

Podcast - Deutsch
Martin Burckhardt
Dieser Podcast präsentiert Buchkapitel, die sich zu Audiostücke gewandelt haben, aber wird auch Gespräche mit anderen Autoren enthalten. martinburckhardt.substack.com
Episodes
Mentioned books

Jun 13, 2025 • 1h 31min
Im Gespräch mit ... Heiner Bielefeldt
Mag eine Deklaration nur eines einzigen Sprechaktes bedürfen, wird es deutlich komplizierter, wenn die Wörter auf die Wirklichkeit treffen - und es darum geht, die hehren Absichten in die Tat umzusetzen. Genau dies ist das Problem der Menschenrechte, die allüberall im höchsten Ansehen stehen, aber vor allem dann auf die Tagesordnung geraten, wenn die Würde des Menschen sich als höchst antastbar erwiesen hat. Spätestens hier wird sichtbar, dass wenig gewonnen ist, wenn man die Menschenrechte, wie es ein Großteil der Philosophen getan hat und immer noch tut, aus dem Naturrecht ableiten will. Hannah Arendt jedenfalls, die sich, in Anbetracht der existenziellen Heimatlosigkeit des Menschen in der Moderne mit dieser Frage beschäftigt hat, war der Meinung, dass man die Menschenrechte nicht aus dem Naturrecht ableiten kann, sondern dass sie historischer, mehr noch, europäischer Provenienz sind. In diesem Sinn ist die Vorbedingung für das Menschenrecht die Annahme, dass der Mensch das Recht besitzt, Rechte zu haben - und dies wiederum setzt die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen voraus, das seine Rechtsansprüche abzusichern gewillt ist. Genau dies war der Grund, der mein Augenmerk auf Heiner Bielefeldt gelenkt hat, der seine ganze berufliche Karriere der Menschenrechts-Frage gewidmet hat. Herausgekommen ist ein Gespräch, das sich langsam, aber unwiderstehlich an die zugrundeliegende Problematik heranzoomt. Oder wie Karl Kraus dies einmal in ein wunderbares Aperçu übersetzt hat: Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück.Bis zu seiner Emeritierung bekleidete Heiner Bielefeldt, der von der Wikipedia als Theologe, Philosoph und Historiker geführt wird, den Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zudem war er, als Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats, mit höchst praktischen Fragen beschäftigt.Von Heiner Bielefeldt sind u.a. erschienen:Themenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

Jun 1, 2025 • 1h 44min
Im Gespräch mit ... Bernhard Krötz
Es passiert nicht allzu häufig, dass jemand, der eigentlich in der höheren Mathematik zuhause ist (und sich dort mit reellen sphärischen Räumen, Liu-Gruppen und Fragen der Spektralanalyse beschäftigt), sich in die Niederungen unseres Bildungssystems hinein verirrt, mehr noch, dass er den Schulunterricht darauf befragt, ob er das, was zu leisten er vorgibt, tatsächlich abliefert. Dass Bernhard Krötz sich diesem Exerzitium unterzogen hat, mag damit zu tun haben, dass ihn die Corona-Krise, als Vater eines heranwachsenden Sohnes, in die häusliche Lehre hinein nötigte. In jedem Fall bespricht Krötz seit dem Jahr 2021 auf seinem YouTube-Kanal den real existierenden Mathematikunterricht. Und weil seinen Videos ein großer Zuspruch beschieden ist, erreichten ihn die Berichte von verzweifelten Eltern und Schülern, die einen nicht-enden-wollenden Strom von Anschauungsmaterial darüber lieferten, wie eine Mathematik ohne Mathematik – und eine Physik ohne Physik – tatsächlich aussehen kann. Wenn Georg Picht in den 60er Jahren eine Bildungskatastrophe ausgerufen hat, fragt sich, welch passendes Wort sich für den heutigen Niedergang finden ließe. Klar ist lediglich: Dieser Qualitätsabstieg hat wenig mit dem grandiosen Selbstbild der Bildungsrepublik Deutschland zu tun. Sonderbarer ist, dass ein Land, das in Ermangelung der entsprechenden Bodenschätze vor allem auf die intellektuellen Leistungen des eigenen Nachwuchses angewiesen ist, hier so schlagend versagt; und dies ist umso erstaunlicher, als das Versagen begleitet wird von einem Chor unermüdlicher Bildungsreformer. Und weil dies eine Frage ist, der ich selbst seit langer Zeit nachhänge, bin ich auf Bernhard Krötz gestoßen, der mit großer Genauigkeit die Sinnwidrigkeiten der schulischen Praxis zergliedert. Versucht man ein Muster herauszupräparieren, könnte man sagen, dass sich hier, dem schönen Bonmot gemäß, nach dem der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, hehre Absichten an die Stelle einer wirksamen Pädagogik gesetzt haben. Wenn sich diese bei genauerem Hinschauen als Schildbürgerstreiche höherer Ordnung entpuppen, stellt sich die Frage, was man leisten muss, um die eigene Torheit nicht zur Kenntnis zu nehmen - was eine andere Betrachtungsweise darauf ist, was sich heutzutage als Aktivismus gebärdet. Sicher ist nur: Wo Wörter Realitäten ersetzen, ist der Weg zur ideologischen Verblendung nicht fern. Und weil diese Entwicklung auf den Zauber des digitalen Zeitalters trifft, mögen die Verantwortlichen auch fürderhin davon träumen, dass man, nach dem Modell des Nürnberger Trichters, den Schülern mit dem Erwerb von iPads das Weltwissen einträufeln kann – und es vor allem darauf ankommt, sie mit einer zeitgemäßen Moralität auszurüsten. Wie wenig diese „weiße Pädagogik“ wirklich mit einer überlegenen Moral zu tun hat, hat Bernhard Krötz am eigenen Leib erfahren müssen. Unversehens nämlich sah er sich, einer flapsigen, nicht weiter ernstgemeinten Bemerkung wegen, den wüstesten Beschimpfungen selbsternannter Tugendwächter ausgesetzt. Aber weil ihn dies nicht im Geringsten hat erlahmen lassen, haben wir uns zu einem anregenden Gespräch zusammenfinden können.Bernhard Krötz lehrt Mathematik an der Hochschule Paderborn. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten wurde er mit dem ERC Advanced Grant des European Research Councils ausgezeichnet, dem höchsten europäischen Forschungspreis. Auf seinem YouTube Kanal seziert er mit beißendem Humor die Schildbürgerstreiche, welche sich die Mathematik- und Physikdidaktiker so einfallen lassen.Bernhard Krötz - HomepageBernard Krötz - YouTube-KanalThemenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

May 18, 2025 • 1h 27min
Im Gespräch mit ... Jens Hacke
Vor einem guten halben Jahrhundert sind Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« erschienen – und auch wenn dieses Werk, als Resultat eines langen geistigen Winterschlafs, etwas in Vergessenheit geraten ist, bietet es doch die psychologisch präziseste Beschreibung dessen, was man als die totalitäre Versuchung der Moderne begreifen kann. Und wenn die Politikwissenschaftler den Totalitarismus allein unter dem Rubrum des totalen Staates verbucht haben, machen heutige, eher dezentral agierende Organisationen klar, dass der Totalitarismus eine Wiederauferstehung erlebt hat, im neuen, überraschenden Gewand. Und dies wiederum ist ein Grund, sich mit Jens Hacke zu unterhalten, der zu der Wiederauflage von Hannah Arendt großem Werk ein langes Nachwort beigesteuert, das selbst die Länge eines kleinen Buches hat. Und weil auf diese Weise die Gedankenwelt der Hannah Arendt revitalisiert wird, lässt sich ein neuer, frischer Blick auf einen Klassiker werden – ein Jahrhundertwerk, das in seiner Bedeutung bis heute noch nicht vollständig erfasst worden ist.Jens Hacke lehrt, dessen Habilitationsschrift sich mit der Ideengeschichte der Weimarer Republik beschäftigt hat und dessen wissenschaftliche Arbeit mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, lehrt als Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg.Von Jens Hacke sind erschienenThemenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

May 11, 2025 • 1h 27min
Im Gespräch mit ... Philipp Sarasin
Wenn Foucault, der in den 70er Jahren noch als randständiger Intellektueller galt, unterdes zum meistzitierten Denker der Welt geworden ist, so ist dies umso merkwürdiger, als Foucault zu den großen Rätselgestalten der Philosophie gehört. Und weil man es zudem mit einem sonderbaren Formwandler zu tun hat, der eine Reihe von bemerkenswerten Selbstverwandlungen hingelegt hat, ist die Beschäftigung mit seinem Werk überaus lohnend – und Grund genug, sich mit Philipp Sarasin zu unterhalten, der im deutschsprachigen Raum wohl der beste Foucault-Kenner ist und ihm gleich mehrere Bücher gewidmet hat. Sarasin seinerseits gehört der Gattung jener furchtlosen Historiker an, welche, in der Postmoderne beheimatet, die Geschichte nicht als Bühne der großen Männer auffasst, sondern als eine komplizierte Textur, in der höchst reizbare Maschinen am Werk sind. Und so bekommt man es nicht nur mit einem verwissenschaftlichten Körper zu tun, sondern mit der Biopolitik des Unsichtbaren – ja, einer eigentlich phantasmatischen Welt. Gänzlich ungewöhnlich aber ist Sarasins Buch 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, in der Sarasin den Disruptionen und Diskursverschiebungen der Gegenwart nachspürt – was ihn zur RAF, zum Centre Pompidou und zur Formierung der Identitätspolitik führt. Und natürlich hat auch hier Michel Foucault seinen Auftritt: als Denker, der sich von den Fantasien der Studentenrevolte verabschiedet und sich stattdessen, in einer sonderbaren Volte, dem Zen und der Frage der Freiheit zuwendet – was zu der Frage führt, wie sich die iranische Revolution und der Neoliberalismus unter einen Hut bringen lassen.Philipp Sarasin hat bis zu seiner Emeritierung Neuere Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich gelehrt. Er warMitherausgeber des Online-Magazins Geschichte der Gegenwart.Von Philipp Sarasin sind erschienen (u.a.)Themenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

Feb 16, 2025 • 53min
Im Gespräch mit ... Burkhard Hofmann
Dass sich ein Psychotherapeut nicht mit den Befindlichkeitsstörungen seiner Landsleute herumschlagen muss, sondern, wie ein Anthropologe, sich um das Seelenleben eines fremden Kulturkreises kümmert, ist eine Seltenheit ersten Ranges – allen Ermahnungen zum Trotz, die sich um das Modewort des Eurozentrismus ranken. In diesem Sinn ist der Hamburger Psychotherapeut Burkhard Hofmann eine absolute Ausnahme, ist er doch der Einladung einer Bahreiner Patientin gefolgt – und hat daselbst, aber auch in einigen anderen Staaten am Persischen Golf eine Reihe von Patienten behandelt. Die Intimität dieses Vorgangs wiederum hat ihm nicht nur Einsicht in das Seelenleben seiner Patienten geschenkt, sondern darüberhinaus den Blick für die kulturellen Besonderheiten geöffnet. Dass hier der Psychotherapeut, seiner Hilfe ungeachtet, die Rolle eines Außenseiters einnimmt, ja gelegentlich selbst in die Position eines Helfershelfer des Scheitan, also des Satans, gerückt wird, bezeugt, in welchem Maße hier noch immer eine kulturelle Kluft waltet – und dass die Psychotherapie keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist, geschweige denn, wie der Ödipus-Komplex, als besserer Partywitz gilt. Dies wiederum macht ein Gespräch mit Burkhard Hofmann nur umso aufregender und erkenntnisfördernder.Burkhard Hofmann, der als als Facharzt für Psychotherapeutische Medizin in eigener Praxis in Hamburg wirkt, ist mit seinem Buch Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Neben seiner therapeutischen Arbeit hat er u.a. auch für Psychologie heute geschrieben.Themenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

Feb 2, 2025 • 1h 48min
Im Gespräch mit ... Gunter Dueck
Will man mit jemandem über den Einstieg in das digitale Zeitalter sprechen, so ist Gunter Dueck einer der kundigsten wie unterhaltsamsten Gesprächspartner. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man hier jemandem gegenübersitzt, der im Rahmen eines Weltkonzerns – der IBM - die Rolle eines Distinguished Engineers, eines Chief Technology Officers und schließlich eines Master Inventors innehatte. Mögen all diese Titel ehrfurchtheischend anmuten, so war das Gespräch mit ihm von einer ungewohnten Leichtigkeit – was mit der omnisophischen Ausrichtung seines Lebens zu tun haben mag. War dem jungen Mann, der auf einem Bauernhof in Groß-Himstedt aufwuchs (einer Gemeinde, die 548 Einwohner hat und 5 Straßen zählt), der Beruf des Schriftstellers verwehrt, so wurde er, dahingehend begabt, zum Professor der Mathematik und ging, in Ermangelung eines entsprechenden Universitätspostens, an das Wissenschaftliche Zentrum der IBM in Heidelberg. Arbeitete er daselbst an der technologischen Ausrichtung der IBM, an Strategiefragen und der Problematik, wie sich ein kultureller Wandel einstellen kann, so führte ihm dies den tiefen Konflikt zwischen der Welt der Zahlen und der Kretativität vor Augen. Folglich konzentrierte sich Wild Duck, wie ihn einer der amerikanischen IBM-Bosse nannte, zunehmend aufs Schreiben und darauf, seine an der Philosophie gewonnenen Einsichten in eine fassliche Sprache zu übertragen – eine Tätigkeit, die sich in einer Unzahl von Büchern und Vorträgen niedergeschlagen hat. Und weil er sich dabei nicht scheut, auch unbequemste Wahrheiten auszusprechen, hat Dueck die Stupidologie eines Carlo Cipolla auf höchste Ebenen hinaufkatapultieren können. Hat mich hier eine Abstraktionshöhe erreicht, bei der die Buzzwords des Geschäftswelt dahinschmelzen wie das Eis in der Sonne, treten andererseits die blinden Flecke unserer Gegenwart umso deutlicher hervor. In jedem Fall versteht man, warum selbst das Arcanum der Computerwelt sich so bitter irren konnte, was die Entstehung der Cloud anbelangt – und warum wir uns auf eine Zukunft der autonomen Automobilität einstellen sollten.Seit seinem Abschied von der IBM lebt Gunter Dueck als Schriftsteller und weithin bekannter Keynote-Speaker. Hier seine persönliche Website.Von Gunter Dueck sind (u.a.) erschienen:Themenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

Jan 22, 2025 • 1h 57min
Im Gespräch mit ... Sama Maani
Schlägt man die Zeitung auf, drängt sich der Eindruck auf, dass die Zeiten durchaus einen Psychoanalytiker gebrauchen könnten, mehr noch: einen Denker, der sich den kognitiven Dissonanzen der Gegenwart gewachsen zeigt. Sama Maani, der lange Zeit als Psychiater und Psychoanalytiker in Wien gearbeitet hat, gehört zweifellos zu jener Gattung – umsomehr, als hier der Blick des Literaten hinzukommt, der sich den Absonderlichkeiten der Gegenwart mit ebenso großer Neugierde wie Furchtlosigkeit zu stellen vermag. Maanis Blick auf die Welt hat insofern etwas Erhellendes, als sich hier unterschiedlichste Welten vermischen: Hat man es einerseits mit einer klassischen, österreichischen Prägung zu tun, kommt hinzu, dass Maanai als Bahai einer religiösen Minderheit angehörte, welcher im Iran des Ayatollah Khomeini die Verfolgung drohte. Hat dies zu einem hochdifferenzierten Blick auf die religiösen Versuchungen beigetragen, kam erschwerend hinzu, dass sich ein Bruder des Vaters in Indonesien den Ruf eines Messias erarbeitet hatte – was bei den eigenen Glaubensgenossen wenig Anklang fand. Mögen diese biografischen Prägungen irgendwann eine Bürde dargestellt haben, stellen sie einen Selbstschutz gegen die identitätspolitischen Verirrungen der Gegenwart dar. Folglich konnte Maani, der zeitweilig auch eine Kolumne im österreichischen Standard unterhielt, mit Essaybänden aufwarten, die provozierende Titel wie „Respektverweigerung“ trugen und dies im Untertitel mit der Aufforderung unterlegten: »Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht«. Das Schönste an unserer Unterhaltung jedoch war, dass sie von einer von einer großen Heiterkeit und Leichtigkeit geprägt war, weswegen das Gespräch ganz mühelos von Freuds Regressionsbegriff zu Musils Schreibblockaden und den komplizierten Problemen der Massenpsychologie übergehen konnte.Sama Maani studierte Medizin in Wien und Philosophie in Zürich. Nach einer Tätigkeit als Psychiater ließ er sich als Psychoanalytiker in Wien nieder – aber wandte sich, der Leidenschaft folgend, zunehmend der Literatur zu.Von Sama Maani sind u.a. erschienen:Themenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

Jan 4, 2025 • 2h 6min
Im Gespräch mit ... Aldo Haesler
Mag die klassische Ökonomie schnell zur Tagesordnung übergegangen sein, lässt sich das in den frühen 70er Jahren aufgekündigte Bretton Woods-Abkommen als Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus begreifen. Seither nämlich ist das Kapital nicht mehr in den Kapitalen zuhause, sondern ist zum Spekulationsobjekt gesichtsloser Finanzmärkte geworden, zudem hat es sich von der Golddeckung gelöst und ist ins free floating eingetreten. Mag diese Revolution unterdessen der Vergessenheit anheimgefallen sein, hat sie in Aldo Haesler doch einen Chronisten gefunden, der den Übertritt in die Postmaterialität, in die Welt des Plastikgeldes, als eine tiefe Krise des Kapitalismus begreift, ja, als Eintritt in einen Gesellschaftszustand, den er, in der Abgrenzung zur Postmoderne, als irreflexive Moderne bezeichnet. Wenn damit ein Gesellschaftszustand gemeint ist, in dem sich Ponzischemen und clickblait-Verheißungen ausbreiten, kehren hier darüberhinaus Gespenster zurück, die zu entziffern es einen weiterem Blickes bedarf, als die klassische Ökonomie ihn zu liefern vermag. Das Gespräch mit Aldo Haesler, der sich wunderbarerweise selbst als Mäanderthaler bezeichnet, war insofern eine große Wanderung, als das Ende von Bretton Woods immer auch Anlass war, tief und tiefer in die fundamentalen Fragen des Geldes hinabzusteigen. War dies eine Frage, die bereits den Vierjährigen so sehr beschäftigt hatte, dass er, um sich in den Besitz einer Spielzeugindianer-Armada zu bringen, einen erfolgreichen Gurkenhandel aufgebaut (und sich dabei, en passant, mit der Arithmetik vertraut gemacht) hatte, so wurde eine Thematik daraus, die ihn ein ganzes Leben beschäftigen sollte. So wandte sich der Student der Wirtschaftswissenschaften, der zunächst an der St. Gallener Universität Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, der Philosophie und der Anthropologie zu – und promovierte unter Aufsicht von Jean Baudrillard und Alfred Sohn-Rethel, einem der großen Unbekannten der Frankfurter Schule. Ziel war auch hier, jenem großen Geldrätsel auf die Spur zu kommen, das von der klassischen Ökonomie, der Soziologie, aber auch von den Humaniora niemals in seiner ganzen Gänze in den Blick genommen worden ist. Und genau das in den Angriff zu nehmen, war ein großes Vergnügen für mich, umsomehr, als mich die Problematik von Bretton Woods vor langer Zeit schon umgetrieben hat.Nach Lehrtätigkeit in St. Gallen, Montréal und Lausanne wirkte Aldo Haesler von 2001 bis zu seiner Emeritierung als Professor der Soziologie an der Universität Caen.Von Aldo Haesler sind erschienen:Themenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

Dec 20, 2024 • 1h 53min
Im Gespräch mit ... Juan Gruben
Wie rutscht ein komplexes, gesellschaftliches System in eine Abwärtsbewegung hinein? Die befremdliche Antwort ist vielleicht, dass die Bewohner selbst, wie die verarmenden Adligen des 19. Jahrhunderts, kein wirkliches Krisenbewusstsein entwickeln, sondern über lange Zeit ein sentimental geschöntes, zunehmend haltloses Selbstbild aufrechterhalten. Schon aus diesem Grund ist der Blick eines Außenseiters interessant, umsomehr, wenn dieser, wie Juan Gruben, an leitender Stelle, gleich mehrere Staatsbankrotte hat begleiten und beobachten können.Als der junge Deutsch-Argentinier Juan Gruben, 1954 in Buenos Aires geboren, im Jahr 1980 als Trainee nach Deutschland kam, verliebte er sich sogleich in dieses Land. Denn auf rätselhafte Weise schien im Wirtschaftswunderland alles perfekt zu funktionieren. Nicht bloß, dass die Züge auf die Minute pünktlich ankamen und wieder abfuhren, zudem konnte er Dinge gewärtigen, die ihm aus seinem von Inflation und Militärdiktatur geplagten Heimatland Argentinien gänzlich unbekannt waren: Rentner, die anstatt in die Armut und die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu gleiten, ihr Leben genossen, zudem eine Nachbarschaftlichkeit, die dem zuvor nur reklamierten Begriff der gesellschaftlichen Solidarität eine Lebenswirklichkeit zuführte. Das Überraschendste aber war, dass es in dieser saturierten Gesellschaft etwas gab, was als höher noch galt als der Reichtum: nämlich der Geist, jene Reputation, die jenen Schichten entspringt, die man gemeinhin bildungsbürgerlich nennt - und all dies war Grund, Deutschland zur Wahlheimat zu machen. Freilich musste der junge Mann, der für die Dresdner Bank eine steile Bankkarriere hinlegte, der zunächst die Lissaboner Repräsentanz übernahm, dann zum Senior Country Manager in Buenos Aires aufstieg, erleben, dass mit jedem Heimaturlaub sein schönes Deutschlandbild eine weitere Beschädigung aufwies – und dass dies nicht zuletzt mit dem Aufstieg des neoliberalen Denkens zusammenhing. Zwar wurde man in den Bankenkreisen nicht müde, von Humankapital und Personalmanagement zu sprechen, gleichwohl schien es, als ob auch die Mitarbeiter nichts weiter waren als Zahlen, Passiva, die man idealiter freisetzen oder durch billigere Arbeitskräfte ersetzen konnte. Hatte man in den Anfangszeiten der Digitalisierung nur die Salden der Konten, mit Codes versehen, an ein Rechenzentrum geschickt, wurde im Verlaufe der Zeit das ganze Geschäftsmodell der Bank ausgelagert – begnügten sich die Banken damit, ihren Kunden jene Papiere und Fondsanteile zu verkaufen, die von Rating Agenturen mit einem Triple-A versehen worden waren. Mochte dies ein Spiel für risikoadverse Lemminge sein, konnte Juan Gruben gleich zweimal in Südamerika erleben, was passiert, wenn ganze Volkswirtschaften in einen Bankrott hineinschlittern. Zum Zeugen eines solchen Desasters zu werden, bei dem Geld-Volatilität und Gesellschaftschaos einander die Hand reichen, wo vor allem Kurzsichtigkeit, Sozialdarwinismus und Korruption reüssieren, ist eine Erfahrung, die nur wenigen Menschen zuteil wird – und aus diesem Grunde war der gemeinsame Rückblick darauf, wie sich im letzten halben Jahrhundert das Bankenwesen, aber auch das Modell Deutschland einer schleichenden Zerrüttung hat anheimfallen können, eine höchst anregende Unterhaltung, eine Unterhaltung, an deren Ende sich die sonderbare Einsicht einstellt, dass Argentinien nun überall ist. Dass nun auch die Bewohner seiner Wahlheimat von den Gespenstern des Zerfalls, Deindustrialisierung, Inflation, politischer Destabilisierung, heimgesucht sind, ist dem bekennenden Helmut Schmidt-Fan ein Gräuel. Und da sich die Sozialdemokratie von ihren eigenen Werten entfernt hat, hat der alte Sozialdemokrat seine Mutterpartei verlassen und engagiert sich nun in in seinem Heimatkreis Pinneberg in der Kommunalpolitik.Als weiterführende Lektüre empfohlenThemenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe

Nov 29, 2024 • 1h 16min
Im Gespräch mit ... Manfred Haferburg
Es gibt nicht viele Menschen, die davon berichten können, wie es ist, im Augenblick eines Blackouts für das Energiesystem eines Landes verantwortlich zu sein. Manfred Haferburg ist einer der wenigen, die auf ein solches Ereignis zurückschauen können. Denn zum Jahreswechsel 1978/79 war der junge Ingenieur als Schichtleiter zuständig für den Betrieb des größten Kernkraftwerks der DDR, Greifswald. Zwar absolvierte er diese Aufgabe mit Bravour, gleichwohl erwies sich der Staat ihm gegenüber als wenig großzügig: Als Nicht-Parteimitglied, das zudem nicht willens war, für die Stasi tätig zu werden, wurde Haferburg zum Objekt einer Operativen Personenkontrolle, festgenommen, verhört und misshandelt und schließlich mit verbundenen Augen aus einem Auto auf die Straße geworfen. All diese Erfahrungen verarbeitete er 2013 in seinem Roman Wohn-Haft, zu dem sein Freund Wolf Biermann ein Vorwort schrieb. Weil der gelernte DDR-Bürger eine ideologische Grundskepsis entwickelt hatte, erweckten die Verheißungen der Energiewende, mit all ihren Versprechungen, seine Skepsis - und so wurde Manfred Haferburg, neben seiner Beratertätigkeit für große Kernkraftunternehmen weltweit, auch publizistisch tätig. Allein die Vorstellung, dass man eine über einhundertzwanzig Jahre gewachsene soziale Plastik binnen kurzem umgestalten könne, mehr noch, dass die Transformation des gesellschaftlichen Energiesystems Amateuren übertragen werden sollte, widersprach dem Ethos des Ingenieurs – und brachte den Publizisten hervor, der die Absurditäten dieser Gesellschaftsentwicklung auf den Punkt bringt. Diese punktgenauen, unideologischen Analysen wiederum haben meine Aufmerksamkeit geweckt – und zu jener anregenden Unterhaltung mit ihm geführt, die hiermit öffentlich wird.Manfred Haferburg studierte an der Technischen Universität Dresden Maschinenbau mit Vertiefungsrichtung Kernenergetik. Nach seiner Arbeit als Schichtleiter für das Kernkraftwerk Greifswald war er nach der Wende für einen großen Energieversorger tätig. Nach einem Umzug nach Paris wurde Berater für große Kernkraftunternehmen - weswegen es wohl mehr Kernkaftwerke von innen gesehen hat als irgendein Politiker. Zudem sitzt er im Advisory Board der in Kanada tätigen Firma Dual Fluid, die Kernkraftwerke neuen Typs entwickelt, welche, anders als die Leichtwasserreaktoren à la Tschernobyl, frei von der Gefahr einer Kernschmelze, zudem sehr viel energieeffizienter sind – was auch zur Minimierung des radioaktiven Abfall beiträgt.Von Manfred Haferburg sind erschienenThemenverwandt Get full access to Ex nihilo - Martin Burckhardt at martinburckhardt.substack.com/subscribe


