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leben ja gerade in einer Zeit des großen Wandels. Die Gesellschaft wandelt sich, der Arbeitsmarkt wandelt sich. Und auch, du hast vorhin von Freiheit gesprochen. Viele Dinge, die Freiheiten in den letzten Jahrhunderten beschränkt haben, sind weggefallen. Wir haben viele Freiheiten, was auch Stress durchaus bedeutet, die Freiheit hinzu. Und ein Wort, was immer so rumgeistert, ist dieses Selbstverwirklichungsding. Die Suche nach dem wahren Ich oder eben auch dieser Zwang, Potenziale entwickeln zu müssen, dass viele Leute schon quasi Stress empfinden, weil sie sich jetzt nicht weiterbilden oder weil sie Talente nicht weiter verfolgen. Wie stehst du zu diesem Selbstverwirklichungsdrang, dieser Coaching-Drang, der teilweise auch
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da ist? Wie siehst du das? Da stecken ja mehrere Probleme gleichzeitig dahinter. Also erstmal muss man fragen, was Selbstverwirklichung sein soll. Und ob es nicht besser wäre, man würde so ein Gefühl für den eigenen Wert herausbilden. Also was ist jetzt wichtiger, Selbstverwirklichung oder Selbstwertgefühl? Und da bin ich ziemlich sicher, dass diejenigen, die so ein Gefühl für ihren eigenen Wert bekommen, dass die viel glücklicher sind, als die, die sich da da versuchen zu verwirklichen. Und dann ist die zweite Frage, was will ich denn da wirklich verwirklichen? Wer redet mir ein, was ein verwirklichter Gerald Hüther ist? Das kann ich doch nur selber wissen. Also muss ich erstmal alles das, was ich an Verwirklichungen glaube, umsetzen zu müssen, prüfen, ob das überhaupt meins ist. Oder wie viel mehr da von anderen in die Birne gepackt worden ist, mit dem ich eigentlich gar nichts am Hut habe. Und deshalb ist da viel Gerede in dieser Selbstverwirklichung und ich halte das für einen sehr fragwürdigen Ansatz. Das ist der eine Teil und der andere ist eben, wenn ich wirklich jemand sein will, der seine Talente und Begabungen zur Entfaltung bringt, dann ist das ja keine Selbstverwirklichung, sondern das ist ja sozusagen mein Potenzialentfaltungsprozess und der vollzieht sich doch auch nicht nur auf einem Sektor. kann doch nicht ein Potenzial auf Kosten von anderen entfalten, sondern Potenzialentfaltung heißt immer, dass ich mich sozusagen in allen Bereichen entfalte. Also wenn ich jemand bin, der jetzt als Spezialist nur noch synaptische Proteine untersucht, dann ist das ein Spezialist aber keiner, der Potenziale entfaltet hat. Wenn ich aber ein Hirnforscher bin, der auch noch die Implikation seiner Hirnforscherei in anderen Bereichen des Lebens sucht und der dann vielleicht auch noch mit der Natur verbunden ist und das auch noch alles zu dem zählt, was ihn interessiert, das wäre dann einer, der hat eine Chance, seine Potenziale zu entfalten. Also man müsste fast sagen, jeder Spezialist ist, dadurch, dass er Spezialist geworden ist und sich darauf eingelassen hat, etwas Bestimmtes zu werden, ist der leider schon einer, der nicht mehr viele Chancen hat, seine Potenziale zu entfalten. Das ist nebenbei gesagt ein tiefes Dilemma, darüber können wir jetzt nicht reden. Das ist die Notwendigkeit, sich in einer Welt zu differenzieren und zu spezialisieren, so wie eine Leberzelle. Die kommt aus einer omnipotenten Keimzelle, aus einer omnipotenten embryonalen Zelle und irgendwann kommt sie in ein Milieu, wo in ihr bestimmte Mechanismen in Gang gesetzt werden, die sie plötzlich auf die Schiene Leberzelle setzen. Und da kommt sie nicht wieder runter, dann ist sie eine Leberzelle. Aber das Potenzial, was sie vorher mal noch gehabt hat, bevor sie auf dieser Schiene gelandet ist, das ist dann futsch, dann kann sie den Rest des Lebens nur noch Leberzelle werden. Und dann geht es weiter und diese Leberzelle ist aber nicht schlimm, wenn man Spezialist wird, wenn man mit den anderen verbunden bleibt. Also wenn die Leberzelle dann so mit den anderen Zellen, die in der Lunge und im Gehirn und in der Niere sind, sozusagen im Weg gefunden hat, dass das alles miteinander verbunden bleibt, dann kann man ruhig Spezialist sein. So, das würde aber heißen, Spezialisierung darf man eigentlich nur dann in Gang setzen, wenn man dafür sorgt, dass man mit den anderen verbunden bleibt. Und dann vollzieht sich eben dieses Wunder, dass dann der gesamte übergeordnete Organismus sozusagen Potenzial in sich trägt, nämlich diese ganzen speziellen Leute. Aber der Einzelne, der sich als Einzelner in diesem Organismus durchsetzen will mit seinem Potenzial. Das ist natürlich totaler Blödsinn. Das wäre so, als ob plötzlich die Leberzellen der Meinung sind, sie sind besser als die in der Lunge oder in der Niere. Das hat mit Potenzialentfaltung dann nichts mehr zu tun. Das ist das Ergebnis unseres Wettbewerbsdenkens, was eben diese Spezialisierung zwingt. Vielleicht ist das der eigentliche Grund, wir uns darauf einlassen. Als
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letztes, jetzt am Ende des Podcasts, will ich nochmal auf ein Thema ganz kurz schauen, was du auch selbst nochmal angesprochen hast, nämlich der Wert. Der Wert als Mensch. Du hast gerade gesagt, es gibt so viele Dinge von außen, die auf einen einströmen und man sich fragen, so will ich das eigentlich alles mit dieser Selbstoptimierung und dass du dich gefragt hast, was ist mein Wert als Gerald Hüther einfach? Kannst du uns da vielleicht noch mal ein bisschen erzählen, wie stellt man diesen Wert fest, wie misst man ihn, was hat man von diesem Wert und wie entsteht der eigentlich?
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Da kommt jetzt was ganz Trauriges. Weil diesen Wert kann man nicht alleine finden. Also wenn Gerald Hüther ganz alleine auf der Welt groß geworden wäre, unabhängig davon, dass er gar nicht gegangen wäre, aber dann hätte er auch seinen eigenen Wert nicht erkennen können. Ich kann den eigenen Wert eigentlich erst im Spiegel der anderen. Martin Bubas sagt, im Du und in der Begegnung mit jemand anders selbst erspüren. Und damit ich diesen Wert erspüren kann, muss diese Begegnung so verlaufen, dass ich das Gefühl habe, dass ich richtig bin, so wie ich bin. Dann kann ich sagen, das ist okay.
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der andere an mir rummacht und sagt, das musst du noch und den, das musst du noch und da bist du noch nicht genug, da kann ich mich nur als wertlos empfinden. Und deshalb ist das ein Ergebnis der Erfahrungen, die man mit anderen Menschen macht und manche haben eben als Kinder Glück und geraten nicht so schnell an solche Bewerter und manche haben Pech und sind schon vom zweiten oder ersten Lebensjahr an in der Situation, wo sie merken, dass das, wie sie sind, nicht ausreicht. Was
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kann man dann aber dafür tun, um seinen Wert zu entdecken, um ihn zu entwickeln, zu schützen? Da kann man alleine wieder nichts tun. Da kann man nur versuchen, achtsam zu
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sein, um diese ja doch ständig auftretenden Momente auch wirklich nutzen zu können, in denen man seinen eigenen Wert dann plötzlich erkennt. Also wenn ich unachtsam durch die Straße gehe, dann kann ich nicht sehen, dass mich ein älterer Mensch, der an mir vorbeikommt, anschaut und Freude daran hätte, wenn ich stehen bleibe und in meinem Augenblick mit ihm rede. Und schon habe ich eine Gelegenheit verpasst, um mich mit ihm auszutauschen und ihm das Gefühl zu geben, dass er ein toller Typ ist und dass es auf seine Weise versucht hat im Leben. Und er merkt dann, ich bin auch ein Suchender und habe eben da auch bestimmte Dinge gefunden und das werden wir beide wertschätzen können. Und dann gehen wir beide auseinander und haben das Gefühl, das war jetzt irgendetwas, eine Begegnung, in der wir ein Stückchen stärker geworden sind, mehr bei uns und wieder zu uns zurückgefunden haben.
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Das heißt, der Wert hängt immer von den anderen Menschen ab. Nein,
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nicht von den anderen Menschen, sondern von der Tatsache, dass man in der Lage ist, mit einem anderen Menschen in eine solche Begegnung zu kommen. Die anderen per se nützen einem überhaupt nichts. Wenn ich keine solche Begegnung hinkriege, dann laufen die an einem vorbei. Und damit ich so eine Begegnung hinkriege, müsste ich auch die anschauen. einen Impuls von denen ausgeht, der eine Anknüpfungsmöglichkeit bietet, damit wir einander begegnen. Das kann ja jeder probieren. Geh doch einfach mal nachher, wenn wir fertig sind, ein Stück auf der Straße da draußen und lächle mal irgendjemandem.
Speaker 2
Total. Kriegst du es sofort zurück? Genau, ich bin dennoch irritiert über deine Antwort, weil ich hätte was anderes erwartet eigentlich. Es gibt ja dieses schöne Bild, wenn man jetzt einen 100-Euro hat, der ist 100 Euro wert. Und wenn du den jetzt zerknüllst und drauf rumtrampelst, ist der ja trotzdem immer noch 100 Euro wert. Das heißt, egal wie die anderen Menschen diesen 100-Euro behandeln, der verliert nicht seinen Wert. Und das ist nochmal so eine andere Ebene.
Speaker 1
die Würde des Menschen ist unantastbar. Klar, jeder hat Würde. Aber was nützt mir meine im Grundgesetz formulierte Tatsache, dass ich Würde besitze, wenn ich mir meiner eigenen Würde nicht bewusst werde? Wenn ich keine Möglichkeit habe, mich als würdevoll zu erleben, dann ist das ein schöner Satz im Grundgesetz. Und erst wenn ich mir meiner eigenen Würde bewusst werde und eine Vorstellung meiner eigenen Würde entwickeln konnte, dann kann ich auch aufpassen, dass die mir keiner raubt. Wo ist der Unterschied zwischen Würde und Wert für dich? Ja, Wert ist etwas, was Menschen miteinander definieren. Wenn wir beide jetzt Mafiabosse wären oder Nazis, dann hätten wir bestimmte Werte. Das heißt, Werte sind in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext beliebig interpretierbar. Würde nicht. Die Nazis hatten Ehre und Stolz und Werte und Moral und Ethik, aber die hatten keine Würde. Weil die kann man nur selber haben. Da gibt es keine Regel, dass man sagt, das ist eure Würde. Ihr stellt euch hier in Reihe und Glied an und dann kriegt ihr die Würdigung. Das hat mit Würde nichts zu tun.