
Die Beneš-Dekrete - Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen
Radiowissen
Politische Spannungen und die Rolle der deutschen Minderheit vor 1939
Dieses Kapitel untersucht die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg. Es beleuchtet die Rolle von Edward Benesch und die Faktoren, die zur Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich führten.
Mit den Beneš-Dekreten beschloss die tschechoslowakische Exilregierung die Aussiedlung der Sudetendeutschen. In ihrer neuen Heimat wurden die Vertriebenen nicht mit offenen Armen empfangen, trugen aber ganz wesentlich zum westdeutschen Wirtschaftswunder bei. Von Julia Devlin
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Clemens Nicol
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Jiří Pešek, Karls-Universität Prag
Dr. René Küpper, Institut für Zeitgeschichte München
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Naši Němci – Unsere Deutschen. Dauerausstellung im Museum der Stadt Usti nad Labem/Aussig HIER geht es zur Website
Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission HIER geht es zur Website
Literatur:
Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011. Gut strukturierte Überblicksdarstellung.
Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum "Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München 2005. Ausführliches, wissenschaftliches Werk mit zahlreichen Originalquellen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
Berlin, 26. September 1938. Adolf Hitler hält eine umjubelte Rede im Berliner Sportpalast. Es geht um die Deutschen in der Tschechoslowakei. "Frieden oder Krieg" bellt er ins Mikrophon. Er prangert die Benachteiligung der deutschen Minderheit im Nachbarstaat an und bezichtigt den Staatspräsidenten Edvard Beneš dabei zu versagen, Gerechtigkeit zu schaffen. Und er droht offen mit Krieg.
Atmo Ende
Die Tschechoslowakei entstand 1918 als neuer Staat aus der Erbmasse der Habsburger-Monarchie. Hier lebten nicht nur Tschechen und Slowaken, sondern auch Ungarn, Rumänen, Kroaten und Polen. Und als größte Minderheit die etwa drei Millionen Sudetendeutschen, die vor allem in den Gebieten lebten, die an das Deutsche Reich und an Österreich grenzten. Gerade für sie war die neue Staatsgründung ein erheblicher Einschnitt.
Küpper O-Ton 1
13:56 Also die Deutschen in den böhmischen Ländern soweit sie politisiert waren, sind von einer, vereinfacht gesagt, herrschenden Minderheit zu einer Minderheit geworden, die eben ein Stück weit benachteiligt wurde dann.
Sprecherin
Dr. René Küpper ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München und forscht zu der Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Mit dem Statusverlust, so erklärt Küpper, konnten sich viele Deutsche in dem neugegründeten Nationalstaat der Tschechoslowakei nur schwer abfinden.
O-Ton Küpper 2
15:00 Es war eine Demokratie, das heißt, die Deutschen haben immer zum Beispiel so viele Abgeordnete gehabt im Parlament, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Es brachte nur nichts, wenn sie nicht an der Regierung beteiligt waren beziehungsweise dort immer in der in der Minderheit waren. Es ist also schwierig, sie sind benachteiligt worden, etwa in der Vergabe von Posten im Staatsdienst und sowas, was aber wieder daraus verständlich ist, dass da verlangt wurde, dass sie tschechisch konnten, was kaum jemand gelernt hatte in der Zeit vor 1918.
Sprecherin
Dazu kam die schwierige wirtschaftliche Lage.
O-Ton Küpper 3
15:37 Da hat die Weltwirtschaftskrise auch eine große Rolle gespielt, die eben diese vorhandenen politischen Konfliktstoffe potenziert hat und der Aufstieg Hitlers natürlich. Dann schauten die eben auch über die Grenze, was da passiert. Die Arbeitslosigkeit im Reich ging schon runter, während sie in der Tschechoslowakei erst ihren Höhepunkt erreichte, und so weiter das ist ein ziemlich kompliziertes Gemenge von Faktoren...
Musik: Forebording of war (reduziert) 0‘40
Sprecherin
Hitler instrumentalisierte diese Unzufriedenheit zu seinem Nutzen, schlachtete die Spannungen zwischen der deutschen Minderheit und der tschechoslowakischen Regierung aus. Nur wenige Tage nach der Rede im Sportpalast wurde mit dem "Münchener Abkommen" in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 die Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich besiegelt. Hitler hatte sich dazu den Segen Großbritanniens, Italiens und Frankreichs geholt. Die hofften, auf diese Weise einen Krieg zu verhindern. Doch Hitler ließ sich nicht durch die Zugeständnisse beschwichtigen, denn sein eigentliches Ziel war die endgültige Zerschlagung der Tschechoslowakei. Am 15. März 1939 besetzte die Wehrmacht das Nachbarland. Der bereits amputierte Staat konnte keinen Widerstand mehr leisten. Präsident Edvard Beneš und seine Regierung flohen nach London.
Musik: Suite aus der Oper „Das schlaue Füchslein“ 0‘20
Wer war Edvard Beneš, dessen Namen vor allem in Verbindung mit den nach ihm genannten Dekreten genannt wird? Für die Entstehung der modernen, demokratischen Tschechoslowakei ist er ganz zentral, wie Dr. René Küpper erläutert:
O-Ton Küpper 4a (Regie: O-Ton geteilt)
24.53 also Benesch ist einer der Gründerväter. Mit Tomáš Garrigue Masaryk und dem Slowaken Štefánik zusammen. Er war dann bis 1935 Außenminister, als er Nachfolger Masaryks wurde, der aus Altersgründen als Präsident zurücktreten musste. Er war das Gesicht der Tschechoslowakei in Genf im Völkerbund, er war ein Friedenspolitiker, er war ein Demokrat. Das können Sie auch bei zeitgenössischen Leuten, die ihn kennen, lesen. Klaus Mann beispielsweise oder Thomas Mann, Heinrich Mann, die ja tschechoslowakische Staatsbürger wurden unter Beneš, als sie Deutschland verlassen mussten.
Sprecherin
Nach seiner Flucht nach London bekam er noch einmal ein ganz besonderes Gewicht:
O-Ton Küpper 4b
25.40 Er war dann der Führer des tschechoslowakischen Widerstandes, des demokratischen, des nicht-kommunistischen. Und hat es eben auch durchgesetzt, dass die Tschechoslowakei nach und nach von den Alliierten anerkannt wurde als vollberechtigter Staat, als vollberechtigte Exilregierung.
Musik: Complex questions 0‘38
Sprecherin
Die Exilregierung stellte in London Überlegungen zur Zwangsumsiedlung der Deutschen an, und sie sprach sich dazu mit den alliierten Mächten ab. Die hatten schon bald nach Kriegsbeginn überlegt, wie Europa nach dem Krieg dauerhaft zu stabilisieren wäre. Besonders die Briten befürworteten dabei die Trennung der Ethnien, allen voran der britische Premierminister Winston Churchill, der schon 1940 für eine vollständige Umsiedlung warb, um künftige Spannungen zu vermeiden, und auch sein Außenminister Anthony Eden.
O-Ton Pešek 1
13.17 das war die Enttäuschung durch die Lösungen des Völkerbundes aus der Zwischenkriegszeit, also die Enttäuschung, nur den Schutz der Minderheiten, ja, die meinten, das funktioniert nicht, man muss etwas anderes machen und die einfachste Lösung, welche die britischen Experten unter dem Historiker Toynbee erfunden haben und Anthony Eden dann übernommen und dem Kabinett vorgelegt hat zur Bestätigung, war: Die Minderheiten müssen verschwinden.
Sprecherin
Jiří Pešek (Aussprache: ˈjɪr̝i 'peʃek / Jissi Peschek) ist Professor für Geschichte an der Karls-Universität in Prag und war lange Vorsitzender der deutsch-tschechischen Historikerkommission. Er erläutert, dass die Aussiedlung der deutschen Minderheiten in Osteuropa einen Vorläufer hatte, nämlich den sogenannten Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei im Jahre 1923.
O-Ton Pešek 2
14:00 Das war gerade diese Vorstellung des Schutzes der Minderheiten, der Bevölkerungsaustausch, als der große Erfolg. Dazu gibt es eine Reihe von Reden von Winston Churchill, "Es ist so gut gelungen, damals `23 in Griechenland und der Türkei." Nur, man hatte vergessen, dass das ein Drittel der Transferierten mit dem Leben bezahlt hat. Also das wollte man nicht sehen. 14:29 Und daneben, man wollte eine einfache, schnelle Lösung haben.
Sprecherin
Auch der Präsident der Vereinigten Staaten hieß ein solches Vorgehen gut.
O-Ton Pešek 3
15:10 Und Franklin Roosevelt, der war der Meinung, ja, das ist eine wunderbare Lösung und die Berichte darüber, wie die beiden begeistert waren durch diese Lösung, die sind mehrere und überprüft.
Sprecherin
Der zwangsweise Bevölkerungstransfer wurde als ein ideales Konfliktlösungsmodell gesehen. Und hatte nicht das Deutsche Reich selbst solche Transfers praktiziert? Dr. René Küpper:
O-Ton Küpper 5
33:52 Was auch alle gesehen haben, das "Heim ins Reich", in Anführungszeichen der Volksdeutschen nach dem Hitler-Stalin-Pakt, aus dem Machtbereich der Sowjetunion, und die haben sich alle gesagt, hm, wenn Hitler da zehntausende oder hunderttausende seiner eigenen Landsleute einfach so verpflanzen kann, dann werden wir das auch machen, ne, also das war ja auch genau die Begründung, halt die Entflechtung. Das hat sogar Hitler auch selber gesagt und dann natürlich eben auch die Vertreibungen, die die Nazis selber vorgenommen haben.
O-Ton Pešek 4
18:47 Das war auch ein Bestandteil von dieser Problematik, dass die großen Staatsmänner, und es gehört dann natürlich auch Josef Stalin in zu diesem zu, zu dieser Gruppe, für den die Umschiebung von ganzen Völkern eine Kleinigkeit war und die Auslöschung von ganzen Völkern noch unwichtiger.
Musik: Media rumors 0‘20
Sprecherin
Und so stellten die Alliierten bereits 1941 die Weichen für eine Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach Deutschland. Professor Jiří Pešek zur Haltung von Benes´ Exilregierung dabei:
O-Ton Pešek 5
15:31 Das heißt nicht, dass die Exilregierung dagegen wären. Die hatten das gerne akzeptiert, weil es eine Menge der Impulse kam der Widerstandsgruppen, dass sie nach dem Kriege kein Zusammenleben mit den Deutschen sich wünschen. Und man musste natürlich diese Stimmen ernst nehmen, weil man damit rechnete, nach dem Kriegsende wird man gerade mit den Repräsentanten von diesen Widerstandsbewegungen zusammenarbeiten, und die darf man nicht enttäuschen.
Sprecherin
Edvard Beneš hatte zunächst eine differenzierte Aussiedlung anvisiert, bei der nicht-schuldig gewordene Deutsche in der Tschechoslowakei verbleiben könnten. Doch der Terror, den die deutschen Besatzer im Land verübten, brachte ihn zum Umdenken. Ein Zusammenleben schien ihm schließlich nicht mehr möglich. Und so arbeitete er gemeinsam mit der tschechoslowakischen Exilregierung die Verordnungen aus, die man heute als "Beneš-Dekrete" kennt - präsidiale Dekrete, die nach dem Krieg durch das neu gewählte tschechoslowakische Parlament bestätigt wurden.
Musik: Sad story alt 0‘37
In diesen Dekreten wurde die Ausbürgerung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerungsgruppe beschlossen. Und ihre Enteignung - jeglicher Besitz von Deutschen sollte konfisziert werden und in das Eigentum des Staates übergehen. Ein weiteres Dekret verfügte die Auflösung der deutschen Hochschulen in Prag und in Brünn. Auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 stimmten die Siegermächte - die UdSSR, die USA und Großbritannien - diesem Vorgehen zu.
Zitator Potsdamer Abkommen
Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.
Sprecherin
So lautet der Artikel 13 des Potsdamer Abkommens.
O-Ton Pešek 6
50:14 Diese Ereignisse waren hatten ein Massencharakter, das musste man dann auch in Potsdam dann regulieren. Darum auch diese Artikel 13 von Potsdam mit dem Hinweis zu der Menschlichkeit der Zwangsaussiedlungen.
Sprecherin
In der tschechoslowakischen Öffentlichkeit wurde der Beschluss jubelnd begrüßt. Prof. Jiří Pešek:
O-Ton Pešek 7
20:22
Nach dem aus am 2. August 45 diese Potsdamer Beschlüsse publiziert wurden, dann kam eine Welle der Pressebegeisterung. Auch in Tschechien oder in der Tschechoslowakei, wo die Parteien im Wettbewerb waren. Was haben wir in Potsdam erreicht? Also wir waren, also wir Tschechen, waren nicht anwesend, aber wir haben alles Mögliche erreicht.
Das waren einfach Wahlkampagnen, Sie sehen das momentan in Deutschland, was man alles bereit ist zu sagen im Wahlkampf also.
Das das ist unglaublich.
00:21:17
Die kommunistische Presse, gleich wie die sozialistische, alle waren der Meinung, wir haben das gewonnen, weil dieser Hass auf die Deutschen, 21:37 Die Angst vor den Deutschen war gigantisch.
O-Ton Pešek 8
21:51 Dann die Angst, es könnte sich das Ganze noch einmal wiederholen, oder es wird kein Ende gemacht, und das könnte wieder sich dazu in ein paar Jahren wieder entwickeln. Das war unglaublich.
Musik: Dark tide cello 0‘42
Sprecherin
Der Hass der Tschechoslowaken auf die Deutschen entlud sich schon gegen Kriegsende in Racheakten und Lynchjustiz. Eines der brutalsten Ereignisse war der Brünner Todesmarsch Ende Mai 1945, bei dem die deutschsprachigen Einwohner, schätzungsweise 24.000 Menschen, über die Grenze nach Niederösterreich getrieben wurden. Über zweitausend Menschen kamen dabei um. Auch das Massaker von Aussig im Juli 1945 hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Es kam zu sogenannten „wilden Vertreibungen“. Nach der Potsdamer Konferenz, die im August zu Ende ging, beruhigte sich die Lage. Im Januar 1946 begann dann die geplante, systematische Aussiedlung. Professor Jiří Pešek erläutert, dass die Deutsch-Tschechische Historikerkommission mit verschiedenen Begriffen für diese Vorgänge arbeitet:
O-Ton Pešek 9
11.50 ...man spricht über die Vertreibung besonders bis zu dem Potsdamer Abkommen oder dann die Zwangsaussiedlung nach dem Potsdamer Abkommen.
Sprecherin
Wie viele Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit umkamen, ist heute nicht mehr genau festzustellen. Die deutsch-tschechische Historikerkommission geht von 15.000 bis 30.000 Todesfällen aus, die im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung nachgewiesen werden können.
O-Ton Pešek 10
53:42 Also diese Übergänge von Krieg zum Frieden ein riesiger Krieg endet mit den blutigen Nachspielen, und das ist etwas, was man nie zur Kenntnis nehmen möchte, dass irgendwelche Unterschriften, die können das auf der niedrigen Ebene nicht ändern.
O-Ton Pešek 11
55:10 Das sind schreckliche Sachen. Und die Leute, die Katastrophen verursachen und organisieren, die sind gleichgültig zu diesen Konsequenzen.
Musik: Passing landscapes 0‘35
Sprecherin
Seit Jahresbeginn 1946 wurden die Sudetendeutschen planmäßig überführt, mit bürokratischer Effizienz. Die vollen Güterzüge verließen die Bahnhöfe in der Tschechoslowakei und entluden ihre menschliche Fracht jenseits der Grenze. Im Sommer 1946 waren es bis zu 12.000 Menschen täglich. Knapp drei Millionen Deutsche wurden so innerhalb einiger Monate aus der Tschechoslowakei vertrieben.
O-Ton Pešek 12
1:09:46 Die Mehrheit oder mindestens die relative Mehrheit haben die Amerikaner nach Westdeutschland, also in die westeuropäischen Okkupationszonen gebracht, mit Schwerpunkten in Bayern und in Hessen. Das waren die Hauptländer, welche die größten Kontingente nehmen mussten.
Sprecherin
Die Sudetendeutschen wurden zunächst in Flüchtlingslagern untergebracht und dann vor allem auf ländliche Gebiete verteilt. Dies hatte den pragmatischen Grund, dass auf dem Land weniger Wohnraum zerstört worden war als in den Städten und die Lebensmittelversorgung sich einfacher gestaltete. Es hatte aber auch den Grund, dass Gruppenbildungen vermieden wurden und man sich dadurch eine schnellere Assimilierung erhoffte.
Musik: Precision on demand (red.) 0‘30
Sprecherin
Die Vertriebenen wurden in ihrer neuen Heimat nicht mit offenen Armen empfangen. Neben den Verteilungskämpfen um Wohnraum, Nahrung und Arbeitsplätze gab es auch Differenzen in der Religion, in Dialekten, in Temperamenten. Katholiken trafen auf Evangelische, geflüchtete Bauern, die ihren Hof verloren hatten, auf alteingesessene Landwirte, bei denen sie sich als Hilfskräfte verdingen mussten.
O-Ton Pešek 13
1:27:32
Ja, diese Mentalitätsprobleme. Hans Lemberg hatte über die Mehl- und Kartoffelnstreite in Hessen gar eine Dissertation schreiben lassen. Die Frau hatte dann die alten Kochbücher der Omas gesammelt, oder analysiert. Die Hessen, das war eine Kartoffelgesellschaft und die waren total geärgert, dass diese angeblich armen Sudetendeutschen Mehl benutzen. Mehl benutzt man doch nur am Sonntag und wenn die die Mehlgerichte fressen, sind sie keine Armen, sondern das ist ein Betrug.
Musik: Stock analysts 0‘23
Sprecherin
Das Schicksal von Zwangsmigranten ist häufig der soziale Abstieg. Viele Sudetendeutsche setzten alles daran, den Wiederaufstieg zu schaffen. Wenn nicht für sich selbst, dann für die nächste Generation. So fassten sie rasch Fuß, wobei ihnen der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik zugutekam.
O-Ton Pešek 14
01:22:32 Da sind die Lehrer, das sind die Hochschullehrer, das sind die Staatsdienste, da sind die Offiziere im Bundeswehr, also dort, wo die Leute einfach nur die Tüchtigkeit, Intelligenz und Energie sich bis zu dem bis zu der höchsten Positionen durchkämpfen konnten, weil natürlich man kein Startkapital hatte.
Sprecherin
In der Verwaltung und in der Politik waren die Vertriebenen rasch vertreten, und über die Arbeit integrierten sie sich ebenso wie über Trachten- und Sportvereine. Schon 1956 sprach Ministerpräsident Wilhelm Hoegner von den Sudetendeutschen als dem "Vierten Stamm" Bayerns.
Musik: Secret prooofs (red) 0‘52
Sprecherin
Die Vertreibungen waren in der Tschechoslowakei lange kein Thema. Auch nicht in Österreich, wohin ein kleiner Teil der Sudetendeutschen vertrieben wurde, ebenso wenig in der DDR, wo man nicht von "Vertriebenen", sondern von "Neusiedlern" sprach. In der BRD bildete sich als Interessensverband der Vertriebenen die Sudetendeutsche Landsmannschaft. Sie positionierte sich klar gegen die Ostpolitik von Willy Brandt. Der suchte, nach Polen und der Sowjetunion, auch mit der Tschechoslowakei eine Annäherung und reiste im Dezember 1973 nach Prag, wo er im Prager Vertrag das Münchner Abkommen annullierte und die Unverletzlichkeit der gemeinsamen Grenze versicherte. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Aufnahme der Tschechoslowakei in die Europäische Union wurde die Thematik wieder aktuell.
O-Ton Küpper 6
1:18 Also die sogenannten Beneš-Dekrete spielen eigentlich erst nach der Wiedervereinigung wieder eine Rolle. Bis dahin, zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei, ging es eher um die Frage des Münchner Abkommens, also im Prager Vertrag 1973. Auch dort hat man schon die verschiedenen Rechtsauffassungen und Vermögensfragen ausgeklammert, um den Vertrag überhaupt schließen zu können. So ähnlich ist das dann mit dem Nachbarschaftsvertrag von 1992 und mit der gemeinsamen deutsch-tschechischen Erklärung von 1997. Wo beide Seiten ausdrücklich bedauern, was geschehen ist, aber unterstreichen, sich der Zukunft zuwenden zu wollen. Und eben diese nicht durch unterschiedliche Rechtsauffassungen und durch finanzielle Fragen belasten zu wollen.
Sprecherin
Denn es hat nie einen Friedensvertrag gegeben zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik, und daher auch keine Entschädigung für die Besatzungsschäden und die Enteignungen.
O-Ton Küpper 7
2.39 Der Kern bei der Kontroverse um die Beneš-Dekrete sind nicht zuletzt immer noch diese finanziellen Fragen, also das heißt, dass die Deutschen entschädigungslos vertrieben wurden. Dass die Nachfahren der damals Vertriebenen im Grunde immer noch entschädigt werden wollen, während die Bundesrepublik Deutschland eigentlich diese Position nicht vertreten kann, an eine der Siegermächte eben finanzielle Forderungen zu stellen.
Sprecherin
Ein Glücksfall für die nachbarschaftlichen Beziehungen war Václav Havel, Staatspräsident der Tschechoslowakei seit 1989 bzw. der Tschechischen Republik seit 1993. Havel setzte sich maßgeblich für die deutsch-tschechische Aussöhnung ein, was ihm im eigenen Land nicht nur Sympathien einbrachte.
O-Ton Küpper 8
18.44 Man muss sagen, Havels versöhnliche Worte im Bundestag, 1997 etwa, sind in Deutschland besser angekommen als in seinem eigenen Land. Also zeitweise ist "Haveloid" von einer bestimmten Seite aus sogar ein Schimpfwort jetzt, also so was wie hier ein Gutmensch beispielsweise, ein naiver Dummkopf, ein bisschen, der eben nur Frieden und Versöhnung will und der Realität nicht ins Auge blickt. Also er war schon wichtig, aber er ist dort eben ziemlich kritisiert worden, und wenn sie seine Nachfolger ansehen, die haben ja ganz andere Sachen gesagt, also die Tendenz von Havel mag sich auf Dauer hoffentlich dann durchsetzen.
Musik: Pensive pondering 1‘20
Sprecherin
Es gibt in Tschechien Initiativen, die an die deutsche Minderheit und an die gemeinsame Geschichte erinnern. So zum Beispiel im Stadtmuseum in Usti nad Labem – auf deutsch Aussig an der Elbe. Dort thematisiert die Ausstellung "Naši Nemci", „Unsere Deutschen“, das jahrhundertelange Zusammenleben. In deutsch-tschechischen Versöhnungsaktionen werden Friedhöfe wieder errichtet, die im Grenzgebiet lagen und einplaniert worden sind.
O-Ton Küpper 9
9.02 Man kann aber sagen, es gibt eine zunehmende Tendenz, dass so was wächst. Also ein Beispiel wäre noch der Brünner Versöhnungsmarsch, der auch etwa um die Zeit, also 2007 privat mit fünf, sechs Leuten begonnen hat und seit 2015 von der Stadt gefördert wird. Mittlerweile also unter dem Patronat der Stadt und viel mehr Teilnehmer hat und eben eine öffentliche Veranstaltung ist, dann die eben auch ein breiteres Echo findet. Das heißt, es gibt schon positive Entwicklungen in den Jahren. Oder wenn man sieht, was für Filme in den Kinos waren, wie die diskutiert wurden, was für Bücher erschienen sind, da könnte man so einige Ecksteine nennen, die alle ja so in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts liegen. Es ist aber noch kein abgeschlossener Prozess.