
Weg mit der BeiĂschiene! â Wie geht nachhaltige Entspannung?
Radiowissen
Die Suche nach nachhaltiger Erholung im Alltag
Dieses Kapitel beleuchtet die wachsende Stressbelastung in der modernen Arbeitswelt und die oft falschen Ansichten zur Entspannung. Es wird betont, dass wahre Erholung notwendig ist, um die alltÀglichen Sorgen nachhaltig zu bewÀltigen.
Morgens mĂŒde mit Nacken- oder Kieferschmerzen aufwachen - das kennen alle, die nachts die Sorgen des Alltags zermalmen. BeiĂschienen helfen, ZĂ€hne zu schĂŒtzen, aber das eigentliche Problem lösen sie nicht: Stress, Anspannung, Unruhe! Wie schaffen wir es, uns zu entspannen, und zwar nachhaltig. Victoria Marciniak macht sich auf die Suche nach Antworten. Autorin Victoria Marciniak (BR2025)
Credits
Autorin dieser Folge: Victoria Marciniak
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Victoria Marciniak Katja Amberger, Sven Hussock
Technik:
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
- Dr. Hilde A. Urnauer â psychologische Psychotherapeutin
- Dr. Saundra Dalton-Smith â FachĂ€rztin fĂŒr Innere Medizin. Sie forscht zum Thema Work-Life-Balance.
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Das vollstÀndige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Na, wo versteckt Ihr Eure? Vielleicht in der hintersten Ecke vom Nachttischchen unter einem BĂŒcherstapel? Ganz offensiv in einem Glas mit Kukident-Lösung neben der ZahnbĂŒrste und dem Seifenspender? Oder so wie ich: Versteckt im unteren Teil der zweistöckigen Bambusbox im Badezimmer. Die öffne ich abends heimlich, um meine BeiĂschiene in den Mund zu legen (ATMO).
MUSIK
Und wofĂŒr das Ganze? Nur weil mein Zahnarzt beim letzten Kontrollbesuch entsetzt gesagt hat:
Zitator
âFrau Marciniak, Sie essen Ihre ZĂ€hne auf!â
Sprecherin:
Denn: Ich knirsche so stark, dass meine BackenzÀhne - laut meinem Zahnarzt - so abgenutzt sind wie die ZÀhne einer 70- jÀhrigen. Aber was kann ich dagegen tun?
Zitator
âStressen Sie sich weniger! Versuchen Sie, ausgeglichener zu werden.â
Sprecherin:
Klar, aber: wie geht das? Wie kann ich mich entspannen, auch im Alltag?
MUSIK ENDE
Podcast-Ansage
Ich bin Victoria Marciniak und fĂŒr diesen Podcast habe ich mich auf eine persönliche Suche gemacht. DafĂŒr habe ich mit Expertinnen gesprochen, einen Test gemacht und gelernt: Entspannung, die findet man nicht unbedingt auf dem Sofa vor dem Fernseher, im Yogakurs, auf einem Achtsamkeitswochenende oder im dreiwöchigen Thailandurlaub am StrandâŠEntspannung ist etwas sehr Individuelles und Differenziertes. Es lohnt sich also ganz genau hinzuschauen, was wirklich und nachhaltig hilft. Und genau das machen wir jetzt.
MUSIKAKZENT
TON 1
Ich hab auch ne BeiĂschiene (lacht) Ja, ich trage sie manchmal, manchmal nicht.
Sprecherin
Dr. Hilde Urnauer ist psychologische Psychotherapeutin in Potsdam. Sie beschÀftigt sich schon lÀnger mit dem Thema Psyche und ZÀhne und ist seit etwa 20 Jahren im Team einer deutschlandweit einzigartigen Beratungsstelle mit dem Namen: Seele und ZÀhne.
Ton 2
Das ist eine Beratung, die immer von einer ZahnĂ€rztin und mir als Psychologin durchgefĂŒhrt wird. Und zwar, es ist ja ein Zusammenspiel im Organismus, dass die Seele auch auf die ZĂ€hne wirkt. Das kennen wir auch schon umgangssprachlich. So ZĂ€hne zusammenpressen, dass da, wenn ganz viel Druck da ist im Leben. Man muss nicht durchbeiĂen. Die Begriffe sagen schon, dass da Spannungen sind, Belastungen sind, die sich auch auf den Körper auswirken.
MUSIK
Sprecherin
Und wer gestresst ist, wird vermutlich (so wie ich) also mit den ZĂ€hnen knirschen oder sie zusammenbeiĂen. Und anscheinend mĂŒssen sich immer mehr Menschen âdurchbeiĂenâ: ZahnĂ€rztinnen und -Ă€rzte verschreiben die sog. Knirscheschienen nĂ€mlich immer hĂ€ufiger, insbesondere bei groĂen Krisen wie der Corona-Pandemie. Das wurde mir auf Anfrage bei der KassenĂ€rztlichen Bundesvereinigung auch bestĂ€tigt. WĂ€hrend 2019 noch rund 1,6 Millionen Knirscheschienen an gesetzlich Versicherte verschrieben wurden, waren es 2021 fast 2 Millionen. Klar, das kann ganz viele GrĂŒnde haben, aber ich frage mich schon: Sind wir gestresster als frĂŒher? Das habe ich psychologische Psychotherapeutin Dr. Hilde Urnauer gefragt:
MUSIK ENDE
Ton 3
Ja, das ist so dieses Fremdbestimmte, fremdgetaktet, immer funktionieren, immer nach drauĂen. Das heiĂt, es gibt diese RĂŒckkoppelung, also diese Resonanz zu sich, was möchte ich, was tut mir gut, immer erreichbar, heiĂt, immer auch im Funktioniermodus zu sein und dann tatsĂ€chlich so den Bezug zu sich zu verlieren.
Sprecherin
Dass wir gestresster sind als frĂŒher bestĂ€tigt mir auch Dr. Saundra Dalton-Smith. Die US-amerikanische FachĂ€rztin fĂŒr Innere Medizin forscht u.a. zum Thema Work-Life-Balance.
Ton 4
Overvoice
I believe we are more stressed today than in pastâŠ.
Ich glaube, wir sind heute gestresster als frĂŒher, weil wir uns an diese mĂŒhselige Arbeitskultur angepasst haben. Eine Arbeitskultur, in der Ruhe als etwas angesehen wird, das nach getaner Arbeit zu erledigen ist, anstatt als etwas, das uns helfen kann, effektiver, produktiver und zufriedener in unserer Arbeit zu sein.
⊠and more satisfied in the work that we doâŠ
Sprecherin
Der gröĂte Stressfaktor der Frauen ab 18 in Deutschland ist ĂŒbrigens âhohe AnsprĂŒche an sich selbstâ zu haben â das hat eine forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse 2021 ergeben. Bei den MĂ€nnern ab 18 ist es die Schule, das Studium oder der Beruf.
MUSIK
NatĂŒrlich wissen wir alle, dass wir uns mehr entspannen sollten. Und wir alle versuchen es auf unsere Weise. Ich habe mal meine beiden besten Freundinnen Hannah und Bekee gefragt (ATMO), was sie machen, um den Kopf freizubekommenâŠ
MUSIK ENDE
Ton 5
H: ich glaube, es ist voll abhĂ€ngig, von was fĂŒr einer Situation man entspannen möchte. Manchmal finde ich rausgehen super entspannt und irgendwie in der frischen Luft sein und andere Male finde ich mich auf die Couch legen und irgendwas dummes anschauen.
B: Ja, das ist voll, aber wenn du halt entweder auch dabei anschaust oder du gehst spazieren und hörst Musik dabei, ist das wirklich Entspannung oder ist das nicht... Ich beschalle das, ich ĂŒberschalle das was in meinem Kopf passiert. Entspanne ich dadurch wirklich? Ich höre halt immer Musik an. Also ich meine, mein Spotify-Wrap besteht ja aus, Sie haben 3 Millionen Jahre Musik gehört. Ich komme halt zu Hause rein, das Erste, was ich mache, ist Musik an! Ich mache oft Musik an, bevor ich ĂŒberhaupt meinen Schuh ausziehe. (âŠ) Und ja, ich wĂŒrde sagen schon, dass Musik fĂŒr mich schon was ist, was irgendwie fĂŒr mich entspannend ist. (âŠ) Aber gleichzeitig denke ich mir halt so, ist es Entspannung, weil wenn ich ... Wenn ich nicht Musik hören wĂŒrde, hĂ€tte ich ja wahrscheinlich ein Gedankenkarussell. Ăbertöne ich das damit nicht nur. Weil das ist halt so ein, ich mache Musik an und meistens zu, keine Ahnung, mindestens 80% der FĂ€lle, wenn ich noch mehr aus meinem Playlist singe, singe ich halt mit.
MUSIK
Sprecherin
Die meisten Deutschen machen am liebsten Sport gegen den Stress. Einige essen Chips und Schokolade , andere schwören auf Yoga, Tai-Chi und Qigong, Autogenes Training oder AchtsamkeitsĂŒbungen. Ich fĂŒr meinen Teil versinke gerne in Welten von Fantasy-Romanen. Aber was meinen Freundinnen und mir auffĂ€llt: Irgendwie sind unsere persönlichen Entspannungsmethoden nicht nachhaltig.
MUSIK ENDE
MUSIK
Kaum ist die Musik aus oder das Buch weggelegt, holen uns dann doch wieder die Sorgen des Alltags ein und werden in der Nacht mit dem Kiefer zermalmt. Und enden immer gleich: in MĂŒdigkeit und Erschöpfung. Und das, obwohl ich teilweise bis zu 9 Stunden schlafe. Was wir also brauchen, ist vielleicht gar keine Entspannung, sondern Erholung. Dieses GefĂŒhl, dass die Batterien wieder aufgeladen sind und Energie fĂŒr den Tag da ist. Aber, wie erholt man sich richtig? Reicht es nicht, sich einfach auf die Couch zu legen und die Lieblingsserie zu gucken? Nein, sagt Dr. Dalton-Smith.
MUSIK ENDE
Ton 6
Overvoice
Too often we think rest is just laying around, watching TV, doing nothing on the weekendâŠ
Wir setzen Erholung oft damit gleich, am Wochenende herumzuliegen, lesen, fernzusehen und nichts zu tun, und dann wundern wir uns, warum wir am Montag immer noch mĂŒde sind. Der Grund fĂŒr die MĂŒdigkeit ist, dass wir nichts fĂŒr den Bereich getan haben, in dem wir ein Erholungsdefizit haben. Wir tun zwar nichts, wĂ€hrend wir auf dem Sofa liegen, aber vom Nichtstun lĂ€dt sich unsere Batterie nicht wieder auf.
âŠAnd that's the real purpose of restâŠ
Sprecherin
MĂŒdigkeit - trotz ausreichend viel Schlaf - ist laut Dr. Dalton-Smith ĂŒbrigens DAS Zeichen fĂŒr ein Erholungsdefizit. Sie sagt auch, dass es bei Erholung darum geht, dass sich die Bereiche von Körper und Psyche erholen mĂŒssen, die im Alltag besonders gebraucht werden. Wir mĂŒssen dann gezielt in den Bereichen ansetzen, wo wir ein Erholungsdefizit haben. Und um herauszufinden, was mich eigentlich so erschöpft und nachts zum Knirschen bringt, fĂŒlle ich in meinem BĂŒro einen Fragebogen von Dr. Dalton-Smith aus â mit rund 70 Aussagen, die ich mithilfe von 5 Antwortmöglichkeiten beantworten kann. Also zum Beispiel: Ich vermeide soziale Situationen; Trifft nicht auf mich zu, Trifft selten auf mich zu, Trifft gelegentlich auf mich zu, Trifft oft auf mich zu, Trifft fast immer auf mich zu. Und: Das alles auf englischâŠ
Ton 07 â reportagiger Ton (ca. 1 Minute)
(ATMO Computermausklicken) Und dann am Ende kann ich hier meinen Namen und meine E-Mail-Adresse eingeben und dann kriege ich die Ergebnisse. Senden! Das kam jetzt relativ schnell an. Mal schauen. (âŠ)
Sprecherin
Was beim Test rausgekommen ist, das erzĂ€hle ich Euch gleich. Zuerst mĂŒssen wir klĂ€ren: Was fĂŒr sogenannte Erholungsdefizite gibt es laut Dr. Dalton-Smith denn?
Ton 08
Overvoice
The seven types of rest include physical, mental, âŠ
Es gibt sieben Arten der Erholung: die körperliche, mentale, spirituelle, emotionale, soziale, sensorische und kreative. Die habe ich ĂŒber einen Zeitraum von etwa sechs Jahren entwickelt, in denen ich mit Patienten gearbeitet, Forschungsergebnisse ausgewertet und meinen eigenen Burnout untersucht habe. Ich habe also mein eigenes Leben betrachtet und war Teil meiner eigenen Fallstudie.
⊠So looking at my own life and being my own case study in partâŠ
Sprecherin
Heute weiĂ Dr. Dalton-Smith, warum sie stĂ€ndig so mĂŒde war und warum sie einen Burnout hatte. Sie hatte ein Defizit bei der kreativen Erholung. Und deswegen hat sie sich eine Routine zurechtgelegt:
Ton 9
Overvoice
You can then begin to start evaluating in the morning when you wake up, how do I feel? âŠ
Jeden Tag beim Aufstehen frage ich mich erst einmal: wie fĂŒhle ich mich? Wie ist mein Energielevel? FĂŒhle ich mich auf den Tag vorbereitet? Und wenn nicht, welche Art von Energie habe ich gestern verbraucht, dass ich heute ein Erholungsdefizit habe? Mein persönlich gröĂtes Defizit habe ich bei der kreativen Erholung. Das hat jeder Mensch, der in irgendeiner Weise Problemlöser ist: alle, die innovativ sein mĂŒssen, auch Ărzte wie ich, die diagnostizieren. Auch das ist ein kreativer Prozess. Sie hören sich die Beschwerden und Symptome der Patienten an und erstellen daraus eine Diagnose. Jemand, der im Marketing tĂ€tig ist, setzt kreative Energie ein, wenn er sich Grafiken ausdenkt. Meistens bekommt man kreative Erholung dadurch, dass man sich an dem erfreut und das wertschĂ€tzt, was bereits âgeschaffenâ wurde: wie ein Kunstwerk oder Musik.
⊠So I love artwork, I love music. specific nature scenes, usually more water-based nature scenes but all of those improve my creative rest deficitâŠ
MUSIKAKZENT
Die meisten Menschen aber haben ein sogenanntes mentales Erholungsdefizit â sagt Dr. Dalton-Smith. Also den Kopf zu voll mit zu vielen Informationen und to dos.
Ton 10
Overvoice
The most common one I see typically is mental rest deficits âŠ
Das haben Menschen, die viel vor dem Computer sitzen und viele Informationen pro Tag aufnehmen. Die leiden dann z.B. an Vergesslichkeit oder haben Schwierigkeiten, nachts einzuschlafen, weil ihr Gehirn nicht zur Ruhe kommt. Sie denken, anstatt zu schlafen. Leuten mit einem mentalen Erholungsdefizit empfehle ich regelmĂ€Ăiges Laufen oder Radfahren â oder irgendetwas, das dem Gehirn erlaubt, in einen ruhigen Zustand zu kommen. Bei vielen Menschen funktioniert auch Meditation oder AchtsamkeitsĂŒbungen. Es gibt da viele verschiedene Möglichkeiten, mit denen die Leute experimentieren können.
⊠So multiple different ways of doing that that people can experiment withâŠ
Sprecherin
Fast so hĂ€ufig wie das mentale ist auch das körperliche Erholungsdefizit. Das Ă€uĂert sich zum Beispiel in Gelenkschmerzen, RĂŒcken- und Nackenbeschwerden, sagt Dr. Dalton-Smith.
Gerade Leute, die im Alltag viel sitzen, sollten deshalb auf ausreichend Bewegung achten. Zum körperlichen Erholungsdefizit gehört aber auch körperliche Entspannung im klassischen Sinn, also gute ErnĂ€hrung und genĂŒgend Schlaf. Also Ruhe. Die ist auch fĂŒr den nĂ€chsten Punkt wichtigâŠ