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Die komplexe Diskussion um die Planetary Health Diet
In diesem Kapitel wird die Diskussion um die Planetary Health Diet beleuchtet, wobei verschiedene Sichtweisen präsentiert werden. Der Fokus liegt auf den globalen Implikationen der Ernährungsempfehlungen und der Notwendigkeit, auch Produktionsmethoden sowie Zugänglichkeit und Transport von Lebensmitteln zu berücksichtigen.
Arme Menschen sind selbst schuld, wenn sie hungern! Sie müssen nur richtig essen. Mit dieser Überzeugung führen Wissenschaftler im 19. Jahrhundert eine Maßeinheit für Ernährung ein: die Kalorie. Von Stefan Foag
Credits
Autor dieser Folge: Stefan Foag
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Karin Schumacher, Peter Weiß
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Nina Mackert, Universität Leipzig
Prof. Bernhard Watzl, DGE
Prof. Thomas Skurk, TU München
Literatur:
Wilbur Atwater, „Experiments on the metabolism of matter and energy in the human body“ – direkter Einblick in Atwaters Ernährungsforschung Ende des 19. Jahrhunderts
Nina Mackert, „The Career of the Calorie“ – Habilitationsschrift über die Geschichte der Kalorie
Weiterführende Links:
Wie ernähren wir uns in Zukunft gesund?
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Test zur Planetary Health Diet in der ARD Mediathek HIER
Erläuterung der Planetary Health Diet HIER
Bilder zu Atwaters Experimenten HIER
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Schon drei Tage lebt er in einer Kabine mit zweieinhalb Quadratmetern. Ein Mann tritt auf einem Fahrradergometer. Neben ihm Klappstuhl, Tisch und Feldbett. Außerhalb: Schläuche, Kabel, große Kessel, Ventilatoren. Die Kabine steht in einem Labor. Essen bekommt der Mann nur über eine Luke. Und das nach genauen Vorgaben:
ZITATOR:
„Zum Frühstück: 20 Gramm gebratener Schinken; 55 Gramm gekochte Eier, 20 Gramm Butter, 20 Gramm Brot, etwa 300 Gramm Kaffee…“
SPRECHERIN:
Der Amerikaner Wilbur Atwater leitet das Experiment. Er arbeitet in Middeltown, 160 Kilometer von New York entfernt, und hat in dieser Woche im Jahr 1897 eine Testperson in die Kammer geschickt – für vier Tage. Wilbur Atwater lässt ihn acht Stunden pro Tag strampeln.
ZSP 02 Kalorie Atmo Schlafen
SPRECHERIN:
Lässt ihn in der Kabine schlafen. Wiegt ihn, misst regelmäßig die Temperatur in der Kammer. Der Versuchsaufbau ist ein sogenannter „Kalorimeter“:
ZSP 03 Kalorie Mackert
Also der Kalorimeter war dazu gedacht, zu untersuchen, wie viel Wärme bei verschiedensten Tätigkeiten entsteht der Testpersonen und das dann in Bezug zu setzen zum Energiegehalt von Nahrung, der mit Kalorien gemessen wurde.
SPRECHERIN:
Sagt die Historikerin Nina Mackert von der Universität Leipzig, die sich mit der Geschichte der Kalorie beschäftigt hat.
Musik: Climate change more red 0‘28
Die Maßeinheit gibt an, wie viel Energie nötig ist, um ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erhitzen. Eingeführt haben sie Physiker. Wilbur Atwater ist Ende des 19. Jahrhunderts einer der Ersten, der Kalorien auf die menschliche Ernährung anwendet. Er will wissen, wie viel Essen man für eine bestimmte Arbeit braucht…
ZSP 04 Kalorie Mackert
Und er klassifizierte die Arbeit in unterschiedlich schwere Arbeit und versuchte, da Standards zu etablieren, wie viele Kalorien Menschen bei unterschiedlich schweren Tätigkeiten benötigen.
ZSP 05 Kalorie Atmo Kanalisation - Feuer / Flamme knistert
SPRECHERIN:
Wilbur Atwater verbrennt kleine Mengen Lebensmittel und misst wie viel Energie nötig ist, bis sie vollständig zu Asche verwandelt sind. Das gibt er in Kalorie bzw. Kilokalorie an.
ZSP 06 Kalorie Atmo Essen - Kauen 15 Schmatzen / Schlucken
SPRECHERIN:
So weiß er genau wie viel Energie er seinen Probanden mit dem Essen verabreicht. Er lässt sie Gewichte stemmen
ZSP 07 Kalorie Atmo Gewichtestemmen
SPRECHERIN:
Misst aber auch geistige Tätigkeiten wie Lesen…
ZSP 08 Kalorie Atmo Buch - aufschlagen, blättern, schnell und langsam
SPRECHERIN:
Ein Ergebnis: Wer sich nicht bewegt, braucht etwa 1400 Kilokalorien weniger als eine Person, die Sport macht. Wilbur Atwater führt etliche solcher Experimente durch. Schon lange glaubt er:
ZITATOR:
„Es ist unbestreitbar wahr, dass viel Geld für den Kauf von Lebensmitteln verschwendet wird.“
SPRECHERIN:
Wer hungert, ist also selbst schuld, behauptet Wilbur Atwater. Das ist Ende des 19. Jahrhunderts die Antwort auf die vielleicht drängendste Frage dieser Zeit.
ZSP 09 Kalorie Demonstration 05 Rufe / Geschrei / Schläge
SPRECHERIN:
Die Arbeitsbevölkerung leidet unter langen Arbeitszeiten, mangelndem Wohnraum, niedrigen Löhnen. Es bilden sich Arbeiterbewegungen. Streiks, Proteste, Straßenkämpfe folgen. Nina Mackert:
ZSP 10 Kalorie Mackert
Viele Menschen haben sich gefragt, ob nicht angesichts der schärfer werdenden sozialen Widersprüche eine andere Zukunft notwendig sei, eine nicht-kapitalistische Zukunft. Das heißt, es waren Arbeitsunruhen und Arbeitskämpfe mit großem sozialen Sprengstoff.
SPRECHERIN:
Und da kommt Wilbur Atwaters Blick auf die Ernährung gelegen. Zusammen mit Unternehmern und anderen Forschenden will er die Lage der Arbeiterklasse verbessern, ohne die Systemfrage zu stellen. Mithilfe der Kalorie…
ZSP 11 Kalorie OT NINA Mackert
Die Kalorie transportiert das Versprechen, eine wissenschaftlich objektive, genauestens messbare Lösung für gesellschaftliche Probleme zu liefern.
Sie ist wissenschaftlich autorisiert, aber sie ist ebenso politisch.
Musik: Take off 0‘30
SPRECHERIN:
Willibur Atwater wird vom US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium beauftragt, zu erforschen, wie sich die Menschen ernähren. Nach damaligem Forschungsstand legt er fest: Ein Mann, der sich sehr viel bewegt, braucht maximal 3500 Kilokalorien am Tag. Andere deutlich weniger. Mit diesem Wissen lässt er in den Armenvierteln von New York forschen:
Im April 1895 sind die Forschenden bei einem arbeitslosen Mechaniker. Er, seine Frau und ihre drei Kinder leben zusammen. Ihre Lebensmittel werden genau aufgeschrieben: nach Gramm, Nährwert und Kosten. 30 Dollar im Monat geben sie aus. Und verbrauchen am Tag umgerechnet 3.900 Kilokalorien pro Kopf – also zu „viel“.
ZITATOR:
„Bei richtiger Verwendung ihres Geldes hätte die New Yorker Familie ihre Lebensmittel für 15 bis 20 Dollar statt für 30 Dollar pro Monat kaufen können.“
SPRECHERIN:
Folgert Wilbur Atwater in der Studie. Er kritisiert nicht nur, dass die Familie zu viel isst. Sondern auch das Falsche:
ZITATOR:
„Mehr als die Hälfte der Kosten für tierische Lebensmittel entfallen auf Rind-, Kalb- und Hammelfleisch und Fisch. Die hohen Kosten für pflanzliche Lebensmittel erklären sich durch die Verwendung von teurem Fertigmehl, 5 bis 7 Cent pro Pfund, Brötchen für 5 Cent pro Pfund, während Weizenmehl 2 Cent pro Pfund kostete.“
SPRECHERIN:
Es entstehen genaue Vorstellungen, was arme Menschen – mit Blick auf ihren Geldbeutel - essen sollen, erzählt die Historikerin Nina Mackert:
ZSP 13 Kalorie Mackert
Salat galt als besonders ökonomisch ineffizientes Lebensmittel und die ArbeiterInnen wurden tatsächlich aufgefordert, kein Salat und kein grünes Gemüse zu kaufen, weil das zu teuer sei und zu wenig Kalorien liefern würde. Also Bohnen und Haferflocken waren immer die klassischen Empfehlungen gegen Hunger und für eine hohe Kalorienzahl bei geringen Preisen.
Musik: Secret proofs red 0‘16
SPRECHERIN:
Die Kalorie ermöglicht also das perfide Argument: Arme Menschen verdienen nicht zu wenig Geld, sie verhalten sich nur falsch und sind für ihr Schicksal daher selbst verantwortlich:
ZSP 14 Kalorie Mackert
Das nennt man in der Forschung Responsibilisierung. Das Verantwortlichmachen des Individuums für die Lösung von Problemen.
SPRECHERIN:
Und so verändert sich auch das Köperbild: Schön ist jetzt, wer schlank ist. Lange galten dicke Bäuche als Zeichen von Wohlstand. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ändert sich das allmählich. Nicht nur, aber auch wegen der Kalorie:
ZSP 15 Kalorie Mackert
Vorher war zwar Dicksein etwas, das nicht von allen immer zu gutgeheißen wurde, das auf keinen Fall. Aber es war zumindest etwas, was eher als Schicksal betrachtet wurde und nicht als etwas, was Menschen individuell steuern konnten.
SPRECHERIN:
Sich gute Lebensmittel leisten und bei der Menge Maß halten, um einen schlanken, muskulösen Körper zu haben – so lautet das neue Ideal. Das aber zunächst nur für Männer gilt. Frauen wird, etwa in Frauenmagazinen, explizit vom Abnehmen abgeraten:
ZSP 16 Kalorie Mackert
Erstens, weil sie es ohnehin nicht schaffen würden, vermeintlich.
Und zweitens, weil man sich darum sorgte, dass sie damit ihre Fruchtbarkeit gefährden würden.
SPRECHERIN:
Aber auch das ändert sich…
ZSP 17 Kalorie Luftangriff - 1. Weltkrieg 01 Doppeldecker, MG-Salven
Musik: Inquiry procedure alt 0‘28
SPRECHERIN:
Der Erste Weltkrieg beansprucht viele Ressourcen an der Front. Die beteiligten Nationen rufen ihre Bevölkerung auf, Lebensmittel zu sparen. Die Regierung in Washington verteilt überall Plakate:
ZITATORIN :
„Nahrung wird den Krieg gewinnen! Wir achten auf fleischlose Tage“ Quelle
ZITATORIN :
„Sie sind hierhergekommen wegen der Freiheit. Jetzt müssen Sie helfen, sie zu bewahren. Die Verbündeten brauchen Weizen. Verschwenden Sie nichts!“ Quelle
ZITATORIN :
„Der Sieg ist eine Frage der Ausdauer - Senden Sie: Weizen, Fleisch, Fette, Zucker - den Treibstoff für Kämpfer“ Quelle
ZSP 18 Kalorie Mackert
Der Erste Weltkrieg, kann man sagen, hat die Kalorie als Maßeinheit des Energiegehalts von Nahrung nochmal popularisiert.
SPRECHERIN:
Sagt Nina Mackert. Mit dem neuen Wissen über Kalorien steuert die US-Regierung, wie Lebensmittel produziert und rationiert werden. Vor allem Hausfrauen ermuntert sie, freiwillig auf Essen zu verzichten. Und so wird auch Schlanksein immer wichtiger. Die Autorin Lulu Hunt Peters macht Kalorienzählen als Methode populär. 1918 schreibt sie:
ZITATORIN:
„In Kriegszeiten ist es ein Verbrechen, Nahrungsmittel zu horten. […] Dicke Menschen galten schon immer als Witz, aber Sie sind kein Witz mehr. Statt mit freundlicher Toleranz und Belustigung betrachtet man Sie jetzt mit Misstrauen, Argwohn und sogar Abneigung! Wie können sie es wagen, Fett zu horten, wenn unsere Nation es braucht?“ Quelle
SPRECHERIN:
Dass Übergewicht als komplett freiwillige Entscheidung wahrgenommen wird, liegt an der damaligen Vorstellung von Verdauung. Ernährungsforscher wenden auf den Menschenkörper die Wärmelehre aus dem Maschinenbau an – die Thermodynamik:
ZSP 19 Kalorie Mackert
mit der Thermodynamik wurde der Körper zu einem Motor, der mit einer Maschine vergleichbar war, der angetrieben wurde, nicht von einer Lebensenergie, die im Körper schlummerte, sondern von externen Kräften, von der gleichen Energie, die Maschinen antrieb,
SPRECHERIN:
Was oben reinkommt, wird im Körper durch Arbeit verbrannt. Wie bei einer Dampfmaschine oder einem Auto. Aber so einfach ist es nicht, wie man heute weiß….
ZSP 20 Kalorie Piepsen + Raumatmo
SPRECHERIN:
Es erinnert an eine Schwangerschafts-Untersuchung, wenn die Ernährungswissenschaftler ihr Experiment zeigen. Großer Bildschirm, langes Kabel, Ultraschallkopf. Doch statt dem Bauchraum, wird hier der Arm genauer untersucht. An dem ist Ultraschallgel…
ZSP 21 Kalorie Skurk
damit wir die Luft zwischen dem Schallkopf und dem Gewebe eliminieren.
SPRECHERIN:
Sagt Professor Thomas Skurk [gesprochen wie geschrieben], der in Freising für die Technische Universität München forscht. Ein Doktorand streift mit dem Ultraschallkopf über seinen Unterarm. Weil der einen Laser hat, tragen beide Schutzbrillen. Das Gerät untersucht Körperfett. Damit beschäftigt sich Skurk seit Jahren:
ZSP 22 Kalorie Skurk
Das Fettgewebe ist ein Speicherorgan. Als solches wurde es immer wahrgenommen. Aber das Fettgewebe kann noch viel mehr.
Musik: Still waiting 0‘35
SPRECHERIN:
Fett beeinflusst unser Ernährungsverhalten. Es hat zum Beispiel ein Hormon, das Alarm schlägt, wenn man zu viel isst. Außerdem gibt es unterschiedliche Fettgewebe: Weißes Fett dient dazu, Energie zu speichern. Das sogenannte braune Fett verwendet der Körper, um Energie zu verbrennen – etwa wenn ihm kalt ist. Bei Erwachsenen hat es nur einen kleinen Anteil am Gesamtfett. Es baut sich aber deutlich schneller ab als das weiße
ZSP 23 Kalorie Raumatmo
SPRECHERIN:
Und genau dazu forscht Skurk mit seinem Team in dem Experiment. Zur Veranschaulichung sitzt er wie die Testpersonen vor dem Ultraschall-Gerät – und zwar in einem Rollstuhl. Denn es soll keine Energie durch Bewegung verbraucht werden.
ZSP 24 Kalorie Skurk
Nachdem wir das aufgezeichnet haben, bekommen die Probanden ihr Testessen und werden dann in bestimmten Zeitintervallen, ja, monitoriert und von einer Station zur nächsten geschoben
SPRECHERIN:
Die Probanden bekommen Eier, Toast, Butter, Reis in unterschiedlichen Anteilen – je nachdem ob sie viel Fett, Kohlenhydrate oder Proteine essen sollen. Danach wird ihr Körper analysiert, ob und wie er Fett verbrennt. Das Ziel:
ZSP 25 Kalorie Skurk
wenn wir die richtigen Lebensmittel essen oder richtige Lebensmittel zukünftig vielleicht entwickeln können, dann könnte diese Aktivierung des braunen Fetts unterstützend wirken, Körpergewicht zu verlieren.
SPRECHERIN:
Musik: Precision on demand 0‘24
SPRECHERIN:
Die Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert ist also überholt: Der Mensch verdaut komplizierter als eine Maschine; wie viel Essen er braucht, ist sehr unterschiedlich. Trotzdem sind die Erkenntnisse von Wilbur Atwater im Grundsatz heute noch richtig, betont Thomas Skurk:
ZSP 27 Kalorie Skurk
Also prinzipiell geht es hier um die Berechnung des Energiegehalts in der Ernährung und diese Berechnungsformeln sind in der Regel noch gültig.
SPRECHERIN:
Dass die meisten Menschen ohne Sport grob zweitausend Kilokalorien am Tag brauchen, stimmt nach wie vor. Bis heute gilt das „Atwater-System“, das den Energiegehalt von Nährstoffen pro Gramm festlegt:
ZSP 28 Kalorie Skurk
Da rechnen wir eben 9 Kilokalorien für Fett, 7 Kilokalorien für Alkohol und jeweils 4 Kilokalorien für Kohlenhydrate und Protein.
ZSP 29 Kalorie Atmo Bombenkaloriemeter
SPRECHERIN:
Und wie viel Nährwert in einem ganzen Lebensmittel steckt, wird genauso wie damals ermittelt: durch Verbrennung. Im Labor steht ein Kasten – etwas größer als eine Bierkiste.
ZSP 30 Kalorie Atmo Bombenkaloriemeter läuft an
SPRECHERIN
Es ist ein „Bombenkalorimeter“. Lebensmittel-Proben mit wenigen Gramm werden hier hineingelegt und verbrannt. In dem Gerät ist auch Wasser, das dadurch wärmer wird. Denn die Maßeinheit Kalorie gibt ja an, wie viel Energie nötig ist, um Wasser zu erhitzen.
Allerdings: Forschende rechnen eigentlich schon lange mit Joule, nicht mehr mit Kalorien, erklärt Thomas Skurk.
ZSP 31 Kalorie Skurk
Die Kalorie ist ein sehr kurioses Konstrukt, die es ja eigentlich seit 1948 gar nicht mehr gibt.
SPRECHERIN:
Etwa vier Joule entsprechen einer Kalorie. Beide Einheiten geben an, wie viel Energie nötig ist, um ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erhitzen. Doch lange war nicht klar, von welcher Ausgangstemperatur gemessen wird. Es gab Verwirrung. 1948 hat die internationale Generalkonferenz für Maß und Gewicht beschlossen, nur noch die Einheit zu verwenden, die auch für andere Energieformen gilt: Joule.
ZSP 32 Kalorie Skurk
Aber in der Ernährungswissenschaft dürfen wir es nach wie vor verwenden, weil es einfach traditionell ist und jeder mit der Kalorie oder vielmehr der Kilokalorie relativ gut umgehen kann.
Musik: Consistent method (reduziert) 0‘26
SPRECHERIN:
Bis heute orientieren sich immer noch viele an der Kalorie. Seit 2016 muss EU-weit auf fast jedem Lebensmittel eine Nährwerttabelle angeben, wie viel Kalorien enthalten sind. Beim Kalorienzählen helfen Abnehm-Apps, Ernährungsberater und Fitness-Influencer…
ZSP 33 Kalorie OT Youtuberin
um deine Diät erfolgreich zu gestalten, brauchst ein Kaloriendefizit. Das heißt, du musst weniger essen als du verbrauchst, um dann schlussendlich Körperfett zu verlieren Link
ZSP 34 Kalorie OT Youtuber
Und gerade als Anfänger ist es natürlich super sinnvoll. Du musst ja erstmal ne Ahnung haben, was schaufelst du dir da jeden Tag rein. Link
ZSP 35 Kalorie OT Youtuber
die gute Nachricht ist, dass es Lebensmittel gibt, die gut schmecken und die dazu führen, dass du nahezu kalorienfrei satt wirst. Link
SPRECHERIN:
Das Bild vom Körper als Maschine hält sich bis heute. Auch Ernährungswissenschaftler lehnen es nicht grundsätzlich ab. Schließlich stimmt ja: Der Körper verbrennt Kalorien. Aber Hormone, Fettgewebe und Enzyme spielen eben auch eine Rolle. Dass bis heute so viele Menschen Kalorien zählen, hat aber nicht nur gesundheitliche, sondern auch gesellschaftliche Gründe, sagt die Historikerin Nina Mackert:
ZSP 36 Kalorie Mackert
Das ist wahnsinnig attraktiv in einer Zeit, in der die individuelle Selbstregierung so hervorhebt, die Notwendigkeit der individuellen Selbstregierung und die Pflicht. Das Zweite ist, dass das Kalorienzählen im Konsumzeitalter nicht nur Selbstdisziplin hervorhebt, sondern auch die Möglichkeit, prinzipiell alles zu essen.
Musik: Calculations 0‘21
SPRECHERIN:
Heißt: Wer abends Salat ist, kann sich mittags auch mal ein Schnitzel gönnen. Auch Schokolade ist dann - in Maßen – ok. Die Kalorie reguliert nicht nur, sie ermöglicht auch Konsum. Und da wächst seit Ende des Zweiten Weltkriegs das Angebot immer weiter:
ZSP 37 Kalorie Zucker-Werbung 1954
Ach, wie war das Leben traurig, gäbe es keinen Zucker mehr. Kinder hätten keine Freude, keine Lust zum Spielen mehr! Link
ZSP 38 Kalorie Burger King-Werbung
100% saftiges flame grilled beef, knackiger Salat, frische Tomaten und ein neues noch flluffigeres Bun. So lecker wie nie zuvor! Link
ZSP 39 Kalorie Kinderriegel-Werbung
Einfach Milch und Schokolade, einfach einzigartig im Geschmack.
SPRECHERIN:
Essens-Mangel ist in Industrieländern schon lange kein großes Problem mehr. Und gleichzeitig arbeiten immer mehr am Schreibtisch:
ZSP 40 Kalorie Watzl
Wir haben heute einen geringeren Energiebedarf, weil viele Menschen nicht mehr so körperlich aktiv und berufstätig sind, wie das in den 50er und 60er Jahren der Fall war.
SPRECHERIN:
Sagt Professor Bernhard Watzl, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. In den Anfängen der Ernährungsforschung ging es vor allem darum, Menschen ausreichend zu ernähren. Heute beschäftigten sich Forschende mit sogenannten „Wohlstandskrankheiten“. Diabetes und Adipositas sind weit verbreitet. Was dagegen hilft, ist allerdings prinzipiell klar, betont Bernhard Watzl:
ZSP 41 Kalorie Watzl
es gibt in unseren Lebenswelten verschiedene Ansätze, wo wir es dem Individuum leichter machen könnten, sich gesundheitsförderlich und nachhaltig zu ernähren. Aber die Realität ist so, dass wir eher motiviert werden, erstens zu viel zu essen und zweitens eher die ungesünderen Lebensmittel zu konsumieren.
Musik: Facts & data 0‘31
SPRECHERIN:
Viele Lebensmittel sind hochverarbeitet; haben zu viel Zucker, Salz, Fett. Sie sind permanent verfügbar und werden überall beworben. In Deutschland fordern Forscher eine Zuckersteuer; Politiker wollen Kinderwerbung für Ungesundes verbieten. Aber mehr Regeln für Unternehmen waren schon immer schwer durchzusetzen. Daran hat auch die Kalorie ihren Anteil, sagt Nina Mackert:
ZSP 42 Kalorie Mackert
Das Kalorienzählen erlaubte es im Feld des Abnehmens, aber auch in anderen Feldern […] gesellschaftliche Probleme, strukturelle Ungleichheit […] mangelnden Zugang zu gutem, gesundem Essen als Problem des Individuums zu markieren.
SPRECHERIN:
Also seit dem 19. Jahrhundert das gleiche Argument: Der Einzelne ist „selbst schuld“. Und so bekommen Adipöse bis heute verletzende Sprüche zu hören. Auch Ernährungswissenschaftler Watzl sagt: Es ist falsch, Menschen allein die Schuld für ihr Übergewicht zu geben. Dafür seien die ungesunden Anreize zu groß. Gleichzeitig dürfe man auch niemandem ganz seine Eigenverantwortung absprechen:
ZSP 43 Kalorie Watzl
der Mensch ist immer einzeln, wenn er isst. Er muss für sich die Entscheidungen treffen. Was esse ich? Und da geben wir ganz klar ein Muster vor.
Musik: Creative workshop red 0‘39
SPRECHERIN:
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung veröffentlicht seit ihrer Gründung 1953 alle paar Jahre Empfehlungen, wie man gesund isst und trinkt. Sie sagt, wie viel Hülsenfrüchte, Obst, Getreide, Fleisch es pro Woche braucht, um alle Nährstoffe zu bekommen. Heute geht es also nicht nur um Energiebedarf, sondern auch darum, ob das Essen alles beinhaltet, was man für die Gesundheit braucht. Dabei berücksichtigt die Gesellschaft für Ernährung auch, dass Menschen sich weniger bewegen. Oder dass sich immer mehr vegetarisch oder vegan ernähren.
ZSP 44 Kalorie Watzl
Und ganz neu durch die Empfehlungen, die wir jetzt im März dieses Jahres veröffentlicht haben, die Umweltauswirkungen der Art und Weise, wie wir Lebensmittel in unseren Speiseplan aufnehmen.
SPRECHERIN:
Die besagen: Noch weniger Fleisch und Milchprodukte, dreiviertel der Ernährung: pflanzlich. Bei den Empfehlungen hat sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung auch an der „Planetary Health Diet“ orientiert. Forschende haben 2019 für das Wissenschaftsjournal The Lancet eine globale Ernährungstabelle erstellt. Das Ziel: Halten sich alle daran, kann die ganze Weltbevölkerung gesund leben und die Klimaerwärmung stoppen. Klingt gut, aber:
ZSP 45 Kalorie Mackert
Die Kommission, die die Planetary Health Diet ersonnen hat, ist eine erstens westlich geprägte Kommission und zweitens eine, die tatsächlich der ganzen Welt erzählen wollen, wie die sich zu ernähren haben.
SPRECHERIN:
sagt die Historikerin Nina Mackert. Der Ernährungswissenschaftler Thomas Watzl widerspricht:
ZSP 46 Kalorie Watzl
Die Daten, die im Rahmen der Planetary Health Diet veröffentlicht wurden, die zeigen ja auch eine Spanne an.
SPRECHERIN:
Bei Milch etwa empfiehlt die Kommission 0 bis 500 Gramm pro Tag. Es sei klar,
ZSP 47 Kalorie Watzl
dass es Länder gibt, wo traditionell kein Milchverzehr üblich ist, weil die Produkte nie verfügbar waren. Und auf der anderen Seite viele Länder Mittel- und Nordeuropas, die haben traditionell eine hohe Produktion und einen hohen Verzehr von Milchprodukten.
Insofern ist es eher ein schlampiger Umgang derjenigen, die das lesen.
Musik: Green planet red 0‘46
SPRECHERIN:
Nina Mackert kennt die Spannweiten und erkennt auch an, wie differenziert die Empfehlungen sind. Trotzdem befürchtet sie, dass auch beim Klimaschutz wieder vor allem die Einzelperson verantwortlich gemacht wird. Und das ist eben nicht alles:
ZSP 48 Kalorie Mackert
Wer produziert dieses Essen, auf welche Art und Weise zum Beispiel
Welche Menschen haben Zugang zu welchem Essen? Wie wird das Essen, wie werden die Nahrungsmittel transportiert, über welche Distanzen? Das sind alles Fragen, die meines Erachtens viel entscheidender für Fragen von Klimaschutz zum Beispiel sind als die Kalorienzahl der individuellen Ernährung.
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