
Bodenentsiegelung - Wenn Asphalt und Beton weichen
Radiowissen
Die Bedeutung der Entsiegelung
In diesem Kapitel wird die Problematik der FlĂ€chenversiegelung in Deutschland und die Herausforderungen der Entsiegelung thematisiert. Die Juristin erlĂ€utert notwendige MaĂnahmen und gesetzliche Rahmenbedingungen, um den Verlust fruchtbarer Böden zu stoppen und die ökologischen Funktionen des Boden zu schĂŒtzen.
Bodenentsiegelung macht StĂ€dte grĂŒner und hilft, dass wertvolles Regenwasser versickern kann. Doch die Zauberlösung gegen FlĂ€chenfraĂ ist sie nicht. Denn ein von Beton und Zement befreiter Boden braucht Jahrhunderte, um all seine natĂŒrlichen Funktionen wieder zu erlangen. Von Brigitte Kramer (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Werner HĂ€rtl, Gudrun Skupin
Technik: Matthieu Belohradsky
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Nadine Pannicke-Prochnow, Geo-und Agrarwissenschaftlerin, Helmholtz-Zentrum fĂŒr Umweltforschung, Leipzig
Juliane Albrecht, Juristin, Leibniz-Institut fĂŒr ökologische Raumentwicklung (IĂR), Dresden
Matthias RĂŒhl, Ingenieur und Raumplaner, Sugenheim/Mittelfranken
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ZUM PODCAST
Literatur:
Studie des Umweltbundesamtes âBessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassungâ:
ZUR HOMEPAGE
Wir freuen uns ĂŒber Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Matthias RĂŒhl
Wir haben die Bewerbung von Ipsheim damit begrĂŒndet, dass wir gesagt haben, Ipsheim ist ein Asphaltsee. Das war wirklich so, dass alle FlĂ€chen im Ort komplett asphaltiert waren, also versiegelt waren.
SPRECHER
Der Raumplaner Matthias RĂŒhl betreut seit mehr als 25 Jahren die Gemeinde Ipsheim in Mittelfranken, sowie rund zehn andere Orte in der Region. Er berĂ€t die GemeinderĂ€te in Sachen nachhaltige StĂ€dtebauförderung. Matthias RĂŒhl setzt sich fĂŒr mehr GrĂŒn in StĂ€dten und Dörfern ein.
O-Ton 2 Matthias RĂŒhl
Bei jeder MaĂnahme, die wir gemacht haben, war es eine Entsiegelung. Es ist viel Pflaster gekommen. NatĂŒrlich sind wir mitten in einem Ortskern bei den öffentlichen FlĂ€chen immer in der Notwendigkeit, dass es ja VerkehrsflĂ€chen sind. Man muss drauf gehen, man muss drauf fahren. Also Pflaster mit breiten Fugen oder eben ungebundene Bauweise. Das heiĂt, dass es auf Splitt verlegt ist und dass Regenwasser vor Ort versickert.
ATMO 1 Baustelle in der Stadt
SPRECHER drĂŒber
Pflastersteine statt Asphalt, das ist eine Form der Teilentsiegelung: Dichte FlĂ€chen werden aufgerissen und durch Pflaster oder Rasengitter ersetzt. Der Grund ist weiterhin befestigt, aber er nimmt Regenwasser auf â eine wichtige Bodenfunktion. Und er bietet GrĂ€sern und Blumen Raum fĂŒr Wurzeln. Vollentsiegelung bedeutet, dass Asphalt und Beton komplett weichen und das Erdreich freigelegt wird. Darauf können dann StrĂ€ucher oder BĂ€ume wachsen, es entstehen GrĂŒnanlagen oder Parks.
ATMO Stadtpark
+ Musik 2: Und was sagen die Freunde? - 38 Sek
SPRECHER drĂŒber
Bodenentsiegelung wurde als eine effektive MaĂnahme zur Klimaanpassung erkannt, vor allem in dicht bebauten Stadtteilen oder Ortskernen. Pflanzen binden Kohlendioxid und Staub, befeuchten die Luft, sorgen im Sommer fĂŒr KĂŒhlung. Derzeit herrschen in versiegelten InnenstĂ€dten bis zu zehn Grad höhere Temperaturen als im Umland. Und: GrĂŒn schlĂ€gt zwischen Wohnblocks Frischluftschneisen, steigert die LebensqualitĂ€t in StĂ€dten die Bewohner erleben, wie die Jahreszeiten wechseln. (Musik weg)
Trotzdem mĂŒssen Menschen wie Matthias RĂŒhl noch Ăberzeugungsarbeit leisten:
O-Ton 3 Matthias RĂŒhl
Jeder Baum macht Dreck, heiĂt es immer. Dann sage ich: Ein Auto macht eher Dreck. Also ein Baum lebt ja, das ist ein Lebewesen wie wir auch. Er ist nur nicht so schnell wie wir. Und natĂŒrlich verliert er BlĂ€tter. Wir verlieren auch Haare und alles Mögliche. Das verstehen manche Leute nicht. Die JĂŒngeren glaube ich schon eher. Es gibt halt ein paar ganz Alte, die das noch ganz anders sehen. Da hat man einen Baum eher mit der MotorsĂ€ge gepflegt.
SPRECHER
Auch auf privaten GrundstĂŒcken steigern freie FlĂ€chen den Wert. Das ist besonders bei Altstadtsanierungen wichtig. Matthias RĂŒhl spricht von âAufrĂ€umenâ:
O-Ton 4 Matthias RĂŒhl
Das spielt eine groĂe Rolle, weil der Altstadtkern ohnehin sehr stark ĂŒberbaut ist. Im Laufe der letzten Jahrhunderte, muss man schon sagen, sind halt viele Anbauten entstanden und NebengebĂ€ude und Garagen und alles Mögliche. Und wenn man jetzt in diesen Ortskern wieder Leben reinbringen möchte, in leerstehende GebĂ€ude zum Beispiel, den Bestand weiter zu nutzen, zu verĂ€ndern, das muss natĂŒrlich modernisiert werden. Das sind teilweise HĂ€user, wo vielleicht seit 80 oder 100 Jahren nichts gemacht wurde. Aber die FreiflĂ€chen muss man genauso betrachten, weil sonst braucht man ja das Haus gar nicht sanieren. Es ist Lebensnotwendigkeit, denn wenn Sie irgendwo wohnen wollen, dann brauchen Sie auch FreiflĂ€chen. Wenn Sie diese grĂŒnen FreiflĂ€chen nicht haben, ist es unattraktiv.
ATMO Dorfstille
SPRECHER drĂŒber
Auf dem Land, in Dörfern, wo die JĂŒngeren weggezogen sind, ist das Problem Ă€hnlich:
O-Ton 5 Matthias RĂŒhl
Wo frĂŒher Landwirtschaft war, da gab es StĂ€lle, da gibt es Scheunen, da gibt es irgendwelche Maschinenhallen, die jetzt aber nicht mehr in Gebrauch sind. Und manches kann man eben nicht mehr umnutzen. Einen alten Schweinestall werde ich schwer zu einer Wohnnutzung umfunktionieren können. Da muss halt mal was abgebrochen werden. Und dann muss ich aber auch ein Konzept haben: Was mache ich mit dieser FlĂ€che?
ATMO Baustelle
SPRECHER drĂŒber
Neuer Wohnraum ist die erste Option. Deutschland braucht Wohnungen und eine Bebauung bringt dem EigentĂŒmer oder der EigentĂŒmerin Geld. Letztlich braucht es Ăberzeugung, um sich gegen ein GebĂ€ude und fĂŒr eine Wiese, einen Garten oder einen Park zu entscheiden. Man muss den Wert von Freiraum erkennen.
MUSIK 3: Und was sagen die Freunde? â siehe vorne â 31 Sek
SPRECHER drĂŒber
Theoretisch wird Entsiegelung in Deutschland gefördert, und zwar in mehreren Gesetzen: Im Paragrafen 179 des Baugesetzes steht ein âRĂŒckbau- und Entsiegelungsgebotâ:
Eine Gemeinde kann einen EigentĂŒmer dazu verpflichten, den Abriss oder Teilabriss eines GebĂ€udes zu dulden, wenn dieses âŠ
MUSIK 1 weg
ZITATORIN
â⊠den Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht entspricht und ihnen nicht angepasst werden kann oder MissstĂ€nde oder MĂ€ngel aufweist, die auch durch eine Modernisierung oder Instandsetzung nicht behoben werden könnenâ.
SPRECHER
Leere Garagen, Kasernen, Fabrikanlagen âŠ. StĂ€lle, VerkaufsrĂ€ume, Lagerhallen â könnten also alle weg. Und im Bundesbodenschutzgesetz aus dem Jahr 1999 besagt der Paragraf fĂŒnf, dass âŠ
ZITATORIN
âDie Bundesregierung per Rechtsverordnung und mit Zustimmung des Bundesrates GrundstĂŒckseigentĂŒmer dazu verpflichten kann, bei dauerhaft nicht mehr genutzten FlĂ€chen, deren Versiegelung im Widerspruch zu planungsrechtlichen Festsetzungen steht, den Boden so weit wie möglich und zumutbar wiederherzustellenâ.
MUSIK 4: Aufbruch â xxx â 59 Sek
SPRECHER drĂŒber
Die beiden Paragrafen wurden allerdings nach Recherchen von Juliane Albrecht kaum angewandt. Albrecht ist Juristin und arbeitet am Leibniz-Institut fĂŒr ökologische Raumentwicklung in Dresden. Sie nennt sie ânicht vollzugstauglichâ. Sie fordert, dass das Baugesetz und das Bodenschutzgesetz ĂŒberarbeitet werden. Sprich: Sie mĂŒssen an die heutigen, drastischen Umwelt-Herausforderungen angepasst werden â und hier hat Entsiegelung eine groĂe Bedeutung.
MUSIK hoch
SPRECHER drĂŒber
Auch auf öffentlichem Grund wird Entsiegelung gefördert, hier wird sie auch öfter umgesetzt. Die Kommunen bekommen Subventionen, wenn sie GrĂŒnflĂ€chen schaffen, das steht in den StĂ€dtebauförderungsrichtlinien. Und die âBaunutzungsverordnungâ setzt Gemeinden Obergrenzen fĂŒr Bebauung und Versiegelung . Dazu kommt die sogenannte âEingriffsregelungâ im Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren:
O-TON 6 Juliane Albrecht
Das wichtigste Instrument in der Praxis ist eigentlich die Naturschutzrechtliche Eingriffsregelung. Diese ist im Bundesnaturschutzgesetz verankert und besagt letztlich, dass wenn man in Natur und Landschaft eingreift, zum Beispiel eine StraĂe neu baut oder eine andere bauliche Anlage errichtet und in den Naturhaushalt eingreift, dass man dann eine Kompensation erbringen muss. Und diese Kompensation, die kann eben durchaus auch in Form von EntsiegelungsmaĂnahmen erbracht werden.
Musik 5: Detached â1:50 Min
SPRECHER
Juliane Albrecht hat im Jahr 2022 mit anderen Fachleuten im Auftrag des Bundesumweltamtes einen Forschungsbericht erstellt. Er heiĂt âBessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassungâ und soll politische Entscheidungen erleichtern â fĂŒr mehr Entsiegelung. In der Praxis wird zum Ausgleich von neu verbrauchtem, also verbautem Boden, auch tatsĂ€chlich immer wieder an anderer Stelle Boden entsiegelt. Das Problem: Es gibt zu wenig GrundstĂŒcke, die zur Entsiegelung taugen. Und: Die Ausgleichsvorschrift ist nicht zwingend. Derzeit muss man lediglich âverstĂ€rkt prĂŒfenâ, ob ausgleichende Entsiegelungen möglich sind. AuĂerdem ist Kompensieren ein Deal, bei dem die Natur draufzahlt. Denn Bodenversiegelung heiĂt, fruchtbare Erde luft- und wasserdicht abzudecken. Das fĂŒhrt zum Verlust aller physikalischen, chemischen und biologischen Bodenfunktionen und ist erstmal irreversibel. Boden ist ein komplexes Ăkosystem, das aus Bakterien, Pilzen, Tieren, Wurzeln, Steinen, Erde und organischen Resten besteht. Er spielt eine zentrale Rolle im Naturhaushalt, vor allem fĂŒr die Wasser- und NĂ€hrstoffkreislĂ€ufe. Der Mensch kann diesen Naturzustand nicht einfach wiederherstellen, er muss sich ĂŒber Jahrhunderte wieder von selbst bilden. Ist es also sinnvoll, hier fruchtbare Erde unter Asphalt oder Zement zu begraben, fĂŒr eine Wohnsiedlung, einen StraĂenausbau oder einen Gewerbepark, und dort ĂŒberbauten und verdichteten, also toten Boden, freizulegen?
ATMO Wiese, Vögel, Insekten
SPRECHER
NatĂŒrlicher Boden wĂ€chst in unseren Breiten einen Millimeter pro Jahr. Das heiĂt: ein Meter Boden entsteht in etwa tausend Jahren.
Der fruchtbare Mutterboden und der Unterboden eines Ackers sind also mehrere tausend Jahre alt.
ATMO Baustelle
SPRECHER drĂŒber
Jeden Tag werden in Deutschland durchschnittlich 55 Hektar neu versiegelt. Es war aber mal schlimmer: Im Jahr 2000 waren es noch 129 Hektar pro Tag. Das zeigt, dass es ein Problembewusstsein gibt. ATMO 1 weg Bis 2030 sollen weniger als 30 Hektar am Tag neu in Anspruch genommen werden, und bis 2050 strebt die Bundesregierung in ihrer Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sogar eine âNetto Nullâ-Versiegelung an. Die zugrunde liegende Erkenntnis lautet: Boden ist ein endliches Gut. Das heiĂt: Auch bei kompletter Entsiegelung, Sanierung und Wiederherstellung einiger Funktionen wird aus Boden, der von Asphalt und Beton âbefreitâ ist, kein gesunder, fruchtbarer Boden.
MUSIK 6: Fragile life â 1:17 Min
SPRECHER drĂŒber
Der Naturzustand ist also kurz- und mittelfristig unerreichbar. Trotzdem ist Bodenentsiegelung sinnvoll und notwendig, denn eine der Bodenfunktionen, die physikalische, ist relativ schnell wieder hergestellt: Die Wasserbindung. Schwieriger wird es bei den chemischen Funktionen, der Speicherung von NĂ€hrstoffen zum Beispiel fĂŒr gesundes Pflanzenwachstum. Die findet im Mutterboden statt, der nach der Entsiegelung schichtweise neu aufgetragen werden muss.
MUSIK 2 hoch
SPRECHER drĂŒber
Bodenlebewesen schlieĂlich, wie RegenwĂŒrmer, TausendfĂŒĂler, Asseln oder Milben erfĂŒllen enorm wichtige biologische Funktionen. Sie zersetzen Biomasse, also abgestorbenes organisches Material wie Laub oder tote Tiere. Dabei entstehen NĂ€hrstoffe fĂŒr Pflanzen, die mit ihren mehr oder weniger tiefen Wurzeln den Boden durchlĂŒften und auflockern. Viele Pflanzen dienen uns als Nahrung. Ohne lebendige Böden gĂ€be es also auch uns nicht. Sie sind wortwörtlich unsere Lebensgrundlage.
Was muss sich Àndern, damit mehr Boden freigelegt wird?
O-TON 7 Juliane Albrecht
Man braucht Entsiegelungskataster, dass man ĂŒberhaupt erst einmal die Information auch hat, wo FlĂ€chen sind, die in Betracht kommen. Man braucht aber auch fĂŒr die Behörden, von oben sage ich mal, eine RĂŒckendeckung. Man braucht Vollzugshinweise. Ist natĂŒrlich, wenn man so diese Regelung anwendet und auch gar keine Rechtsprechung hat, keine Rechtssicherheit, dann fĂŒrchten Sie ja teilweise dann natĂŒrlich auch die Auseinandersetzung mit den BĂŒrgern. Es kann zu Gerichtsverhandlungen kommen. Also da ist meines Erachtens wirklich so eine strategische Herangehensweise erforderlich.
SPRECHER
Es fehlen eine Strategie und eine klare Rechtslage, das ist Juliane Albrechts Erkenntnis. Das Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren wird immer wieder ĂŒberarbeitet, mit Handlungsempfehlungen und neuen BerechnungsschlĂŒsseln zum FlĂ€chenausgleich. In Berlin beispielsweise soll der Abriss von mehrstöckigen GebĂ€uden als AusgleichsmaĂnahme besonders berĂŒcksichtigt werden, weil dabei groĂe LĂŒcken im Stadtbild entstehen, die die Luftzirkulation verbessern und also der Klimaanpassung dienen.
MUSIK 7: Und was sagen die Freunde? â siehe vorn â 31 Sek
SPRECHER drĂŒber
Im Koalitionspapier der Bundesregierung ist zumindest eine Handlungsabsicht verankert: Darin steht, dass das Bodenschutzrecht von 1999 angepasst werden soll, an die Artenvielfaltskrise und die Klimakrise. Und dass Entsiegelung einen neuen Stellenwert bekommen soll. Und im neuen Klimaanpassungsgesetz von November 2023 ist Entsiegelung Teil der Lösung:
ZITATORIN
âTrĂ€ger öffentlicher Aufgaben sollen darauf hinwirken, dass versiegelte Böden, deren Versiegelung dauerhaft nicht mehr fĂŒr deren Nutzung notwendig ist, in den natĂŒrlichen Bodenfunktionen, soweit dies erforderlich und zumutbar ist, wiederhergestellt und entsiegelt werden.â Beides kann man als Ergebnis des Forschungsberichts zum Entsiegelungspotenzial deutscher Böden werten.
MUSIK 8: âUnd was sagen die Freunde?â â s.o. â 7 Sek
O-TON 8 Nadine Pannicke-Prochnow
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass seit der Veröffentlichung der Studie das Thema Entsiegelung schon mehr ins gesellschaftliche und auch ins politische Bewusstsein gerĂŒckt ist. Wir brauchen hier auch ein Umdenken. Es ist tatsĂ€chlich auch zu beobachten, dass sich zunehmend mehr Kommunen mit dem Thema beschĂ€ftigen und geeignete FlĂ€chen und MaĂnahmen identifizieren, vor allem auch im Hinblick auf eine wassersensible Stadtentwicklung und zur Umsetzung des Schwammstadtprinzips, was ja auch viel wieder in Richtung Klimaanpassung leisten und beitragen kann.
SPRECHER
Nadine Pannicke-Prochnow (sprich: PĂĄnnicke-Prochnoff) hat das Expertenteam geleitet, das im Auftrag des Bundesumweltamtes 2022 die Studie erstellt hat. Die Geo- und Agrarwissenschaftlerin arbeitet heute am Helmholtz-Zentrum fĂŒr Umweltforschung in Leipzig. Die Arbeit war fĂŒr sie ernĂŒchternd und lehrreich, auch, weil das Thema erstmals so umfassend behandelt wurde:
O-TON 9 Nadine Pannicke-Prochnow
Es war definitiv Neuland fĂŒr mich. Ich habe festgestellt, dass die FlĂ€chen fĂŒr EntsiegelungsmaĂnahmen eben sehr knapp sind, also nur circa ein halbes bis ein Prozent der FlĂ€chen in unseren deutschen StĂ€dten können fĂŒr VollentsiegelungsmaĂnahmen genutzt werden. Gerade weil diese Möglichkeiten eben wirklich sehr knapp sind, ist es umso wichtiger, diese wenigen Gelegenheiten dann eben auch zu nutzen.
SPRECHER
Doch wie nutzt man die wenigen FlĂ€chen am besten? Zum Beispiel auch durch unspektakulĂ€re Teilentsiegelung kleiner FlĂ€chen, auch auf dem eigenen GrundstĂŒck:
O-TON 10 Nadine Pannicke-Prochnow
Im Endeffekt sollten wir uns einfach bei jeder versiegelten FlĂ€che fragen, ob die Versiegelung, so wie sie vorhanden ist, wirklich notwendig ist oder ob sie so umgestaltet werden kann, dass die Auswirkungen der Versiegelung reduziert werden. Wenn kleinere TeilflĂ€chen zum Beispiel in den Innenhöfen entsiegelt und bepflanzt werden oder der Belag ausgetauscht wird. Und teilweise sind eben TeilentsiegelungsmaĂnahmen auch wirklich kostengĂŒnstiger, was das Ganze dann eben auch fĂŒr private FlĂ€chen EigentĂŒmerinnen und EigentĂŒmer auch attraktiver macht. Also das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Musik 9: Indetectable - 1:28 Min
SPRECHER drĂŒber
Boden im groĂen Stil freizulegen ist dagegen enorm aufwĂ€ndig: Die Stadt Berlin empfiehlt beispielsweise Folgendes: Neue Erde muss entsprechend der natĂŒrlichen Bodenschichten aufgetragen werden. Das Bodenmaterial sollte nicht durcheinandergeraten und der Hauptbodenart vor Ort entsprechen. Das Ganze sollte bei trockener Witterung und in möglichst wenigen Schritten passieren, und vor allem nicht unter Einsatz schwerer Maschinen, die den Boden verdichten. Empfohlen werden Kettenfahrzeuge mit groĂer LaufflaÌche. Dann mĂŒssen NĂ€hrstoffe zugefĂŒgt und Pflanzen eingesetzt werden, die mit ihren Wurzeln den Boden festigen und durchlĂŒften und organisches Material zum Humusaufbau liefern. Bei unterkellerten GebĂ€uden ist der Aufwand noch viel gröĂer: Da ĂŒberhaupt kein Boden mehr da ist, muss auf Kies und Stein meterhoch Erde aufgetragen werden, wenn dort wieder etwas leben und wachsen soll. Dazu kommt: Die Entsorgung der Baumaterialien â Beton, Ziegel, Mörtel, Fliesen, Glas, Holz, Metall, Gips und DĂ€mmmaterialien â ist teurer, als ein GebĂ€ude einfach stehen zu lassen. Und wer weiĂ schon, was unter der abgetragenen FlĂ€che ist? Bauschutt, Unrat, Kies ⊠im schlimmsten Fall: Altlasten.
O-TON 11 Nadine Pannicke-Prochnow
Gerade bei alten Gewerbe- und Industriestandorten haben wir teilweise Kontaminationen im Boden, die da teilweise noch schlummern. Also seien es eben SchwermetallrĂŒckstĂ€nde oder RĂŒckstĂ€nde von Mineralölen, die irgendwo ausgelaufen sind und dort eben im Boden lagern. Dass das Ganze, dass diese Schadstoffe im Endeffekt ausgespĂŒlt werden, im Grundwasser landen und sich dann dort eben auch groĂflĂ€chiger verteilen, das wollen wir natĂŒrlich verhindern. Also sprich, wenn wir die diese Sperrschicht fĂŒr den Niederschlag entfernen, dann mĂŒssen wir eben auch mögliche Schadstoffe, die sich da im Boden befinden, mit entfernen.
SPRECHER
Sind die FlÀchen freigelegt, können sie mehrfach genutzt werden. Nadine Pannicke-Prochnow bietet kreative Lösungen an:
O-TON 12 Nadine Pannicke-Prochnow
Da gibt es zum Beispiel Möglichkeiten, dass man SportflĂ€chen oder FreizeitflĂ€chen schafft, die dann aber im Fall von Starkregenereignissen auch als FlĂ€chen genutzt werden können, um eben diese Wassermassen erst einmal zwischenzuspeichern und aufzufangen. Oder inwiefern gibt es die Möglichkeit, dass wir diese GrĂŒnflĂ€chen in den Wohngebieten, die wir dort schaffen wollen, auch fĂŒr eine regionale Produktion und Wertschöpfung nutzen können? Also sprich, inwiefern kann man hier die essbare Stadt zum Beispiel schaffen? Oder inwiefern können wir hier kleine Streuobstwiesen schaffen? Und fĂŒr diese multifunktionalen FlĂ€chennutzungsansĂ€tze, denke ich, haben wir definitiv Luft nach oben.
SPRECHER
Entsiegelung bringt Mehrwert. Aber sie ist keine Zauberlösung. Deswegen rĂ€t Nadine Pannicke-Prochnow zu einem ganz neuen Umgang mit dem âendlichen Gutâ Boden:
O-TON 13 Nadine Pannicke-Prochnow
Also langfristig ist es hier schlauer, eine FlĂ€chenkreislaufwirtschaft zu etablieren, also das heiĂt vorhandene FlĂ€chen und GebĂ€ude so lange und so oft wieder zu nutzen, wie es geht. In vielen FĂ€llen bedeutet das ein Umbauen oder Umgestalten von GebĂ€uden und FlĂ€chen, um sie den neuen Anforderungen anzupassen. Unterm Strich ist es also ökologisch und volkswirtschaftlich nachhaltiger, den vorhandenen Bestand an gebauter Umwelt so gut wie möglich weiter und wieder zu nutzen. Das spart nicht nur Ressourcen und Kosten fĂŒr die Gesellschaft, sondern reduziert eben auch die Notwendigkeit fĂŒr neue FlĂ€cheninanspruchnahmen und neue Versiegelungen.
Musik 10: Fragile life â siehe oben â 22 Sek
SPRECHER
Boden ist Lebensgrundlage. Er leistet zentrale Dienste im Naturhaushalt. Er ist ein komplexes GefĂŒge, das leicht zerstört werden kann. Und Boden ist erschöpflich und definitiv kein Konsumgut.
O-TON 14 Nadine Pannicke-Prochnow
Wir sollten besser mit dem auskommen und haushalten, was wir bereits haben, anstatt immer wieder neu zu beanspruchen, und auf der anderen Seite gleichzeitig gebrauchte GebÀude ungenutzt verfallen zu lassen und dann am Ende zu entsorgen.
MUSIK 11: Indetectable â siehe oben â 52 Sek
SPRECHER drĂŒber
Die ideale Zukunftsstadt ist also einerseits grĂŒner und offener, zugleich werden bestehende GebĂ€ude intensiver genutzt, um den Verbrauch von fruchtbarem Boden im Umland zu vermeiden. Was fehlt, sind eine Strategie und eine klare Rechtslage, die den Weg dahin weisen und erleichtern. Und ein Umdenken, das die Erkenntnis bringt, dass Boden ein endliches Gut ist, dessen Naturzustand durch Verbauung verloren geht. Entsiegelung ist wichtig, aber sie löst nicht alle Probleme. Den Schaden, den Versiegelung anrichtet, kann sie nur zum Teil und unter groĂem Aufwand beheben.