
Das Pinseläffchen Mitz – und wie es die Welt sah
SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Mitz als Spiegelbild Virginias
Die Moderatorin beschreibt, wie das Tier Virginia Woolf reflektiert: nervös, zerbrechlich, neugierig und spitzbübisch.
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Episode notes
Es muss ein lustiger Anblick gewesen sein: Aus der Weste von Leonard Woolf, Verleger und Autor, obendrein Gatte der berühmten Virginia Woolf, lugt ein winziges, verfrorenes Pinseläffchen namens Mitz heraus.
Als die Woolfs 1935 per Automobil Hitler-Deutschland durchqueren und in Bonn in eine Nazi-Kundgebung hineingeraten, hilft ihnen das Äffchen dabei, misstrauische Polizisten zu besänftigen. Lachend über das putzige Wesen, bahnen sie den Weg für die beiden Briten, die sich auf ihrem Trip durchs Reich sichtlich unwohl fühlen.
Sigrid Nunez beschreibt in ihrem Roman „Mitz, das Pinseläffchen“, übersetzt von Anette Grube, solche Szenen auf lakonische Weise. Und sie erzählt, wie das winzige Äffchen aus der Gattung der Marmosetten in den literarischen Haushalt der Woolfs kam:
Leonard verliebt sich gleich in das Wesen, als es ihm bei den Rothschilds, sehr reichen Freunden, vorgestellt wird. Virginia entdeckt in dem kleinen Gesicht etwas allzu Menschliches:
Das Gesicht einer Elfe, Körper und Schwanz eines Nagetiers: Es war diese Kombination, die aus Mitz so ein Wunder machte. Man sah sie an und dachte: Wie grotesk. Um im nächsten Augenblick: Wie bezaubernd. Und dann wieder: Wie grotesk.Quelle: Sigrid Nunez: Mitz, das Pinseläffchen
Mitz wird aufgepäppelt
Die Rothschilds geben das abgemagerte Tier in die Hände Leonards; es wird aufgepäppelt, freundet sich mit dem Hund Pinka an, nimmt vergnügt an Abendgesellschaften teil, fühlt sich aber am wohlsten in den vier Wänden der Woolfs.Zu viele Soireen griffen ihre Nerven an und verursachten ihr Kopfschmerzen, und gleichgültig wie viel Spaß sie hatte, sie war immer froh, wieder zu Hause zu sein, denn nichts war ihr lieber als diese schlichten, mit Büchern gefüllten Zimmer, ihr eigener gemütlicher Vogelkäfig, ihr eigenes Feuer im Kamin.Was zunächst etwas betulich erscheint, entwickelt eine schöne, ruhige, fließende Erzählkraft. Alles ist sehr klar und anschaulich und lebendig.Quelle: Sigrid Nunez: Mitz, das Pinseläffchen
Virginia spiegelt sich in Mitz
In der kurzen Lebensspanne von Mitz, den Jahren zwischen 1934 und 1938, bekommen wir Einblick in die auf Wohlwollen und kreativer Unbändigkeit basierende Künstlerehe. Wir sehen Leonard und Virginia am Abend lesend am Kamin sitzen, neue Ideen entwickeln, zweifeln und spotten. Mitz ist unser kleiner Spion in diese Welt. Über das Äffchen vermittelt sich nicht nur das Sichtbare, sondern auch das Unausgesprochene: die Routinen und Belastungen, die Zärtlichkeit und Traurigkeit. Nicht zuletzt ist das Tier, ohne dass Nunez dieses Motiv überstrapaziert, ein Spiegel für Virginia Woolf.Zwei nervöse, zerbrechliche, misstrauische weibliche Wesen, die eine genauso unermüdlich neugierig wie die andere. Beide verliebt in Leonard – für beide war er der Fels in der Brandung, der ‚unantastbare Mittelpunkt‘. Beide waren spitzbübisch. Beide hatten Krallen.Quelle: Sigrid Nunez: Mitz, das Pinseläffchen
Eine schwermütige Note
Nunez referiert mit „Mitz“ auf Virgina Woolfs humoristische Biografie „Flush“ über Elizabeth Barrett Brownings Cocker Spaniel; sie nutzt Material aus Tagebüchern und Briefen. Aber es ist nicht nur ein heiteres, anspielungsreiches Buch, das zwischen historischer Akkuratesse und erfindungsreicher Freiheit oszilliert. Es ist nicht nur ein Buch, in dem Nunez zum ersten Mal in ihrem Werk die rätselhafte Beziehung zwischen Tier und Mensch umkreist. „Mitz“ erzählt auch von dem Unheil, das 1938 am Horizont schon aufscheint: Kurz vor seinem Tod erfahren wir, wie das Pinseläffchen und seine Artgenossen aus ihrem südamerikanischen Habitat gerissen und nach England verbracht wurden. Nur wenig später wird der Zweite Weltkrieg beginnen, Menschen werden wie Tiere behandelt, verschleppt, misshandelt, getötet. Kurz darauf, 1941, auch das ist beim Lesen gegenwärtig, wählt Virginia Woolf den Freitod. All das wissend, schleicht sich in diesen anrührenden, auf schöne Weise bedächtig und souverän erzählten Roman eine schwermütige Note.The AI-powered Podcast Player
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