Weil man hier einem großes Thema gegenübersteht, das gleichermaßen mit praktischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Fragen zu tun hat, sind diese flüchtigen Bemerkungen nur der Auftakt zu einer Reihe weiterer Texte zum Tema
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich will Ihnen ein paar Gedanken zu dem sonderbaren Verhältnis darlegen, das unsere Zeitgenossen zur »Künstliche Intelligenz« unterhalten. Und das konfrontiert uns mit dem befremdlichen Umstand, dass dem eine fast religiöse Qualität innezuwohnen scheint – oder weswegen sonst taucht im der Rede darüber reflexhaft das Wortpaar »Fluch und Segen« auf? Damit das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht vollständig abgehoben erscheint, lasse ich jetzt einfach ein paar Videoausschnitte nachfolgen, die wir auf dem ex nihilo Blog publiziert haben, im Zusammenspiel mit Dall-E und Google VEO, aber auch einer Software, die ich selber geschrieben habe. Diese Software ist insofern ziemlich ungewöhnlich, als sie klassische Essays, aber auch transkribierte Gespräche in visuelle Metaphern zurückübersetzt. Und weil unser Gehirn, genauer, weil unsere Sprache ein regelrechter Zauberkasten ist, erzeugen diese die verwegensten Bildkompositionen – Dinge, die ein noch so phantasiebegabter Mensch sich kaum einfallen ließe. Lassen Sie mich, während die Bilder an Ihnen vorüberlaufen, die Differenz in Worte fassen. Normalerweise sitzt man vor einem Prompt und sagt dem magischen Spiegel, was man zu sehen wünscht. Hier ist der Prozess ein ganz anderer. Ausgangsbasis ist ein geschriebener Text – oder ein transkribiertes Gespräch. Dann laufen mehrere Schritte ab. Die AI erstellt eine Zusammenfassung – und identifiziert darüber die Grundgedanken des Textes. Diese werden in Wortbilder übersetzt, also in Metaphern – und diese bilden die Bausteine, welche die AI dann in einen Prompt, also in eine Kompositionsanweisung übersetzt. Die Anweisungen werden gespeichert – und dann werden diese Bilder generiert. Die Ausgangsposition ist also nicht die frei flottierende Einbildungskraft, sondern ein mehr oder minder konsistenter Text – der ganz für sich alleine stehen will, ja, in seiner Entstehungsphase nicht einmal diesen Visualisierungsprozess antizipiert hat. Wenn wir den Begriff der Einbildungskraft nehmen, der ja einen unübersehbaren visuellen Einschlag besitzt, könnte man sagen, dass die visuelle Phantasie, auch wenn das Ganze am Ende in eine Form der Bildproduktion einmündet, hier gar keine Rolle spielt. Ausgangspunkt ist ein Gedankengerüst, ein Text, der versucht, den Leser in eine bestimmte Gedankenwelt hinein zu entführen. Das Kuriosum ist nun, dass diese Form der Text- und Gedankenlastigkeit gar keinen Nachteil darstellt. was ihrer Transformation in die Bilderwelt anbelangt. Ganz im Gegenteil: Wenn Walter Benjamin einmal festgehalten hat, dass ein Fotograf manche Dinge festhält, die sich ihm erst später, beim Entwickeln und Betrachten der Fotografie eröffnen – und wenn er dies ein „optisch Unbewusstes“ genannt hat –, so könnte man einen ganz analogen Vorgang hier festhalten. Denn der Autor des Textes wird, indem er erlebt, dass seine Sprachbilder eine Art Eigendynamik annehmen, mit einem „gedanklich Unbewussten“ konfrontiert - und je komplizierter und differenzierter Text ist, desto besser, vor allem überraschender sind die Resultate. Ich muss gestehen, dass mich dieser Prozess absolut fasziniert hat – umsomehr, als man sich hier in der Rolle eines Marcel Duchamp wiederfindet, der nicht mit einem Gebilde der eigenen Phantasie, sondern mit einem ready made konfrontiert ist. Man beschäftigt sich also gar nicht damit, irgendwelche Imaginationen auf den Schirm oder auf die Leinwand zu zaubern – sondern man schaut einfach bloß hin. Und aus diesem Grund besteht die entscheidende Aufgabe nicht in der Bildproduktion, sondern in der Selektion – und da ist man mit der Frage konfrontiert, warum dieses Bild die Phantasie anreizt, jenes aber nicht. Tatsächlich ermangelt es etwa drei Vierteln der resultierenden Bilder an einer solchen Qualität, sie mögen vielleicht ansprechend sein, aber sie berühren den Betrachter einfach nicht (was ja nach Baumgarten die eigentliche Aufgabe der Ästhetik ist, denn aisthesis meint ja ursprünglich berühren und wahrnehmen). Nach gut einem Jahr des Umgangs mit dieser Software muss ich gestehen, dass mich diese Form der Bildproduktion, die ja nachgerade so etwas wie eine Traumerzählung ist, weit mehr beschäftigt als alles, was man sich, wenn man denn vor einem leeren Prompt sitzt, so einfallen lässt. Denn letztlich kommt hier niemals mehr heraus, als was man sich zuvor hat einfallen lassen: garbage in, garbage out – oder wie Goethe das sehr viel eleganter gesagt hat: Man spürt die Absicht und man ist verstimmt.
Wenn wir diesen Prozess auf seinen Materialwert abfragen, ist hier eine Umkehrung zu beobachten, die bemerkenswert ist. Wenn wir von Einbildungskraft sprechen, ja, wenn einige überaus verwegene Theoretiker der 90er Jahre sich einen visual turn zurechtgelegt haben, so ist zu sagen, dass die avancierte Bildproduktion längst die visuelle Sphäre verlassen hat – und uns zu Kopf gestiegen ist. Das ist deswegen bemerkenswert, weil wir hier der Rückkehr eines mittelalterlichen Zeichenbegriffes beiwohnen können. Denn damals war man der Meinung, dass ein Zeichen umso wertvoller sei, je näher es bei Gott ist – oder wie man heute sagen würde: je abstrakter es ist. Folglich galt der Gedanke als das wertvollste Zeichen, dann kam das gesprochene, dann das geschriebene Wort, erst dann das Bild und zuguterletzt die Spur, die man in der Welt hinterlässt. Das ändert sich mit der Renaissance, die nun tatsächlich jenen visual turn bewirkt hat, den die Kulturwissenschaftler der 90er mit großer Verspätung diagnostiziert haben – und da denkt Leonardo da Vinci darüber nach, dass die Musik die kleine Schwester der Malerei darstelle, einfach deswegen, weil sie verklingt, während die Malerei Werke von Ewigkeitswert in die Welt entlässt. Wenn wir heutzutage also behaupten, wir lebten in einer visuellen Kultur, dann mag das für große Bevölkerungsteile so aussehen – aber das gedankliche und ästhetische Triebwerk, das diese Welt speist, hat seine Gestalt gewandelt. Wenn die Traumfabrik Hollywoods sich vor kurzem in einen Streik hineinbegeben hat, so deswegen, weil die Fortschritte unserer Computerkultur wahrhaft grundstürzend sind. Man muss sich nur an einen der großen Historienschinken der 50 und 60er Jahre erinnern – wo ganze süditalienische Kleinstädte als Statisten rekrutiert wurden –, um sich den Unterschied vor Augen zu tagen. Denn heute stellt die CGI (d.h. die Computer Generated Imagery) dem Regisseur eine ganz Armada hyperrealistischer, gefügiger Akteure bereit. Und dieser Rationalitätsschock betrifft nicht nur die Statisten, sondern im gleichen Maße auch die Kulissen- und Bühnenbildner, ebenso wie die Musiker, die ein Bernard Hermann noch, in Gestalt eines ganzen Symphonierorchesters, ins Tonstudio gebeten hat. All dies wird nun von Leuten wie Hans Zimmer bewerkstelligt, oder von namenlosen CGI-Künstlern, welche die aberwitzigsten Dinge auf den Schirm zaubern. Womit das, was man ehedem ein Set genannt hat, nicht viel mehr ist als eine Halle, wo ein paar Schauspieler vor einem Greenscreen agieren. Nun betrifft die Rationalisierungsdrohung der künstlichen Intelligenz nicht nur die unmittelbare Aufnahmesituation, sondern auch die Postproduktion. Wenn man heutzutage nach Belieben Stimmen clonen kann, ja, wenn selbst Übersetzung und Synchronisation lippensynchron von einer AI bewerkstelligt werden können, so ist die grundstürzende Revolution der Traumfabrik fait accompli.
Ich könnte nun, was die Veränderung unseres audiovisuellen Instrumentariums anbelangt, eine dystopische Suada anstimmen – und diese wäre insofern berechtigt, als die uns bevorstehenden Rationalitätsschübe wohl den ganzen Industriezweig in Mitleidenschaft ziehen. Aber genau das möchte ich nicht tun. Warum nicht? Nun – einfach deswegen, weil ich der Überzeugung bin, dass man es a) hier mit einer Unausweichlichkeit zu tun hat, und b) weil ich die ästhetischen und gedanklichen Möglichkeit, die sich mit dieser Welt auftun, persönlich ganz großartig finde. Das Dilemma, dem wir gegenüberstehen, ist vielmehr geistiger, wenn nicht philosophischer Natur, eine Demütigung, die all das übertrifft, was Sigmund Freud in seinem Unbehagen in der Kultur festgehalten hat. Denn da hat er, wie Sie vielleicht erinnern, drei geistige Demütigungen festgehalten: 1. die kopernikanische Wende, welche bewirkt hat, dass man sich nicht mehr als Zentrum der Welt fühlen kann, 2. die Darwinsche Evolutionsbiologie, die den anthropologischen Suprematismus fragwürdig gemacht hat, 3. das Unbewusste selbst, das dem Einzelnen klar macht, dass er nicht einmal im eigenen Denken heimisch sein kann, dass er nicht mehr Herr ist im eigenen Haus. Nun - halten wir uns vor Augen, dass diese Erschütterungen, als die auftraten, nur eine kleine Zahl von Menschen wirklich affiziert haben (die sogenannte Elite, wenn Sie so wollen), so haben wir es bei der digitalen Revolution mit einer sehr viel gravierenderen Situation zu tun: denn sie zieht jeden, aber auch wirklich jeden Menschen auf dieser Welt in Mitleidenschaft.
Das Dilemma, dem wir heute gegenüberstehen, lässt sich mit am ehesten mit dem vergleichen, was Günter Anders einmal treffend die prometheische Scham genannt hat – und was man als eine Form der Schizophrenie auffassen kann: Ich bin’s, aber ich bin’s nicht gewesen. Wenn Blaise Pascal einmal gesagt hat, das ganze Unglück des Menschen rühre daher, dass der Mensch nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben könne, so ist evident, dass der vernetzte Mensch per se ein Sozius, ein Gesellschaftstier ist – oder wie ich das formulieren würde: ein Dividuum, das sich an seiner Teilbarkeit und an seinem Mitteilungsdrang erhält. Aber weil das so harmlos klingt, werde ich Ihnen, die doch zu großen Teilen mit den Usancen unserer öffentlich-rechtlichen Sender vertraut sind, eine kleine, persönliche Geschichte erzählen. Die hat damit zu tun, dass ich als junger Mann mich nicht so recht entscheiden konnte, ob ich der nächste Thomas Mann oder ein Komponist werden würde. In jedem Falle habe ich doch, ziemlich früh, begreifen müssen, dass die Heroengeschichte des modernen Autors den tempi passati angehört. Das war Mitte der Achtziger - und weil ich zu dieser Zeit, in der langjährigen Zusammenarbeit mit einem Musiker von Tangerine Dream, tief in die Welt des Tonstudios und der elektronischen Klangbearbeitung eingestiegen war, begriff ich irgendwann, dass bestimmte, unhinterfragte Grundgedanken ihre Haltbarkeitszeit überschritten hatten. Wenn Sie einen Sequencer vor sich haben, mit dem Sie ihr Fingerspiel auf dem Klavier, genauer: dem Keyboard, in unerhörte Geschwindigkeitsbereiche hinaufjagen können, dann fragen Sie sich schon, warum Sie sich mit Tonleitern und Czernys Schule der Geläufigkeit herumgeplagt haben. Tiefer noch als dieser Zweifel am Virtuosentum war die Entdeckung, dass mit dem Sample eigentlich die ganze Welt zu einem Musikinstrument geworden war, ja, dass auch das Rauschen einer Toilettenspülung eine großartige ästhetische Erfahrung sein kann, ganz abgesehen davon, dass ein gesampeltes Geräusch tatsächlich ein Multitude ist, eine Vielheit. Kurzum: Was mich erwischt hat, war nichts anderes als die Proliferationsdrohung der Digitalisierung.
Zeitsprung: Drei, vier Jahre später habe ich mit gemeinsam mit einem Wolfgang Bauernfeind, einem Redakteur vom rbb, und Johannes Schmölling, dem Musiker von Tangerine Dream, ein Intensiv-Seminar an der Universität der Künste abgehalten, bei dem wir Schauspieler und Tonmeister auf die gemeinsame Arbeit eingestimmt haben – und weil das gesendet werden sollte, war das nicht bloß eine beliebige Übung, sondern: der Ernstfall. Und da kam mein Kollege vom Sender auf die Idee, dass man den Tonmeistern doch ein mal vorführen solle, wie so die Profis im Sender arbeiten. Aber da ich selbst als Regisseur in großen Häuser gearbeitet hatte und wusste, dass die Tonmeister nicht einmal bereit waren, die Mehrspurmaschine im Studio anzufassen – wohingehend das Studio in der HdK schon voll digitalisiert war -, sagte ich ihm, das sei keine so kluge Idee. Aber er bestand darauf – und so betraten irgendwann (das war um 92 herum) ein halbes Dutzend Tonmeisterstudenten die heiligen Hallen des Senders, das T5. Aber schon nach fünfzehn Minuten, kaum dass die Profis ihr Werk begonnen hatten, kam der erste Student schon zu mir – und flüsterte mir ins Ohr: Sag mal, Martin, meinen die das ernst? Und tatsächlich war das, wie sich herausstellen sollte, eine höchst berechtigte Frage. In jedem Fall kam der Tonmeister, den ich ein paar Jahre später auf dem Flur des Senders traf, auf mich zu und fragte, ob ich glaube, dass man dort draußen noch jemand seines Schlages brauche könne.
Woher nur rührt der Widerstand, sich auf diese Welt einzulassen? Die Antwort ist simpel: Man wehrt sich dagegen, weil die Erfahrungen, die man macht, wenn man sich auf das neuartige Instrumentarium einlässt, das eigene Selbstbild gravierend erschüttern. Und einer solch ungewissen, irritierenden Zukunft ziehen die meisten Menschen die Gespenster der Vergangenheit vor. Folglich reden sie von wahrer Authentizität, von digital detox, oder proklamieren, wenn der Versuch scheitert, die digitale Souveränität zur Geltung zu bringen, die letzten Tage der Menschheit: die Infokalypse. All das fällt deswegen so leicht, weil sich die Künstliche Intelligenz, wie ein Alien, als Fremdkörper geradezu aufdrängt – aus dem einfachen Grund, weil man sich auf die Welt der Digitalisierung nie wirklich eingelassen hat, oder bestenfalls als eine Art Konsument, der irgendwelche Buttons drückt. Lassen Sie mich abermals eine kleine Geschichte dazu erzählen. Ich bin Ende der Achtziger Jahre in die USA gefahren und habe die ganzen Pioniere der künstlichen Intelligenz interviewt. Da gab es eine reizende Begegnung mit dem Urvater aller Chatbots, Joseph Weizenbaum, der mir – noch immer kopfschüttelnd – von seiner Sekretärin erzählte.
Und weil die Dame allein für ihn zuständig war, wusste sie natürlich, dass Weizenbaum an einem Chatbot mit dem Namen Eliza arbeitete – was eine Reverenz an die Eliza Doolittle aus George Bernard Shaws Pygmalion-Stück war -, und sie wusste auch, dass dieser Chatbot nichts anderes war als ein Programm, das Weizenbaum mit der Computersprache LISP verfasst hatte. Tatsächlich war das Programm nicht sonderlich sophisticated, eigentlich kaum mehr als eine Paraphrasenmaschine. Wenn man da beispielsweise eintippte: »Mir geht es schlecht«, war die Antwort des Chatbots: »Ach, dir geht es schlecht?« Was nun Weizenbaums Erstaunen erregte, war, dass, wann immer er seine Sekretärin zu Gesicht bekam, sie immerfort auf der Tastatur herumklapperte – so intensiv, dass sie sein Kommen gar nicht bemerkte. Und weil er sich darüber verwunderte, was sie da eigentlich tippte – denn so viel hatte sie bei ihm gar nicht zu tun -, trat er eines Tages hinter sie und warf auf einen Blick auf den Schirm. Und was sah er da? Dass seine Sekretärin seinen Chatbot als eine Ersatz-Psychotherapeuten benutzte: »Mir geht es schlecht« - »Ach, dir geht es schlecht?«. Diese Entdeckung hat ihn unglaublich beschäftigt – begriff er doch, dass hier, ungeachtet der Tatsache, dass seine Sekretärin wusste, nicht mit einem Menschen, sondern mit einem simplen Programm zu kommunizieren, hier jener Mechanismus am Werk ist, den Freud die Übertragung nennt.
Mögen wir diese Geschichte belächeln, so ist das Sonderbare, dass ein Großteil unserer Zeitgenossen einem vergleichbaren Verhalten frönt - und dass diese Form der Übertragung (siehe Ray Kurtzweil, der da von einer Superintelligenz träumt) nicht einmal die Spezialisten des Fachs ausnimmt. Das hat mich in eine lange kulturgeschichtliche Unternehmung hineingeführt – die sich gleich in mehren Büchern niedergeschlagen hat. Und dabei stand immer die Frage im Mittelpunkt: Wie kommt es dazu? Was überhaupt ist eine Maschine? Was bringt Menschen dazu, sie auf metaphysische, nicht selten religiöse Art aufzuladen? Lassen Sie mich, bevor uns zu der Frage versteigen, was wir uns überhaupt unter Künstlicher Intelligenz vorstellen können, eine sehr schlichte, gleichwohl ungewöhnliche Deutung der Computerwelt anbieten. Was ist das Besondere daran? Was hat mich, als junger Autor, an der Welt der Geräusche begeistert? Man könnte sagen: Was immer elektrifiziert werden kann, kann auch digitalisiert werden. Das bedeutet: Das, was wir Schrift nennen, ist nicht mehr ein Abstraktum, das wie der Geist Gottes (oder die Buchstaben des Alphabets) über den Wassern schwebt, sondern es kann jede erdenkliche Form annehmen. Das können die Positionsdaten eines Wals sein, das Geräusch einer Toilettenspülung oder die Wisch-und-Weg-Handbewegung, mit der paarungswillige Großstädter diejenigen aussortieren, die sie definitiv nicht kennenlernen wollen. Beziehen wir diese Logik auf die Welt der Arbeit, die doch die einzige ist, der wir Wert zumessen, ließe sich sagen, dass jede Arbeit, die einmal digitalisiert worden ist, ins Museum der Arbeit eingeht. Auch hier eine Erinnerung aus den frühen 90ern: Da kam ein wunderbarer Pianist ins Tonstudio, spielte ein Schumann-Stück und ging. Aber kaum dass er das Studio verlassen, gab der Flügel, der seine Fingerbewegungen via Midi-Sensoren gepeichert hatte, dieses Stück wieder – und wenn uns danach gewesen wäre, hätten wir uns an Cubase oder Protools setzen und sein Spiel nach Belieben verändern können. Und dies wirft die Frage auf: Was bedeutet es, dass jede Arbeit, die einmal digitalisiert worden ist, im Museum der Arbeit verschwindet? Die Antwort ist einfach und uns allen bekannt. Weil die Elektrizität die Entfernung der Welt hinter sich lässt, kann das Programm, also der musealisierte Arbeitsvorgang, an einen x-beliebigen Ort dieser Welt transplantiert und von dort aufgerufen werden: anything, anywhere, anytime. Was uns damit heimsucht, ist das Dilemma der Lichtgeschwindigkeit. Und dies hat erst einmal nicht das Geringste mit einer künstlichen Intelligenz zu schaffen. Lassen Sie uns hier noch einen Schritt weitergehen, genauer, lassen Sie uns die Grundformel unseres digitalen Geisteskontinents in den Blick nehmen. Die findet sich in einem Werk, das der englische Mathematiker George Boole im Jahr 1854 veröffentlicht hat. Obwohl das die Boole’sche Algebra und Logik antreibt und jeder Programmierer wie selbstverständlich seine Booleans benutzt, ist diese Formel noch immer eine terra incognita. Probieren Sie’s bei der nächsten Gelegenheit aus, da werden Sie – oder, je nachdem, ihr programmierendes Gegenüber - Ihr blaues Wunder erleben. Dabei müssen Sie sich nicht einmal in die höheren Sphären hineinbegeben. Denn George Boole, der das Projekt verfolgte, den »Repräsentanten aus der Mathematik zu entfernen«, stellt sich eine sehr simple Frage: Was haben die Null und die Eins, die beiden Königszahlen der Mathematik gemeinsam – und was unterscheidet sie von allen anderen Zahlen? Wenn ich eine Eins mit sich selbst multipliziere, kommt immer Eins heraus, und wenn ich eine Null mit sich selbst multipliziere, ist das Ergebnis immer Null. Das unterscheidet die Null und die Eins von allen anderen Zahlen. Wenn wir das formalisieren, kommt die Grundformel alles Digitalen heraus: x= xn. Wenn Sie das in eine natürliche Sprache zurückübersetzen, geraten Sie geradezu in einen Schwindel hinein: Denn das bedeutet das Ende des Originals, das Ende der Identität, das Ende der Authentizität. Nimmt man das ernst und bezieht diese Formel auf sich selbst, müsste man sagen: Ich bin ein anderer, ich bin überflüssig, ich bin eine Population. - Inwieweit diese Logik sich schon unseres Denkens bemächtigt hat, wird klar, wenn wir uns vor Augen halten, dass jedes digitalisierte Objekt (sei’s ein*.pdf-Dokument, ein Audio oder ein Video-File) strukturell überflüssig ist. Dies, so scheint mir, ist eine tiefe Erschütterung, deren Folgen wir noch gar nicht wirklich absehen können.
Lassen Sie uns an dieser Stelle noch einen Schritt weitergehen und die künstliche Intelligenz in den Blick nehmen, die ja tatsächlich soetwas wie eine Pseudo-Intelligenz ist. Denn was uns aus dem Spiegel da entgegenblickt, ist eine, im Wortsinne, „mittelmäßige“ Version unserer selbst. Lassen Sie mich dazu auf eine kleine Erzählung zurückkommen, die Edgar Allen Poe im Jahr 1840 veröffentlicht hat, Der Mann in der Menge. Was Poe zu dieser Kurzgeschichte veranlasst hat, dessen Motto interessanterweise den Bezug zum Elend des Menschen herstellt (Ce grand malheur, de ne pouvoir être seul – das große Elend, nicht allein sein zu können) war die Lektüre eines Textes, den der Computerpionier Charles Babbage ein paar Jahre zuvor veröffentlicht hatte: The Ninth Bridgewater Treatise. – Das ist derselbe Mann, auf den auch die Gründung der Royal Statistical Society zurückgeht – und dessen Analytical Engine, die Vorform eines Computers, 10.000 französischen Rechensklaven das Handwerk legte. In der Tat verhält sich Edgar Allen Poes Held, der in einem Londoner Café die Passanten vorübergehen sieht, wie ein Statistiker – denn er klassifiziert die Arbeiter, die kleinen Angestellten, die Putzfrauen, die Hausmädchen usw. Dann aber erregt ein älterer Mann seine Neugierde, der sich auf merkwürdige, unvorhersagbare Weise bewegt. Und er steht auf und beginnt ihm nachzugehen. Im Laufe dieser Verfolgungsjagd, die geschildert ist wie ein Krimi, begreift der Erzähler, dass dieser Mann sein inneres Bewegungszentrum verloren hat – dass er einzig, und zwar wie magisch, angezogen wird von den Geschehnissen ringsum. Das ist das Geheimnis, das sich nach einer langen Verfolgungsjagd endlich erschließt: Dieser Mann hat sein Zentrum verloren – und er geht, weil er dezentriert ist, ganz im Gesellschaftlichen auf, in der Welt ringsum. Und diese Einsicht wiederum trifft Edgar Allen Poes Erzähler wie ein Schock:
»Dieser alte Mann«, sagte ich schließlich, »ist das Urbild und der Dämon des Triebes zum Verbrechen. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann der Menge. Es wäre vergeblich, ihm zu folgen, denn ich werde weder ihn noch sein Tun tiefer durchschauen. Das schlechteste Herz der Welt ist ein umfangreicheres Buch als der Hortulus Animae - und vielleicht ist es nur eine der großen Gnadengaben Gottes, dies: Es läßt sich nicht lesen.«
Wenn wir einen Text in ChatCPT oder in Claude eingeben – oder wenn wir ein Bild über Dalle-E, Flux oder Stable Diffusion erzeugen, ist das, was herauskommt, unser stochastisches Selbst, der Mann in der Menge. Das mag intelligent scheinen – und sogar intelligenter sein, als das, was ganze Kohorten von Bachelor-Studenten zu Papier bringen –, aber es hat mit wahrer Intelligenz nichts zu tun. Man bekommt die Antworten, genauer, die Muster geliefert, welche das Machine Learning, mit der Lichtgeschwindigkeit der Prozessoren begabt, im Fundus hat ausfindig machen können. Man könnte sagen: Was uns da aus dem Spiegel entgegen schaut, ist der Mann in der Menge. Wenn man sich klar macht, dass bereits die Rede von der Künstlichen Intelligenz eine Art Selbsttäuschung ist, stellt sich die sehr viel interessantere Frage: wie geht man mit dieser Intelligenz um? Und wie entkommt man jenen Dilemmata, die für das stehen mögen, was Edgar Allen Poe im Mann in der Menge dingfest gemacht hat: das Urbild und den Dämon des Triebes zum Verbrechen. Die Antwort ist einfach und schwierig zugleich. Einfach, weil dieser Dämon in dem Augenblick, da man sich seiner bewusst wird, seine Macht verliert. Schwierig, weil wir uns als Gesellschaft längst in bestimmte Schizophrenien eingehaust haben. Und da finden es Menschen keineswegs sonderbar, mit der Berufung auf eine digitale Souveränität (und gespeist vom Denken eines Carl Schmitt) die freie Rede im Internet beschneiden zu wollen. Diese geistige Verwirrung, die kognitive Dissonanz zu nennen beinahe eine Untertreibung ist, scheint mir weit gefährlicher als all das, was wir mit den Mitteln der Künstlichen Intelligenz bewerkstelligen können. Ja, es wird möglich sein, dass wir in Zukunft Avatare von uns selbst erstellen können, die beim Konsumenten den Anschein eines wirklichen Menschen erwecken – aber dies hat sich lange zuvor schon, lange, bevor dies zu einer technischen Realität wurde, im Denken der Menschen eingebürgert. Wenn der Anrufer aus dem Call-Center, seinem Lehrbuch folgend, seine Sätze herunter spult, dann habe ich es nicht mehr mit einem menschlichen Gegenüber, sondern mit einem Androiden zu tun. Man vergisst ja leicht, wo bestimmte Konzepte ihren Anfang genommen haben. Nehmen wir den Cyborg. Damit hat man in den sechziger Jahren den Menschen bezeichnet, der in lebensfeindlicher Umwelt – also im Vakuum des Weltraums – nur mit kybernetischen Mitteln am Leben gehalten werden kann, also den cybernetically augmented organism. So besehen sind wir alle, die wir an unseren Smartphones und Computerbildschirmen hängen, längst zu Cyborgs mutiert. Gibt es daran etwas auszusetzen? Ich würde sagen: Nein – oder wenn da etwas zu bemerken ist, dann das, dass ein solches Cyborg-Sein sich mit Behauptungen von Identität, Authentizität und digitaler Souveränität nicht verträgt.
Um zum Ende zu kommen. Ich sehe durchaus, dass die digitale Disruption, der Einbruch von Machine Learning und KI, eine Art Paradigmenwechsel darstellt – und die politischen Folgen können so dramatisch sein wie der Einbruch des Räderwerkautomaten, der das Mittelalter in eine wahre Glaubenskrise gestürzt hat. Man sieht’s ja allerorten: eine Art allgemeines Unbehagen in der Kultur, das sich, um sich gleichwohl behaupten zu können, in eine Erotik des Ressentiments hineinflüchtet, ein Great Again, das wie ein postmoderner Don-Quixotismus anmutet: ein Kampf nicht gegen die Windmühlen, sondern die Prozessoren, die uns, gerade so wie Don Quixote, erscheinen wie die Monster der Vergangenheit. Wie kein anderer Philosoph hat wohl Nietzsche dieses Dilemma erfasst, als er schrieb:
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Wenn ich von all diesen politischen Fragen absehe und mich stattdessen auf das fokussiere, was sich mit den Mitteln der KI heute bewerkstelligen ließe, vor allem, welche geistigen und ästhetischen Räume sich hier auftun, verändert sich die Szenerie, aber auch die Tonlage schlagartig. Mag sein, dass wir damit in ein Terrain vorstoßen, dass Ihnen fremdartig, wenn nicht gar unheimlich ist. Meinerseits würde ich nichts Geringeres ansetzen als das, was die Renaissance für unsere Kultur bewirkt hat. Denn der Raum der Zeichen (siehe oben) durchläuft eine radikale Revolution. Eigentlich könnte jeder, der sich heutzutage mit der Manipulation audiovisueller Objekte beschäftigt, ein Lied davon singen. Wenn Sie sich in ein Programm wie DaVinci-Resolve vertiefen – was für ein passender Name!-, haben sie plötzlich mit der Frage zu schaffen, welche Wirkung eine Klangdatei auf die Farb- oder Lichtgestaltung hat, oder sie beschäftigen sich mit der Ästhetik des LightLeaks, des Glitches und der Partikelemissionen usw. All diese Fragen mögen Ihnen so abseitig erscheinen, wie der Umstand, dass ich meinem Nachdenken über die Philosophie der Maschine zu einer Alien Logic gelangt bin – und ich will’s Ihnen offengestanden gar nicht verargen. Als mein Sohn, als 9-jähriger Waldorfschüler gefragt wurde, was sein Vater so macht, hat er hinreißenderweise geantwortet: »Mein Vater schreibt Bücher, die niemand versteht!« Der Punkt ist bloß: All die Überzeugungen, zu denen ich im Laufe der Zeit gelangt bin, sind keine Erfindungen meinerseits, sondern haben mit dem Gesellschaftstriebwerk zu schaffen, das uns alle betrifft.
In diesem Sinn
danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
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