Tim Guldimann - Debatte zu Dritt

Tim Guldimann
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Mar 11, 2025 • 46min

Das Internet als Brandbeschleuniger des islamistischen Terrors - Warum radikalisieren sich Jugendliche im Netz und werden zu Terroristen? – mit Ahmad Mansour und Jamuna Oehlmann

Wie erklären sich die Terroranschläge von immer jüngeren Einzeltätern? Dazu Ahmad Mansour, der Geschäftsführer seiner „Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention“: «In Biographien fängt es eigentlich immer nicht religiös an, sondern mit einer persönlichen Krise, (..) mit der Suche nach Identität und endete in der (islamistischen) Ideologie. (.. Deshalb sehe) ich diese Elemente auf psychologischer Ebene.»Ist damit die Individuelle Voraussetzung oder das islamistische Angebot entscheidend? – Jamuna Oehlmann, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus: «Beides ist richtig: Die individuelle Opferrolle, (..) aber auch das grössere Bild: Junge Leute, die hier aufgewachsen sind, (..) mit Migrationsgeschichte, (..) Diskriminierungs- und  Ausgrenzungserfahrungen oder auch Krisen, die sie in die Arme von islamistischen Akteuren treiben, (..) suchen nach einer Aufgabe, (..) nach Halt und diesen Halt bekommen sie in einer islamistischen Gemeinschaft,(..) weil ihnen in Deutschland etwas fehlt.»Mansour lehnt die «Diskriminierung als eine zentrale Ursache für die Radikalisierung (ab...). Das tun wir beim Rechtsextremismus, eine fast gleiche Ideologie mit (..) vielen Parallelitäten: Neigung zu Autorität, Ablehnung von Gleichberechtigung von Mann und Frau, toxische Männlichkeit, Antisemitismus (..): Da nehmen wir die Leute in der Verantwortung und suchen nicht nach einer Entschuldigung.» Seine eigene Erfahrung als Jugendlicher: «Als ich anfing, zu diesen Gruppen zu gehen, war nicht das Entscheidende der Koran oder der Islam an sich. Ich wurde vorher gemobbt und auf einmal sagte der Imam: ‘Du gehörst zu einer Generation, die die Welt beherrschen wird‘ und das gab mir ein Selbstwertgefühl.(..): Ein Gesamtpaket hat das alles super attraktiv gemacht».Oehlmann «Wir haben zu lange die Sozialen Medien als Ort, der sich mit Singen und Tanzen und Life-style Themen befasst, abgetan und nicht die Ernsthaftigkeit verstanden, dass hier Meinungsbildung stattfindet, (..) dass Jugendliche viele Stunden am Tag online verbringen».Hat sich in den letzten Jahren die islamistische Gemeinschaft in Deutschland vergrössert? – Oehlmann: «Absolut, weil das Internet so viele Möglichkeiten für islamistische Akteure bietet, Jugendliche zu rekrutieren mit dem schwarz-weiss Denken, das sich im Internet gut verbreiten lässt, in kurzen Videos auf Tik-Tok oder Instagram. (..) Die Algorithmen sind ein ganz zentraler Faktor (..): man landet relativ schnell in Untiefen islamistischer Ideologien. (..) Islamistische Akteure kann man eben als ‘early adobters‘ bezeichnen».Mansour zur gezielten Rekrutierung von Terroristen: «Wenn man Leute braucht, die einen Anschlag machen, (..) das sind Leute, die einen gewissen Narzissmus und eine gewisse Psychopathie mitbringen (..) Das sind dann die Leute, die (..) Bilder machen mit geköpften Menschen und Menschen live ermorden. Das sind dann Leute, die in Europa Anschläge durchführen.»Zur Präventionsarbeit sagt Oehlmann: «Die Diskussion geht es nach wie vor um die frage, ob Gegennarrative funktionieren. Es sollte nichts unversucht bleiben, auch Falschaussagen zu revidieren und Angebote zu machen für Jugendliche, die Antworten zum Islam suchen (..) Aber es ist ein Tropfen auf den heissen Stein. (..) Das Problem ist, dass die Bundesregierung und die Politiker nicht verstehen, wie gross das Problem ist, und wenig Ressourcen zur Verfügung stellen». Mansour: «Es muss funktionieren. Wir versuchen die Risikofaktoren präventiv anzusprechen (..) in Schulen, in Gefängnisse, in Jugendzentren, in Asylheime und versuchen, schneller zu sein als die Islamisten, (..) offline und online. (..) Wir dürfen einfach nicht diese Orte den Islamisten überlassen. (..) All diese Ansätze sind enorm wichtig, um Gegennarrative in den Sozialen Medien, ein Gegengewicht zu schaffen. Es gibt keine Alternative.»
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Feb 27, 2025 • 44min

«Führt die Krise der deutschen Autoindustrie zur Senkung der Umweltziele?» - mit Jürgen Trittin und Heike van Hoorn

Der frühere Umweltminister Jürgen Trittin sorgt sich, «dass man es versäumt hat, rechtzeitig die richtigen Weichen zu stellen, um eine Automobilindustrie am Standort Deutschland aufrechtzuerhalten. (..) Ich kann der deutschen Industrie nicht ihr altes Geschäftsmodell zurückbringen. Mit billigem Russengas zu produzieren und dann in die Welt zu exportieren, das ist halt vorbei. (..) Die Märkte der Welt sind nicht mehr offen (..) und werden gerade in den USA durch Trump zugemacht.» Und auf die Frage, ob die Strukturanpassung gelingt, antwortet Trittin: «Ich glaube, dass es möglich ist, das setzt aber voraus, dass sich in der Industrie selber die Orientierung ändert, (.. um) die schnelle Entwicklung von preiswerten E-Fahrzeugen auf den Weg zu bringen.» Ziel der Politik sollte sein, «Investitionen am Standort Deutschland steuerlich (dadurch zu) begünstigen, (..) dass alle, die in Deutschland investieren, eine entsprechende Investitionsprämie kriegen, (..) Investitionszuschuss, ein entsprechender Fonds und Klimageld, was die Nachfrageseite der Konsumenten stärkt. (..) Ich glaube, dass wir in dieser Aufholjagd nicht die Flinte ins Korn werfen müssen».Die Leiterin des Deutschen Verkehrsforums Heike van Hoorn argumentiert ähnlich: «Also die Strukturkrise ist in jedem Fall da. (..) Wir haben seit 2018 einen Rückgang der Industrieproduktion in Deutschland (..) Zum Strukturwandel besteht keine Alternative. (..) Wir müssen Mittel generieren aus einem CO-2-Preis, der ambitioniert ist und auch ansteigend sein muss.» Bezüglich der Umweltziele fordert van Hoorn aber Flexibilität: «Ich glaube schon, dass der Druck da sein wird, dass wir bestimmt Zwischenziele lockern, vielleicht gehen wir auch statt 2045 in Deutschland auf das EU-weite 2050 Ziel. (..Dabei gelte es,) eine Umgebung zu schaffen, in der die Unternehmen und auch die Gesellschaft in der Lage sind, diese Ziele zu erreichen.(..) Die Frage ist halt nur, ob es der Transformation hilft, wenn Konzerne wie VW nächstes Jahr 1,5 Mrd Euro Strafe wegen der verfehlten Flottengrenzwerte bezahlen muss. (..) Das kann einem Konzern wie VW nicht helfen, diese Ziele dann so voranzutreiben, wie sie das gerne würden. (..) Wir werden natürlich immer ein hochpreisiger Standort bleiben. (..) Die deutschen Hersteller brauchen auch diese grossen Fahrzeuge, weil die Gewinnmargen da so hoch sind, damit sie im Prinzip auch andere Segmente dadurch querfinanzieren können.» Dem hält Trittin entgegen: «Genau mit dieser Strategie sind sie jetzt in die Krise gefahren, (..und fordert deshalb) weniger Porsche mehr Dacia, (..) eine preiswerte Marke von Renault in Rumänien, die überaus erfolgreich ist, (..) was Volkswagen auch machen könnte. (..) Ich glaube den Autoindustrien nicht alles, was sie erzählen.». Und zur Flexibilität der Umweltziele argumentiert Trittin: «In Zeiten von Disruption ist es völlig falsch, zu verzögern und Handeln hinten rauszuschieben. (..) Es geht darum, wo gehen Investitionen hin. Wenn ich den Eindruck erwecke, machen wir noch ein bisschen länger Verbrenner und ähnliches, dann bindet das Mittel, die ich an anderer Stelle nicht habe. (..) Das ist das Gegenteil von Rechtssicherheit, das ist der Versuch, zu glauben, dass die Politik einfach die Standards abräumt, wenn man die Ziele nicht erfüllt. (..) Ihnen den Druck wegzunehmen, das hielte ich gerade im Interesse eines schnellen Transformationsprozesses für falsch.» Und Trittin fügt ein weiteres Argument an: «Wenn ich konfrontiert bin mit einem Präsidenten in den USA, der erklärt, er wolle Oel und Gas als geostrategische Waffe einsetzen, auch gegen Europa, das er als kleines China bezeichnet, dann muss ich mich doch aus dieser Abhängigkeit so schnell wie möglich befreien. Das ist eine Frage der geostrategischen Autonomie Europas. (..) Wenn ‘Europe united‘ die Antwort auf ‘Amerika first‘ sein soll, (..) dann muss ich gerade diesen Transformationsprozess eher beschleunigen als verlangsamen.»
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Feb 14, 2025 • 46min

„The West and the Rest: The West is broken and is no longer the role model for the Rest. Have liberal democracy, the rule of law and human rights failed as global values?” – mit Ivan Krastev und Gilda Sahebi

Brachte das Jahr 1989 die globale Wende hin zu westlichen Werten? Für den bulgarischen Politologen Ivan Krastev hat das Jahr 1989 je nach Ort eine ganz unterschiedliche Bedeutung: „Ich sehe 4-5 verschiedene 1989. (..) Aus osteuropäischer Sicht hatten viele Menschen den Eindruck, die Geschichte hat uns betrogen. (..) Tian’anmen schien damals nur eine Fußnote der Geschichte zu sein, aber heute mit dem Aufschwung von China können wir verstehen, dass Tian’anmen vielleicht wichtiger war als der Fall der Berliner Mauer. (..) Nach einer Umfrage in Russland war das wichtigste Ereignis von 1989 der Rückzug von Sowjetrussland aus Afghanistan; das Ende des Reiches war wichtiger als das Ende des Kommunismus. Wir haben das nicht bemerkt, weil wir nur im Auge hatten, was in unserem Teil der Welt passiert.“ Die deutsch-iranische Journalistin und Autorin Gilda Sahebi stimmt dem zu, „weil wir die Tatsache nicht akzeptiert haben, dass wir nicht das Zentrum der Welt sind. (..) Aber wir haben immer noch die Perspektive, dass wir die einzigen Hauptfiguren dieser Welt seien, aber wir sind es nicht. (..) Es war lustig, wie die westlichen Regierungen so irritiert waren, dass der Rest der Welt nicht auf ihrer Seite war, als Russland die Ukraine überfiel. (..) Mir selbst gefällt das Bild aus englischen Kohleminen, wo Kanarienvögel in die Minen gebracht wurden, weil sie sehr sensibel sind, wenn der Sauerstoff in der Luft zurückgeht. Dann werden sie laut: ‘hei, etwas läuft hier falsch ‘. Du kannst immer gewisse Menschen (..) fragen, läuft etwas falsch? Viele Menschen sind erstaunt über den Aufschwung des Populismus, wie konnte das so rasch passieren? (..) Sie hätten nur anderen Menschen  zuhören müssen. (..) Jegliche Art von Minderheiten, Migranten, Flüchtlinge, das sind die kleinen Vögel, die heute schon laut werden. Und wir haben es seit vielen Jahren gespürt.“Fordert der Protest der iranischen Frauen individuelle Menschenrechte ein, die Werte der westlichen Aufklärung? - Sahebi: „Das ist ein altes Märchen, dass  Aufklärung und Menschenrechte ein Produkt des Westens seien. (..) Menschen sind grundsätzlich gleich, sie wollen sicher, ernährt und geliebt sein. (..) Und Frauen in allen Gesellschaften haben am meisten zu gewinnen, weil sie gewöhnlich tiefer gestellt sind bezüglich Sicherheit und der Möglichkeit, frei zu sein. (..) Deshalb sind sie an vielen Orten die Kraft hinter der Veränderung. (..) Sie spüren es, wie die erwähnten Vögel, weil sie sich um die Kinder kümmern, einkaufen gehen. Sie spüren es, wenn die Wirtschaft schlecht läuft.“Gibt es ein Zurück zu einer regelbasierten internationalen Ordnung? - Krastev: „Regeln sind die Sprache der Mächtigen. Nach dem 2. Weltkrieg gab es eine Machtkonstellation, die es dem Westen erlaubt hat, die Regeln zu schreiben. (..) Aber von außen gesehen war diese Ordnung vor allem eine Heuchelei.  (..) Die Mächtigen glauben, dass sie machen können, was sie wollen. Aber sie werden entdecken, dass sie das nicht tun können. (..) Mächtige Staaten wie die USA intervenieren in Afghanistan. Du kannst nicht mehr bombardieren, weil es nichts mehr zu bombardieren gibt, (..) aber du kannst sie nicht mehr kontrollieren. Und plötzlich bist du gezwungen zu verhandeln. Und dann verhandelst du auch über gewisse Regeln. (..) Wir sind in einem Übergang, in dem die Menschen gezwungen sind, die Notwendigkeit von Ordnung (wieder) zu entdecken, indem sie die Kosten von Unfrieden und Unordnung bezahlen müssen. (..) Nur braucht das 10 oder 20 Jahre von Unfrieden und Krise, bis die Menschen wieder entdecken, was gestern als selbstverständlich vorausgesetzt wurde.“Unordnung und Krise überall – was müsste man tun? – Sahebi: „Wahrheit, die Wahrheit gegen die Macht auszusprechen, das ist alles, was wir brauchen“. – Krastev: „In einem Moment wie diesem, ist Neugierde sehr wichtig und zu sagen: Vielleicht verstehe ich nicht, was gerade passiert, aber ich möchte es wirklich verstehen“. 
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Jan 29, 2025 • 41min

“Ist die Deutsche Bahn noch zu retten?“ – mit Peter Füglistaler und Susanne Landwehr

Der frühere Direktor des Bundesamtes für Verkehr in Bern, Peter Füglistaler kritisiert die frühere Politik: „Der grosse Irrtum wurde mit der deutschen Bahnreform 1996 gemacht. Da war die Idee: Wir sanieren die Deutsche Bahn jetzt einmal, sehr grosszügig, dann wird sie wettbewerbsfähig, geht an die Börse und schreibt Gewinn. Als Politik bin ich das Problem los. (..) Das ist das ganz grosse Problem, das Fehlurteil.“ – Susanne Landwehr, Korrespondentin der Deutschen Verkehrszeitung bestätigt: „Die Politik wollte nicht kontrollieren oder sie hatte einfach ganz andere Prioritäten.“Füglistaler: „Ein Bahnnetz ist das Problem des Staates. (..) Das kommt jetzt ganz langsam in Deutschland, dass die Politik erkennt: Die Bahn ist mein Problem. (..) Das ist ein sehr langsamer Prozess. (..) Wir haben in der Schweiz auch 30 Jahre dafür gebraucht, von einer Bahn, (..) die sagt (..) ich mache es dort, wo es rentabel ist, zu einem Bahnsystem zu kommen, das politisch definiert ist. (..) Die Politik (..) gibt die Vorgaben, aber die operative Umsetzung muss bei der Bahn bleiben. Und diese Klärung hat in Deutschland gerade begonnen.“ Weiss man denn, was man will? – Landwehr: „Also im Moment habe ich den Eindruck, dass Bahn und Bund oder Bahn und das Verkehrsministerium sich die Bälle zuspielen. Die Strategie des Bundes ist nicht so ganz klar." - Füglistaler relativiert: „So negativ sehe ich es nicht. Es wurde jetzt der erste Schritt gemacht mit der der DB-InfraGO (die gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft der Deutschen Bahn AG) (..) Das ist der erste Schritt in diesem Tansformationsprozess. (..) Beim Ministerium ist das angekommen, aber das reicht ja noch nicht. Es muss bei der Regierung ankommen, beim Parlament und am Schluss beim Volk.“ Kann das Ziel der Verlagerung des Gütertransports von der Strasse auf die Schiene erreicht werden? - Füglistaler: „Ja selbstverständlich, aber es geht nicht schnell“. Die Alpeninitiative hat 1994 in der schweizerischen Verfassung festgelegt, dass die transalpinen Fahrten auf die Schiene verlagert werden müssen. „Man hat sieben Jahre gebraucht, um den Anstieg zu stoppen, (..) aber es dauert Jahrzehnte (..). Wir sind seit 30 Jahren dran (..) Bei den vorgeschriebenen Fahrten ist man heute noch nicht ganz da bei 650‘000, man ist noch bei 900‘000, man war mal bei 1,4 Mio. Ohne diese Initative hätten wir Zustände wie in Oesterreich: 2,5 Mio Fahrten“.Ist der Plan realistisch, 40 Hochleistungskorridore bei Vollsperrung zu sanieren? – Landwehr: „Ich glaube, dass das funktioniert (..) Das ist der einzige Weg“ – Bis jetzt wurde aber nur einer von 40 realisiert, wie lange dauert das? - Füglistaler: „40 Jahre, aber das ist auch die übliche Nutzungsdauer bei einer Bahninfrastruktur, man lebt in ganz anderen Zeiträumen als die übrige Wirtschaft. Wenn eine Bahnstrecke saniert wird, dann macht man das auf 25-40 Jahre.“ – Also retten wir die Bahn für unsere Grosskinder? – Füglistaler: „Nein, für die Kinder“.Kann eine Finanzierungstruktur mit heute 180 Finanzierungsquellen der Bahn reformiert werden? - Landwehr: „Die Schweiz ist ja das Vorbild. Die Schweiz hat ja einen grossen Finanzuierungsfonds für die Schiene. Alle kucken auf die Schweiz, wie habt ihr das gemacht? So wollen wir das auch machen."Geht’s wieder aufwärts oder kann nur der Niedergang gestoppt werden? Landwehr: „Ich bin eher pragmatisch und optimistisch. (..) Der Zeitrahmen so mit 20 Jahren ist schon realistisch“. – Füglistaler: „Man hat die Talsohle erreicht“. Früher seien die Probleme nur negiert worden, „es war immer alles wunderbar, nur kam nie etwas. Und das hat sich fundamental geändert. (..) Es wurde erkannt, dass die Qualität der Deutschen Bahn schlecht ist, grottenschlecht. (..) Das ist neu in der deutschen Politik, dass man für die Bahn eine Lösung braucht. Und das lässt mich optimistisch in die Zukunft schauen.“
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Dec 27, 2024 • 42min

«Landen wir blind und verantwortungslos in der Klimakatastrophe?» - mit Thomas Stocker und Judith Kirschner

Der Klimaforscher Thomas Stocker hat mit seinen Eisbohrungen den Beweis der Menschen-gemachten Klimaerhitzung erbracht. Die Klimaerhitzung hat in der Schweiz bereits überdurchschnittliche 2,5 Grad seit 1900 erreicht. Auf die Frage: "Sind Sie zuversichtlich, dass wir die Wende schaffen?" antwortet er: «In den letzten paar Jahren ist das eingetreten, was die Wissenschafter schon vor 30 Jahren oder 50 Jahren vorausgesagt haben, nämlich, dass die Extremereignisse extremer und häufiger werden. (..) Auf der einen Seite habe ich Hoffnungen (..) Wir sind das einzige Land, das per Volksabstimmung entschieden hat, dass wir am Pariser Klima-Abkommen mitmachen. (..) Auf der anderen Seite bin ich frustriert, wenn es im nächsten Schritt um die Umsetzung geht (..), dann kommen plötzlich Kräfte in unserer Gesellschaft, die den Finger hochheben und sagen, ‘ja aber Arbeitsplätze, unser Wohlstand..‘, alles Gründe, die ausblenden, dass diese Transformation wahrscheinlich die grösste ökonomische Chance ist im 21. Jh. Das macht mich nervös, wenn man diese Gelegenheiten nicht sieht und erkennt.»Können wir aus der Pandemie lernen, wie wir mit globalen Krisen umgehen? - Judith Kirschner: «Was die Covidkrise und die Klimakrise gemein haben: Bei Covid wurde sehr schnell klar, wie wirklich alles zusammenhängt und was in anderen Ländern passiert, früher oder später (..)  auch uns betrifft, (..) dass sich die Menschen eben doch extrem schnell an komplett neue Umstände gewöhnen und auch anpassen können (..), und dass es sowohl Flexibilität auf der lokalen Ebene braucht als auch Zusammenarbeit auf einer globalen Ebene, weil eben Viren, Klima, Waldbrände nicht da aufhören, wo eine Grenze verläuft.»Kann aus den punktuellen Katastrophen der Klimaerhitzung ein breites Bewusstsein für die umfassende Dringlichkeit entstehen? – Kirschner: «Das Waldbrandthema (..)  zeigt sehr gut, dass im öffentlichen Diskurs die Komplexität des Themas gar nicht behandelt wird, da können wir uns lange unterhalten, wer hat das Feuer gestiftet, (..aber) letztendlich müssen wir erkennen, dass Waldbrände ein Produkt der Landschaft und des Klimas sind».Das gleiche gelte, so Stocker, hinsichtlich des Wasserkreislaufs, der über das Jahr hinweg gestört sei: «Wir sind extrem abhängig vom Wasser (..) in allen unseren Tägigkeiten (..). Dieses Wasserdargebot verändert sich aber jahreszeitlich: also mehr Wasser im Winter (anstatt Schnee) und weniger im Sommer. (..) Wir kriegen das Wasser schon aufgrund unserer Topographie, aber es kommt dann, wenn wir es nicht brauchen, bzw. es kommt dann nicht, wenn wir es brauchen.» Das Problem werde noch verschärft durch das Auftauen des Permafrosts in den Hochalpen mit einer immer höheren «Nullgradgrenze: Oberhalb ist es gefroren, (..) wenn die Nullgradgrenze nach oben wandert, das stellen wir bereits fest, (..dann) zerstört oder bedroht das teure Infrastrukturen. (..) Was früher als Schnee runterkam, das kommt in einer erhitzten Welt mehr als Regen runter. (..) Schnee oder Gletscher agieren wie Schwämme: Sie dämpfen das punktuelle Regnen, mitteln das aus und wenn es dann wärmer wird im Jahreskreislauf, dann gibt der Gletscher wieder langsam Wasser ab. Schön dosiert, das ist eine wunderbare Dosierungsanlage, die wir selbst zerstören.»Was sind die Kipppunkte der Klimaerhitzung, die wahrscheinlich sind, und wann können wir globale Katastrophen erwarten? – Stocker: «Wir wissen noch nicht genügend, wo es überall solche Kipppunkte (..wie) beispielsweise den Amazonas Regenwald gibt. Aber wo genau die sind und bei welcher Erwärmung, da können wir keine eindeutigen Aussagen machen mit dem heutigen Stand des Wissens (..). Die Wissenschaft wird da in 10-20 Jahren sehr viel weiter sein, aber so viel Zeit haben wir gar nicht.»
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Dec 3, 2024 • 43min

«Nahostkrieg: Untergräbt die Solidarität mit Israel die Glaubwürdigkeit westlicher Werte im globalen Süden und das Ansehen Deutschlands?» - mit Susanne Brunner und Reinhard Schulze

Susanne Brunner, die Auslandchefin des schweizerischen Radios, führt als Beispiel für den Verlust der Glaubwürdigkeit westlicher Werte die Reaktion einer Libanesin in der Folge der von Israel zur Explosion gebrachten Pager-Geräte auf. Dieser Angriff habe im Libanon «‘die ganze Zivilgesellschaft (.. getroffen, als eine) Attacke, die dermassen unverhältnismässig ist, die alle trifft (..) Ich hatte nie dieses Gefühl gegenüber Europa, aber es ist fast, wie wenn ich Europa hasse. (..) Was seit 9/11 passiert ist: Irak zerstört, Syrien zerstört, Libanon zerstört, die palästinensische Frage zerstört, wohin will der Westen damit überhaupt noch gehen.‘» Diese Frau habe eigentlich ausgedrückt: «Menschenrechte, die ihr propagiert, die gelten nur für euch.»Für den Islamwissenschaftler Reinhard Schulze gibt es «im Moment zwei Modelle, die im Nahen Osten diskutiert werden: Das ist die Schaffung eines Gegen-Westens, das russische-chinesische Paradigma. (..) Und auf der anderen Seite die Suche nach einer eigenen Rechtfertigung, an den Werten teilzunehmen, (..) die das moralische Gesamtgewissen repräsentieren, das zeigen möchte: Das, was jetzt geschieht an Gewalt, muss aus einer (..) globalen universellen Position heraus bewertet werden, die auch für den Westen Gültigkeit hat. (..) Dieses generelle Schema wird eingeklagt und eingefordert, um beispielsweise Argumente gegen Hamas (..) zu finden.» Gleichzeitig werde aber Israel «jetzt tatsächlich als so etwas wie der Vorposten des europäischen westlichen Imperialismus» gesehen.Brunner: «Wenn man sich im Nahen Osten umhört, sagt man, eigentlich hat Deutschland sein Judenproblem nur ausgelagert und die Palästinenser müssen das jetzt ausbaden. (..) Was ich aber jetzt denke ist, dass so, wie man den Begriff Antisemitismus braucht, ist das auch propagandistisch. Darunter leiden auch Juden und Jüdinnen, die kritisch sind gegenüber einer Regierung. (..) Da ist eine Keule, die uns natürlich immer einschüchtert. Wer will jetzt schon antisemitisch sein. Und da brauchts manchmal ein bisschen mehr Mut, um zu sagen: Das ist einfach Quatsch.»Schulze argumentiert, «dass wir es mit einem globalen politischen Muster zu tun haben, das sich seit dem Ukrainekrieg sehr verstärkt hat und auch im Nahen Osten wirksam wird, genauso wie in Europa, genauso wie in den USA und in diesem neuen Paradigma ist auch Israel gefangen (..nämlich), dass die Politik so etwas wie einen geschichtlichen Auftrag der Nation zu verwirklichen habe, so ein politischer Messianismus, der sich in der Politik bei Trump, bei Putin, aber jetzt auch bei Netanjahu (..) etabliert hat. (..) Und dieser Messianismus (..) ist gewaltförmig.(..) Das erleben wir im Augenblick stark in Israel, wo der Krieg fast grenzenlos wird, weil die zugrundeliegende Ideologie auch grenzenlos wird.»Wird der Nahostkonflikt immer noch als ein religiös konnotierter Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen gesehen? - Brunner: «Wo die religiöse Dimension eine Rolle spielt, ist, dass die Evangelikalen in den USA das als einen religiösen Konflikt sehen, in dem sie auf den Messias warten. (..) Auch wenn ich mit Siedlern spreche, von denen viele (..) aus dem evangelikalen Kreis kommen und von evangelikalem Geld finanziert sind. (..) Und ähnlich: Was die Hamas gemacht hat, hat natürlich vor allem Netanjahus Koalitionspartnern aus dem extremen Lager eine Möglichkeit gegeben, (..) eine gott-gegebene einmalige Chance, etwas zu verändern im Nahen Osten.»Schulze: «Wichtig ist, dass Religion zum Spielfeld einer nationalistischen Politik geworden ist. Religion ist keine eigene unabhängige religiöse Kategorie mehr. (..) Wir haben eine Neubewertung des Religiösen. (..) Religion ist, wie in Russland ganz stark inszeniert, Machtträger des Staates (..) Träger der ideologie des Staates. (..) Manche konservative religiöse Akteure stehen kopfschüttelnd vor dieser Usurpation des Religiösen durch die imperialen Mächte.»
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Nov 12, 2024 • 44min

«Nach 200‘000 Toten im Jugoslawienkrieg: Hat die Intervention des Westens der Region den Frieden gebracht?»- mit Christian Schmidt und Armina Galijas

Frau Galijas, Sie forschen im Zentrum für Südost-Europa-Studien der Universität Graz und sind im Krieg aus Bosnien geflohen, haben Sie Ihre Heimat verloren? - «Wahrscheinlich ja, aber (..) es ist nicht nur für mich, es ist für alle Menschen ein neues Leben entstanden, auch für die, die in Bosnien geblieben sind. Das war so eine grosse Zäsur. (..) Das Ethnische hat sich wirklich durchgesetzt, (..weil ) man in den 90er Jahren begonnen hat, alles ethnisch zu regeln. (..) Man hat irgendwie versucht, es allen ethnischen Gruppen recht zu machen. Aber im Prinzip kann ein Land so nicht funktionieren».Dem Hohen Repräsentanten der UNO für Bosnien-Herzegowina, Christian Schmidt wurden aufgrund des Vertrags von Dayton (1995) sehr grosse Kompetenzen gegeben. Er kann direkt in die Politik des Landes eingreifen und bestätigt, dass er dabei ohne demokratische Legitimation entscheidet: «Es ist eine schizophrene Situation. (..) Deswegen behandle ich die sogenannten ‘Bonn Powers‘ (..) sehr, sehr zurückhaltend». Als Beispiel nennt er, die Situation, als vor einem Jahr verfassungsmässig weder eine Regierungsbildung noch Neuwahlen möglich waren, da «hatte ich eine Regelung in die Verfassung hineingeschrieben (..) Und jetzt gibt es eine Regierung dank meiner Intervention».Glauben Sie, Herr Schmidt, dass die ethnische Organisation der Gesellschaft, die in Dayton festgeschrieben worden ist, in Zukunft überwunden werden kann? – «Ja und nein; (.. es hängt davon ab, ob) wir es schaffen, diese Ethnifizierung zu durchbrechen. (..) Ich glaube, dass junge Leute das nicht mehr mitmachen wollen. Die Frage ist nur, wo ? (..,), zuhause oder wenn sie» auswandern.» - Galijas bekräftigt: «Meine grösste Sorge ist die Abwanderung. (..) Die Leute, die weggehen können, (..) gehen, am meisten nach Österreich und Deutschland.»Zementiert die internationale Präsenz die ethnokratischen Strukturen? – Schmidt: «Ja und nein. Die Wähler haben (..) null Vertrauen in das (..) Zustandekommen der Wahlen. (..) Ich setze ja gerade da an, (..) das Wahlgesetz zu verbessern. Das ist uns auch für die (..) Kommunalwahlen gelungen (..)». – Dazu Galijas: «Das Problem ist eigentlich, was vor der Wahl in Bosnien passiert. (..) Wählen gehen nur die, die sich etwas von der Partei erwarten. (..) Für jeden Posten muss man eine bestimmte Anzahl von Stimmen bringen. (..) Ein Schuldirektor muss dann 20 oder 100 Stimmen vorweisen. (..) Die richtigen Wahlen finden nicht an der Urne statt, sondern (..) dort, wo man Reis oder Mehl oder Oel verteilt, um die Stimmen zu bekommen.» Dient die Perspektive eines EU-Beitritts als Mittel, die notwendigen Reformen durchzusetzen? - Galijas: «Diese EU Annhäherung ist von beiden Seiten weniger glaubhaft geworden. Die Menschen glauben nicht mehr an die EU und die EU nicht mehr ganz an Bosnien. Es hat einfach zu lange gedauert.» - Schmidt: «Die Begründung, warum es jetzt eine gewisse Dynamik gibt, die es vor vier-fünf Jahren noch gar nicht gegeben hat, liegt (im wachsenden russischen Einfluss) (..) Jetzt ist das das Momentum, das man für die Integration von Bosnien-Herzegowina nutzen will. (..) Die Gesamtschau ist für mich so: Entweder, wir schaffen es tatsächlich in den nächsten Jahren, Leuchttürme zu sehen, dass im Westbalkan sich etwas tut, oder (..) dann passiert nichts mehr.»Galijas: «Ich würde für eine stufenweise Annäherung dieser Länder an die EU plädieren, (..) kleine Päckchen geben und, wenn diese dann durchgesetzt sind, auch belohnen.(..) Und ich denke, dass in Bosnien zum Teil auch ein Problem die Präsenz der internationalen Gemeinschaft ist, dass man denkt, die werden das für uns sowieso machen.»Sind sie zuversichtlich für die Zukunft ? - Schmidt: «Wenn in 11 Jahren, beim Gedenken an 40 Jahren (Völkermord in) Srebrenica und 40 Jahre Dayton der Hohe Repräsentant die Festrede hält, dann ist was nicht gut gelaufen, weil bis dahin sollte eigentlich seine Funktion nicht mehr nötig sein».
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Oct 29, 2024 • 54min

«Wirtschaftskrise, Investitionsstau und marode Infrastruktur – Ist die Schuldenbremse das Problem?» - mit Otto Fricke und Philippa Sigl-Glöckner

Philippa Sigl-Glöckner, Leiterin des finanzpolitischen Thinktanks ‘Dezernat Zukunft‘, verlangt, dass man «unmittelbar jetzt die Schuldenbremse, wie sie im Grundgesetz steht, sinnvoll auslegen sollte. (..) Da gibt es ganz viele Spielräume, (..) da es grosse öffentliche Investitionsbedarfe gibt, und diese Investitionen sollten getätigt werden.» - Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP im Bundestag entgegnet: «Die Verfassung, das ist die Regel, die gilt. (..) Diese Regel ist auch Teil der Koalitionsvereinbarung. (..) Es ist einfach zu verlockend, Schulden zu machen (..) Wir müssen Prioritäten und Posterioritäten setzen.»Untergräbt eine höhere Verschuldung das Vertrauen der Finanzmärkte? «Da sagen», so Sigl Glöckner, «die Finanzmärkte das Gegenteil: Gut, dass es endlich deutsche Staatsanleihen in grösserem Volumen gibt» - Fricke argumentiert mit den amerikanischen Zinsschulden und stellt die Frage: «Wie sorge ich dafür, dass ich Vertrauen behalte als Staat.» - Sigl-Glöckner entgegnet «Die amerikanische Staatanleihe ist die Definition der risikolosen Wertanlage in der Welt und wird als Benchmark dafür genommen, genauso wie die deutsche Staatsanleihe.»Auf die Frage: Müssen unsere Kinder und Enkel die Staatsanleihen zurückbezahlen, antwortet Sigl-Glöckner: «Die müssen sie nicht zurückbezahlen, weil die Staatsanleihe von einem Investor gehalten wird und wenn diese Staatsanleihe fällig wird, dann kauft er im Zweifel erst mal eine neue. Die Idee, dass der deutsche Staat regelmässig seine Bilanz auf null zurückfahren muss, gehört eher ins Märchenland.»Sie fragt Fricke: «Wo findest du Spielräume auch nur annähernd in der Grössenordnung, die wir jetzt benötigen für Investitionen im aktuellen Bundeshaushalt? (..) Ich habe das versucht und komme nicht annähernd auf die richtige Grössenordnung, (..) ausser man erhöht die Mehrwertsteuer brutal. (..) Der Bundesrechnungshof sagt, dass bis auf 10% des Haushalts alles gebunden ist.» - Fricke entgegnet: «Dann würde ich an alle möglichen Staatsleistungen rangehen. (..) Das Problem ist, dass so getan wird, als wäre weiteres Geld da, (..) weil ich das Risiko von einer zu hohen Verschuldung über die Schuldenbremse hinaus als für riskant halte.» «Was passiert denn», fragt Sigl-Glöckner, «wenn wir uns sehr viel mehr verschulden, wo kommt man an den Punkt, wo es irgendwo eine Ausfallrisiko geben könnte? (..) Dadurch, dass die deutsche Staatsanleihe die Grundlage des Eurosystems ist, ist das sehr schwer vorstellbar. Der Spielraum ist grösser, als was du und ich für sinnvoll hielten. (..) Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass der Konflikt zwischen Investitionen und Sozialausgaben aufgemacht wird, (..) wir könnten beides machen. (..) Von der finanziellen Seite zu sagen, es ist ‘entweder oder‘, wir können dieses Jahr nicht gleichzeitig Bahngleise und bei der Rente was machen, das stimmt halt nicht.» - Dagegen hält Fricke: «Wenn du der Politik die Möglichkeit gibst, Geld auszugeben, wird die Politik immer an die Grenze dessen gehen, was sie kann. (..) Wenn kein Rahmen gesetzt ist, wird es immer so sein, dass die kurzfristigen Dinge hochgehen in den Ausgaben».Stärkt ein Ausbleiben der dringend notwendigen gesellschaftlichen Investitionen den Rechtspopulismus und untergräbt damit unseren Rechtsstaat? Fricke: «Dem widerspreche ich ausdrücklich. (..) Das Main-Ruhrgebiet hat eine Arbeitslosigkeit von 10,5%, Brandenburg 6,5% (..). Eigentlich müssten sie doch bei uns Rechts wählen, wo die Rheinbrücken kaputt sind und die Arbeitslosigkeit höher ist». Sigl-Glöckner hält dagegen: «Jetzt akut bin ich der Meinung, dass ein Sparkurs absolut die radikale Rechte befeuert und zwar ganz konkret auf der kommunalen Ebene, weil der Trade-off sehr direkt ist. Wir haben hohe Flüchtlingskosten und dafür macht man dann die Musikschule zu, macht man das Schwimmbad zu, macht man das Museum zu. Und das befördert ganz stark rassistische und rechtsradikale Motive.»
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Oct 1, 2024 • 44min

„Der Wahlerfolg der Rechtspopulisten – Bleibt Ostdeutschland von den gemeinsamen Erfahrungen mittel-osteuropäischer Gesellschaften geprägt?“ - mit Paula Piechotta und Piotr Buras

Der polnische Politologe Piotr Buras sieht „gewisse Dinge im Alltag, im Verhalten von Polen und Ostdeutschen, meinen ostdeutschen Nachbarn in Brandenburg, die uns verbinden, wo wir uns näher zuhause fühlen als in Westeuropa (..). Das hängt zusammen mit gemeinsamen Erfahrungen aus der Zeit vor der Wende. (..) Es gibt aber sehr viel, was anders gelaufen ist in den letzten 30 Jahren, (.. so) die Transformationsgeschichte. (..) Der grösste Unterschied besteht natürlich darin, dass wir kein Westdeutschland hatten. Das hatte grosse Nachteile, aber auch wieder Vorteile. Dieses Gefühl der Ohnmacht in Ostdeutschland (..) das war in Polen nicht der Fall, (..) jeder muss selbst verantworten, was damals in den 90-er Jahren passiert ist.“Buras sieht aber ein gemeinsames Missverständnis: „dass man sich sehr stark darauf fokussierte, wie stark die Wirtschaft gewachsen ist in Polen und in Ostdeutschland. (..) Als in Polen die PIS-Partei an die Macht kam, (..) haben sich alle gewundert (..) : Jetzt plötzlich wählen wir eine Partei, die sozial-konservativ, rückwärtsgewandt und populistisch ist. Und das ist genauso in Ostdeutschland. (..) Diese wirtschaftliche Lage liefert überhaupt keine Erklärung für das Verhalten der Menschen. Es geht vielmehr um Respekt, auch um Selbstwertgefühl, darum, ob sich Leute als Bürger erster oder zweiter Klasse fühlen. In Polen war das nicht anders.“Für die Bundestagsabgeordneten Paula Piechotta ist dieses verletzte Selbstwertgefühl in Ostdeutschland besonders relevant: „Die friedliche Revolution und dann der Beitritt von Ostdeutschland zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hat aus der Region Ostdeutschland eine Minderheitengesellschaft im gesamtdeutschen Kontext gemacht. (..) Das ist eine der Gründe für das sehr starke Sich-als-Bürger-zweiter-Klasse-Fühlen. (..) Die Abwertung des Ossis, war ja auch schon ein sehr starkes Motiv vor 1989. Das hat sich ja ab 1945 im zunehmend geteilten Deutschland immer mehr entwickelt, (..) dass auch in Westdeutschland ein sehr spezifisches, sehr abwertendes Bild über Ostdeutschland entstand. Und umgekehrt hat natürlich auch schon die Propaganda des SED-Staates ein unglaublich negatives Bild von Westdeutschland und einen sehr grossen Antiamerikanismus sehr tief reingetrieben in die Bevölkerung."Buras sieht im osteuropäischen Rechtspopulismus auch eine Spätfolge des Umbruchs von 1989: Die Frage „warum in Mittel- und Osteuropa, nicht nur in Polen und Ostdeutschland diese populistische Welle mit viel grösserer Wucht einschlägt, hängt damit zusammen, dass (..) wir heute die zweite Phase, die zweite Welle einer grossen Veränderung erleben, eine Veränderung zwar genauso wie in Westdeutschland oder Frankreich, aber (..) alles, was heute die grosse gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Veränderung ausmacht, kommt in Mittel- und Osteuropa inklusive Ostdeutschland zum zweiten Mal.“ – „Und es trifft hier“, so Piechotta, „auf junge Demokratien, woanders trifft es auf gefestigtere Demokratien.“Piechotta stellt im Rückblick aber fest, dass „die Bürgerrechtsbewegung im damaligen Ostdeutschland stark davon gelernt hat, was Solidarnosc, was Charta 77 Jahre vorher entwickelt hatten (..), wie man die Ostblockstaaten in die Knie zwingt. Und jetzt ist es auch wieder so, dass wir auf der Suche nach Antworten wieder auf Polen schauen, das wieder ein paar Jahre vor uns ist, das Jahre der PIS-Regierung hinter sich hat (..) und jetzt zum ersten Mal wieder Wahlen dagegen gewonnen hat.“ - Das bestätigt auch Buras: „Die polnische Lektion zeigt, dass es möglich ist, den Rechtspopulismus und den Iliberalismus zu überwinden.“ Piechota ist etwas vorsichtiger: „Ja, aber nur wenn jetzt nicht die nächste grosse Abwanderungswelle kommt. (..) Jetzt gibt es sehr starke Tendenzen, dass nicht mehr Leute neu nach Ostdeutschland ziehen oder zusätzliche Abwanderungsbewegungen stattfinden (..) und das ist die grosse Gefahr.“
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Sep 13, 2024 • 51min

“Können internationale Interventionen, kann die UNO Kriege verhindern oder stoppen?“ – mit Melanie Hauenstein und Volker Perthes

Zwei erlebte Fallbeispiele: Volker Perthes war bis vor kurzem Leiter der UNO-Mission im Sudan, die er im letzten Herbst als „Persona non grata“ verlassen musste. Zuvor war er Direktor der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin. Trotz des eskalierenden Bürgerkriegs im Sudan glaubt er „nicht, dass die UNO gescheitert ist.“ Gescheitert seien die sudanesischen Akteure, „die UNO ist ja nicht weggelaufen, sie ist weiterhin da, besonders im humanitären Bereich. (..) Aber natürlich ist es eine Enttäuschung. (..) Die UNO-Mission ist in den Sudan gekommen auf Einladung der damaligen zivilen Regierung (..), um den Demokratisierungsprozess voranzutreiben (und) den Frieden zu stabilisieren. Nach dreiviertel Jahr, als ich da war, kam ein Militärputsch (… und) die beiden militärischen Führer (..) haben sich dann so stark um die Beute gestritten (..), dass sie das Land in einen Krieg führten und das Land wirklich zerstörten. Natürlich ist das eine Niederlage“. Melanie Hauenstein, heute Leiterin des UN-Entwicklungshilfeprogramms (UNDP) in Berlin war früher für die UNO u.a. in der Demokratischen Republik Kongo tätig. „Das Land war in zwei Kriegen zerrissen (..) Im zweiten Kongokrieg sind 3,8 Millionen Menschen gestorben. (..). Dann gab es Friedensverhandlungen, die ganz massgeblich von der UNO unterstützt wurden (..) Die UNO-Mission hat es geschafft, das Land zusammenzubringen (..) und dort ein Referendum, das eine Verfassung beschlossen hat, (.. und dann 2006) die Wahlen (zu organisieren), wo wir 25 Millionen Menschen digital registriert haben“. Dadurch wurde es möglich „von der Übergangsregierung zu einer legitimen Regierung“ zu kommen. Zuvor stellte sich die Frage, „ob es zu den Wahlen kommt oder ob wir in den Bürgerkrieg zurückgehen“. Sind Friedensmissionen ein westliches Projekt? – Dem widerspricht Perthes: Die Chinesen sind „nicht nur zweitgrößter Beitragszahler in der UNO, sondern übernehmen auch mehr Verantwortung. (..) Sie sind von den fünf permanenten Sicherheitsratsmitglieder, diejenigen, die das meiste Personal in Friedensmissionen entsenden. (..) Die meisten Truppen in den Friedensmissionen werden nicht von westlichen Staaten gestellt, sondern von Pakistan, von Indien, von afrikanischen Staaten.Müssen Friedensmissionen mit Verbrechern zusammenarbeiten? – Perthes. „In dem Moment, wo du mit Konfliktparteien arbeiten willst, da hast du nicht die gute Seite und die schlechte Seite (..), die Grauzonen sind enorm. (.. Wenn wir) Zugang zu Gefängnissen haben (..), da sagt niemand, ihr solltet aber nicht mit den Verbrechern reden. (..) In dem Moment, wo ich versuche, mit Akteuren eine bessere Lösung für die Menschen hinzubekommen, mit Akteuren, die selber Menschenrechte verletzt haben (..), da muss ich Hände schütteln, die ich im privaten Leben nicht gerne schütteln würde. Dafür sind wir da, irgendjemand muss es machen. (..) Du musst Prioritäten setzten. Menschenleben ist die höchste Priorität. (..) Wenn sie nicht überleben (..), dann gibt es auch keine Diskussion über Menschenrechte und Demokratie“. – Hauenstein bekräftigt: „Die Menschen, die vor Ort sind, die unter diesen Diktaturen leben, die im Krieg leben (..), die haben keine Wahl, aufzugeben. (..) Für mich ist wichtig, dass wir als UNO sagen: Wir haben kein Recht aufzuhören. Wer, wenn nicht wir?“

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