nicht heißen, dass er damals nicht ein Frauenschwarm war. Aber wir haben halt tatsächlich Artefakte, die uns ein bisschen von der Imagination nehmen.
ERZÄHLERIN
Bei Kneißl schränken nachprüfbare Fakten die Mythenbildung ein. Das macht ihn so besonders und spannend.
O-Ton 13 Höfler (37:19)
Wir haben die Bilder, wir haben die Fotografien, wir haben dann auch schon echte Tageszeitungen zu der Zeit, die halt auch ein bisschen an journalistischen Anspruch gehabt haben und nicht nur die Sensationsgier stillen wollten. Und das macht, glaube ich, aus Kneißl schon eine ganz besondere Figur, wo wir, glaube ich, auch in Zukunft noch einiges hören und lesen und sehen werden.