
Der Wolpertinger - Dichtung und Wahrheit
Radiowissen
Der Wolpertinger und seine Mystik
In diesem Kapitel werden die mythischen Aspekte des Wolpertingers und seine Rolle in der bayerischen Folklore beleuchtet. Der Wolpertinger wird als kulturelles Fabelwesen vorgestellt, das aus verschiedenen Tieren besteht und spannende Geschichten über seine Herkunft erzählt. Das Kapitel zeigt zudem die humorvolle Seite des bayerischen Volkes und beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Verwirrung, die solche Kreaturen bei Außenstehenden hervorrufen.
Das bayerische Fabelwesen schlechthin: Der Wolpertinger, eine mysteriöse Kreuzung verschiedener Tiere: von Hirsch und Hase oder gar Eichhörnchen und Ente? Eine pfiffige Geschäftsidee von Tierpräparatoren? Von Frank Halbach
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Carolilne Ebner, Sven Hussock, Friedrich Schloffer
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Anne Blaich, Biologin, Autorin und Illustratorin, 2022 Sonderausstellung „Wesen der Alpen“ im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum in München
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DAS KALENDERBLATT
Literatur:
Alfons Schweiggert: Der Wolpertinger oder der gehörnte Hase. Eine ernsthafte Untersuchung eines bayerischen Phänomens – humorvoll pseudo-wissenschaftliche Untersuchung der verschiedenen Aspekte des mysteriösen Wolpertingers
Florian Schäfer / (Autor), Janin Pisarek / Hannah Gritsch: Fabeltiere: Tierische Fabelwesen der deutschsprachigen Mythen, Märchen und Sagen – stellt eine große Auswahl bekannter und weniger bekannter Fabelwesen vor. Darunter auch der Wolpertinger und seine engsten Verwandten.
Heinz-Ulrich Reyer: Rendezvous der Fabelwesen: Drache, Einhorn & Co. zwischen Mythos und Wirklichkeit - wissenschaftlich fundierte und reich bebilderte Spurensuche zwischen Mythos und Realität.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Sie ist sehr eigen, die bayerische Fauna, voller merkwürdiger und skurriler Lebewesen: In Niederbayern lebt der „Oibadrischl“. In der Oberpfalz die „Rammeschucksn“, in Niederösterreich der „Raurackl“. Die Brüder Grimm erzählen in ihrer Deutschen Sagensammlung von einem Wesen, das „Kreißl“ genannt wird. Und der Schriftsteller Ludwig Ganghofer kennt das Wesen als „Hirschbockbirkfuchsauergams“.
SPRECHERIN (verständnisvoll)
Der sehr eigene, für „Zuagroaste“ schwer verständliche Dialekt, die Lebensart, die ganze Kultur…
SPRECHER (unterbricht)
Die ganze bayerische Natur! Bayern erscheint, von außen betrachtet, sehr, sehr eigen. Und die wohl eigentümlichste und zugleich typischste Spezies der bayerischen Fauna ist zweifelsohne dieser gehörnte Hase mit Entenflügeln…
SPRECHERIN (begeistert)
Der Wolpertinger – das bayerischste aller Fabelwesen.
SPRECHER (skeptisch)
Man begegnet ihm in verschiedensten Mutationen: Es treten Exemplare mit Hasenkörper und Rehgeweih, aber auch beispielsweise Eichhörnchen mit Entenflügeln auf.
SPRECHERIN (engagiert)
Wobei „Mutation“ der falsche Fachbegriff ist. Denn es handelt sich bei Wolpertingern um Kreuzungen von im jeweiligen Verbreitungsgebiet auftretenden Tierarten. Der erste seine Art entspross der unfasslichen Liebe eines Rehs zu einem Hasen.
SPRECHER
Wenn es nicht erfunden wäre, würde es die außerordentliche sexuelle Flexibilität der bayerischen Biosphäre belegen. Denn diese Hybriden, sind offenbar auch noch in der der Lage, sich untereinander erneut zu kreuzen. So aufgeschlossen die Wolpertinger sich jedoch untereinander paaren, so scheu verhalten sie sich gegenüber Eindringlingen in ihre Habitate.
ZITATOR
Bayernland ist Wolpertingerland und wird es bleiben.
SPRECHERIN
Meinte einst der bayerische Kultusminister Hans Mayer. Und weiter:
ZITATOR
Ein Wolpertinger in den Niederungen Westfalens ist so unvorstellbar, wie ein Astronaut, der seinen Fuß tastend auf den Nockherberg setzt.
SPRECHERIN
So wenig wie Nessie außerhalb des schottischen Loch Ness oder der Yeti in der Wüste. Der Wolpertinger ist eine Ikone des kulturellen Selbstverständnisses in Bayern.
MUSIK ENDE
01 Zsp. Wolpertinger Blaich (04:21)
Also ursprünglich aus dem bayrischen Wald. Und dann hat er sich ein bisschen über das Alpenland ausgebreitet. Den Wolpertinger so mit den Flügeln und den verschiedenen Tiermerkmalen, den gibt es wirklich nur bei uns. In anderen Ländern, in Amerika, da gibt es auch Hasen mit Hörnern. Die gibt es eigentlich oft, die gibt es auch in Indien, die sind weit verbreitet. Aber die haben alle keine Flügel, und das ist nicht der gescheite Wolpertinger.
SPRECHERIN
Sagt eine, die es wissen muss: Dr. Anne Blaich. Sie ist Biologin, Autorin und Illustratorin. Spätestens seit einer Sonderausstellung 2022 zu „Wesen der Alpen“ im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum München, verweist man dort auf sie als Wolpertinger-Expertin.
02 Zsp. Wolpertinger Blaich (02:36)
Und was auch sehr wichtig ist bei den Wolpertingern: sie haben sehr spitze Zähne. Wenn man sich mal genau den Wolpertinger anschaut, sieht man, dass oft der Körper des Wolpertingers von einem Pflanzenfresser ist, wie einem Hasen, die haben aber trotzdem ganz, ganz spitze Zähne. Und die Zähne sind wichtig für den Wolpertinger. Weil normalerweise frisst er Gräser und Kräuter gräbt sich vielleicht mal eine Wurzel aus. Aber wenn man ihm zu nahekommt, dann isst er ganz gern auch mal Touristen. Die werden dann so ein bisschen angeknabbert. Und dafür braucht er seine spitzen Zähne.
MUSIK „Sieben Leben“; ZEIT: 00:36
SPRECHERIN (jovial)
Laut Angaben des Münchner Jagd- und Fischereimuseums, wo verschiedene ausgestopfte Wolpertinger-Exemplare präsentiert werden, frisst der Wolpertinger:
ZITATOR
Nur preußische Weichschädel.
SPRECHER (spöttisch, doch unangenehm berührt)
Sehr beruhigend.
SPRECHERIN
Bayerische Sagen erzählen von Zauberkräften, die im Wolpertinger stecken:
ZITATOR
Aus seinem zermahlenen Gehörn lässt sich ein außerordentlich potenter Liebestrank brauen. Seine Spucke kann als hochwirksames Haarwuchsmittel genutzt werden.
SPRECHER (spöttisch)
Dafür müsste man ja erstmal einen Wolpertinger fangen.
MUSIK ENDE
03 Zsp. Wolpertinger Blaich (05:53)
Also das geht nur, wenn man ein schöner Jüngling ist, der seine Angebetete dabeihat. Die zwei müssen bei Vollmond sich in einen Wald setzen, bewaffnet mit einem Sack, einer Kerze und einem Spaten. Und dann legt man den Sack auf dem Boden, stellt den Stock rein, sodass eine Öffnung entsteht, und stellt die Kerze davor, davon wird der Wolpertinger angelockt, vorausgesetzt, die hübsche Angebetete sitzt nebendran. Wenn der Wolpertinger, dann in den Sack reingekrochen ist, dann muss man mit dem Spaten schnell den Stecken wegtreten.
SPRECHER (sehr skeptisch)
Dieser Wolpertinger ist eine erfundene Chimäre, ein Fabelwesen.
SPRECHERIN (begeistert)
So etwas wie ein bayerisches Einhorn!
SPRECHER (widerborstig)
Nur weit weniger edel und anmutig. Eine krude Mischung aus allem, was in den bajuwarischen Wäldern kreucht und fleucht.
SPRECHERIN
Rätselhafte Tierarten sind bis heute Anlass für professionelle Forscher ebenso wie für Laien in den entlegensten Winkel unserer Welt vorzudringen. Der Volksglaube unserer Vorfahren erzählte von sonderbaren, heute teilweise vergessenen Tierwesen über Jahrhunderte hinweg.
SPRECHER (besserwisserisch)
Der Wolpertinger ist aber kein langewährender Gegenstand von Mythen, Sagen und Legenden, sondern eine ausgebuffte Erfindung der Moderne und höchstens 200 Jahre alt.
SPRECHERIN
Na, nicht nur im Münchner Jagd- und Fischereimuseum kann man echte ausgestopfte Wolpertinger besichtigen. In Mittenwald hat man dem Wolpertinger gar ein eigenes Museum gewidmet.
SPRECHER
Eine Geschäftsidee von Tier-Präparatoren! Zusammengebastelt aus allem, was gerade zur Verfügung stand, um besonders gruselige Exponate an Wirtshäuser und Touristen zu verkaufen.
04 Zsp. Wolpertinger Blaich (09:53)
Bei den Tierpräparationen ist es oft so: Das was übrigbleibt, beziehungsweise dass nichts übrigbleibt, aber dass, wenn die Tiere zum Präparator kommen, die nicht mehr ganz so frisch sind. Und je nachdem wie die gejagt wurden, verschiedene Teile das Präparats zu benutzen sind. Und man hat man halt angefangen. Was macht man jetzt mit dem, was übrigens aber noch hübsch ausschaut? Und dann hat man halt verschiedene kreative Skulpturen erstellt. (…) Was natürlich dann für die Touristen derzeit sehr attraktiv war, hat man sich so eine Geschichte ausgedacht. Es verkauft sich natürlich so ein Wolpertinger viel besser, wie wenn man sagt, naja, das ist halt übergeblieben und habe ich das halt zusammengesteckt. Und da hast du’s, nimm es mit.
SPRECHER (triumphierend)
Die Geschichten vom Wolpertinger: Marketing-Gags mit dem Zweck, den Wolpertinger zu einem einträglichen Geschäft zu machen. Dichtung!
SPRECHERIN (unbeirrt)
Einträglich und unterhaltsam! Und das sind zwei Eigenschaften, die der Wolpertinger mit allen Fabelwesen, seien sie uralt tradiert oder brandneu erfunden, gemeinsam hat.
MUSIK „The born king”; ZEIT: 00:36
ZITATOR
Und da der menschliche Geist stets darauf brennt, Neuigkeiten zu hören und aufzunehmen, müssen althergebrachte Dinge immer gegen neue ausgetauscht werden. Wir nehmen Dinge gern auf, die wir für unerhört halten, zum einen wegen der Abweichung vom Lauf der Natur, den wir bestaunen, dann wegen unsrer Unkenntnis der Ursache, die für uns unauffindbar bleibt, und schließlich wegen unserer gewöhnlichen Erfahrung, die von der anderer, wie wir wissen, abweicht.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Schreibt der Historiker, Rechtsgelehrte und Geograf Garvasius von Tilbury schon im 13. Jahrhundert. In seiner Weltgeschichte und Weltbeschreibung für Kaiser Otto IV. verarbeitet er Sagen, Wundergeschichten und Mythologie ebenso wie gelehrte enzyklopädische Geografie und Weltgeschichte.
SPRECHER (widersprechend)
Ja, im finsteren Mittelalter glaubten die Menschen an die Existenz absonderlichster Wesen. Greife – Mischwesen aus Löwe und Adler; Basilisken – eine Kreuzung aus Hahn und Drache oder Mantikore – zusammengesetzt aus Löwe und Skorpion. Die einfachen Leute kannten damals auch kaum Tiere außer ihren Haustieren. Lange vor der Aufklärung suchte man in der Natur nicht Wissen, sondern Ergötzung. Man denke nur an den frühchristlichen „Physiologus“, entstanden zwischen dem zweiten und vierten Jahrhundert, der Vorläufer aller Tierbücher. Eine krude Sammlung von Beschreibungen frei erfundener Tiere, inklusive Dämonen und gehörnter Teufelswesen.
SPRECHERIN (augenzwinkernd)
Na, ob da drin mal nicht schon der eine oder andere Wolpertinger zu finden ist? Aber entstehen genau durch solche „Erfindungen“ nicht Mythen, die dann immer weitererzählt werden? Zentauren, Harpyien, die Hydra oder die Sphinx?
SPRECHER (beharrlich)
Die bekannte Welt wurde im Laufe der Geschichte immer größer, die terra incognita schrumpfte. Die Regionen mit rätselhaften Lebewesen wurden entsprechend immer weiter weggedacht. Mit der Aufklärung verließen die Fabelwesen die reale Welt für immer.
MUSIK „Sieben Leben“; ZEIT: 00:39
SPRECHERIN (aufgeschlossen)
Und besiedelten den neuen Lebensraum der Phantastik: Einhörner, Werwölfe, Drachen und zahllose andere merkwürdige Geschöpfe tummeln sich in Fantasy-Epen wie „Der Herr der Ringe“ oder „Harry Potter“ mit seinem Ableger „„Phantastische Tierwesen“. Die Erfolgsautoren de Gegenwart greifen immer wieder auf mythologische Stoffe zurück. Vielleicht ist der Wolpertinger auch ein frühes bayerisches Fantasy-Fabelwesen, das noch lange vor dem großen Fantasy-Hype das Licht der Welt unter weiß-blauem Himmel erblickte.
MUSIK ENDE
05 Zsp. Wolpertinger Blaich (13:52)
Es ist ein modernes Fabelwesen, und natürlich sind aus der Mythologie Sachen übernommen worden, und seitdem ist es auch ganz ähnlich: Es verbreitet sich es ist sehr beliebt, ist ein Kulturgut. Menschen identifizieren sich damit. Also, dass all dieses Dinge, erfüllt der Wolpertinger genauso wie jedes klassische Fabelwesen. Der große Unterschied ist nur, dass es halt ein relativ neues Fabelwesen ist.
MUSIK „Shaman Song (Algysh)“; ZEIT: 01:08
SPRECHERIN
Von Anfang an lebte der Mensch in engster Beziehung zu Tieren: Sie waren Bedrohungen, Jagdwild, später Nutztiere. Folgerichtig wurden Tiere weltweit Gegenstand von Mythen. Schon die frühesten Felsmalereien der Steinzeit illustrieren das eindrücklich.
SPRECHER
Und die Höhlenmalereien zeigen die Tiere meistens sehr kunstfertig und ganz realistisch.
SPRECHERN
Aber wir finden auch Mischwesen, zu denen wir keine Übereinstimmung in unsrer Wirklichkeit kennen. Tierköpfige Mischwesen wie den aus einem Mammutzahn geschnitzten Löwenmenschen, der ungefähr 40.000 Jahre alt ist. Die Götter der Ägypter: der falkenköpfige Horus oder Anubis mit dem Schakal-Haupt. Weltvorstellungen indigener Völker, Religionen, Reiseberichte, antike Weltkarten: da wimmelt es von Seeungeheuern, Drachen und Einhörnern.
SPRECHER
Fantasiegebilde und Hirngespinste.
SPRECHERIN
Oder haben einige nicht doch wenigstens reale Vorbilder? Und sind nicht alle diese Darstellungen von Fabelwesen kulturgeschichtliche Zeugnisse?
MUSIK ENDE
ZITATOR
Heute gelten die meisten Fabelwesen als kulturelle Projektionen des Menschen in seiner jeweiligen Zeit. Fabelwesen geben somit Einblick in die soziokulturellen Entwicklungen der Menschheit.
SPRECHER
Schreiben sinngemäß Florian Schäfer, Janin Pisarek, und Hannah Gritsch in ihrem Buch „Fabeltiere. Tierische Fabelwesen der deutschsprachigen Mythen, Märchen und Sagen“.
ZITATOR
Einige Fabelwesen haben einen ganz realen Ursprung. Seeleute deuteten Seekühe als Nixen oder Meerjungfrauen. In Dinosaurierknochen sah man die Überreste eines Drachen.
SPRECHER
Und in einigen seltenen Fällen entpuppte sich ein regionales „Fabelwesen“ sogar als echtes Tier - wie das das Okapi im Kongogebiet, das wie ein Mischwesen aus Zebra, Pferd und Giraffe aussieht. Oder die Brückenechse auf Neuseeland, ein sogenanntes lebendes Fossil.
MUSIK „Jackseye's tale“; ZEIT: 00:37
SPRECHERIN
Erwähnt werden muss hier unbedingt das Schnabeltier: Die australische Mischung aus Biber und Ente, ein Säugetier, das Eier legt. Als Ende des 18. Jahrhunderts die ersten europäischen Siedler ein Fell nach London schickten, lachte man dort herzhaft. Man hielt diesen „Scherz“ für das Werk eines kunstfertigen Präparators.
SPRECHER
Aber was taugen all diese Erkenntnisse dazu, den kulturhistorischen Wert des Wolpertingers im Laufe seiner Entwicklung aufzuzeigen?
SPRECHERIN
Die „kulturhistorische“ Besonderheit des Wolpertingers ist:
MUSIK ENDE
06 Zsp. Wolpertinger Blaich (06:58)
Also der Wolpertinger, der es im Grunde wie der Bayer schlechthin. Also er ist bisher zurückhaltend und scheu, aber immer zu Späßen aufgelegt, eher robust. Der ist im Grunde wie der typische Bayer.
SPRECHERIN
Meint Wolpertinger-Expertin Dr. Anne Blaich.
MUSIK „Sieben Leben“; ZEIT: 00:45
SPRECHER (bitter)
Der „Wilpertingfänger“ ist stets ein Fremder, ein „Zuagroaster“, der stundenlang Sack, Stecken, Spaten und Kerze einen Berg hoch oder kreuz und quer durch den Wald schleppt. Da lässt man ihn dann im Regen stehen, während die einheimischen Ortkundigen nicht etwa wie von ihnen vollmundig versichert, den Wolpertinger hertreiben, sondern sich alsbald im Wirtshaus vergnügen.
SPRECHERIN (fröhlich)
Und besonders nervigen Preiß’n erklärt man, dass sie zuvor einen Wolpertinger-Jagdschein machen müssen.
SPRECHER (etwas beleidigt)
Vorwand für allerhand demütigende Initiationsriten. Wo man das Schnabeltier für einen schlechten Scherz gehalten hat, da ist der Wolpertinger einer.
MUSIK ENDE
Und: Neben all den weltberühmten Fabeltieren wie Drachen und Einhörnern gehört der Wolpertinger eindeutig zu jenen mit einer wesentlich kürzeren Überlieferungsgeschichte.
SPRECHERIN
Obwohl allerdings der berühmte Wolpertinger-Forscher Alfons Schweiggert in seinem Buch „Der Wolpertinger oder der gehörnte Hase – eine ernsthafte Untersuchung eines bayerischen Phänomens“ die ersten Spuren des Wolpertingers vor 220 Millionen Jahren verortet.
SPRECHER (abtuend)
Auch das: typisch bayerische tückische Spottlust.
SPRECHERIN
Der Wolpertinger hat eben Humor.
07 Zsp. Wolpertinger Blaich (15:57)
So wie Bayern halt auch. Man nimmt sich selber nicht so ernst. Also er ist frech und hat so etwas ganz Eigenes, spezielles, was sonst keiner hat, damit man sich abgrenzen kann, aber es dann noch recht weltoffen, wie der Wolpertinger ebenso ist: verpaart sich mit anderen Tieren, es kommen immer wieder neue Einflüsse dazu.
SPRECHER
Im Foppen und Veralbern Ortsfremder scheint der primäre kulturhistorische Wert des Wolpertingers zu liegen. Insofern sind seine nächsten Verwandten viel weniger Greif oder Pegasus als viel mehr ähnlich junge Mischwesen mit ganz ähnlichem „Wert“. Denn Auswärtige hat man nicht nur in Bayern mit einem Sack auf aussichtslose Jagd geschickt.
MUSIK „Radio Universe“; ZEIT: 01:12
ZITATOR
In Thüringen kennt man den Rasselbock, Hasen mit dem Geweih eines Rehbocks.
SPRECHER
Im südwestfälischen Siegerland treibt sich der Dilldapp herum. Eine Art Nashornhamster mit unstillbarem Appetit auf Kartoffeln.
ZITATOR
In der Pfalz gibt es die Elwetritsch: hühnerähnlich mit langem Schnabel und Hirschgeweih.
08 Zsp. Wolpertinger Blaich (12:57)
Und auch in der Schweiz gibt es ähnliches wie Wolpertinger. Die haben auf der einen Körperseite längere Beine wie auf der anderen, weil die immer in eine Richtung um den Berg laufen. und die er Tal-Beine sind quasi länger wie die Berg-Beine.
ZITATOR
Der sogenannte „Dahu“. Zu unterscheiden in den Dahu dextrogyrus, mit kürzeren rechten Beinen, und Dahu levogyrus mit kürzeren linken Beinen, sowie den Dahu ascendus frontalis und Dahu descendus frontalis…
SPRECHERIN
Was alles einfach nur eine etwas unübersichtliche Namensvielfalt für das gleiche Phänomen zeigt. Es gibt Wolpertinger-Artige auch außerhalb Bayerns.
SPRECHER
Apropos Namensvielfalt: Wieso heißt der Wolpertinger eigentlich Wolpertinger?
MUSIK ENDE
09 Zsp. Wolpertinger Blaich (11:52)
Also es gibt verschiedene Theorien, wo der Namen herkommt. Eine Theorie, die ich, ehrlich gesagt auch bevorzuge, ist, dass es ursprünglich von Walper kommt und Walpurgisnacht. Von den Hexen im Bayrischen Wald. Es gibt aber auch andere Theorien, dass es auf einen Glasbläser in der Nähe von Donaueschingen zurückkommt, obwohl das weit weg ist vom Bayrischen Wald. Aber die Wahrheit ist, man weiß nicht so genau, wo der Name herkommt, wer sich den ursprünglich ausgedacht hat. Aber er hat sich definitiv etabliert.
SPRECHERIN
Mythenforscher haben auch manchen Versuch unternommen, all die Namen mythologisch zu deuten:
ZITATOR
Elwetrisch von Elb, Alb - ein böser Naturgeist. Und von trietzen – quälen, ärgern. Elwetrisch also ein quälender, böser Naturgeist.
SPRECHERIN
Im Wolpertinger stecke mit Walper nicht einfach nur der Name der Heiligen Walburga, sondern das althochdeutsche Wort "walz" für Wald und „Thing“ – für Ding, ein unspezifizierter Gegenstand.
ZITATOR
Und es haben sich auch Sonderformen entwickelt, entsprechend des primären Habitats: Walpertiger – Wald; Alpertinger – Alpen; Wipertinger – Wiesen.
SPRECHERIN
Und als alternative Bezeichnung für den Wolpertinger gebräuchlich ist: Kreis oder Kreißl.
SPRECHER (vorwurfsvoll)
Weil die Einheimischen ihre Opfer auf der Jagd nach dem Wolpertinger über Irrwege im Kreis an der Nase herumführen.
ZITATOR
Der Sprachforscher Johann Andreas Schmeller sah hierin vielmehr die Nähe zum heutigen „kreischen“.
MUSIK „Radio Universe“; ZEIT: 01:23
SPRECHERIN
Wobei der Preiß vielleicht froh sein sollte, wenn er den Wolpertinger nicht findet. Die Bisse des Wolpertingers sind giftig schmerzhaft und nur mit Joghurt, Buttermilch und Sauerkraut zu behandeln. Das Bauchfett freilich, gescheit einmassiert, das lohnt sich für so einen Preiß wirklich: das gibt endlich echte Manneskraft.
SPRECHER (ungnädig)
Unter den Fabelwesen gehört der Wolpertinger wie der Rasselbock, der Dilldapp oder der Elewetrisch zu einer besonderen Gattung: Zu der der Neckgestalten.
SPRECHERIN
Aber mit dem Wolpertinger haben wir Bayern etwas, was von den anderen deutschen Volksstämmen keiner hat.
SPRECHER
Etwas, um Unterlegenheitsgefühle zu kompensieren.
SPRECHERIN
Obacht! Bloß keinen Wolpertinger-Neid!
SPRECHER
Dieser geflügelte Hase mit Hörnern ist keineswegs umsonst seit seiner Erfindung mit den Begriffen Fruchtbarkeit, Sexualität und Potenz aufgeladen. Nicht nur die erstaunliche Vermehrungsfähigkeit der Mischwesen untereinander, sondern auch die Nutzung für die menschliche Zeugungsfähigkeit.
ZITATOR
Einzigartig im Tierreich ist der Gärsack, der sich im Maul des Wolpertingers befindet. In ihm sammelt der Wolpertinger Gerstenkörner, bis diese gären und einen hochprozentigen Schnaps bilden, der eine spektakulär Eingepotenzfördernde Wirkung besitzt.
SPRECHERIN (überlegen, amüsiert)
Der Wolpertinger setzt dem herabschauenden Dünkel all der Kadoffelätschn von jenseits des Weißwurstäquators etwas entgegen. Notwehr gegenüber all denen, die damals um 1900 herum nach Bayern kamen: Eingebildete Sommerfrischler, siebengescheite Naturforscher aus Sachsen oder jagdkundige Herrschaften aus Berlin.
SPRECHER (erbost)
Und um denen eins auszuwischen bediente man sich nicht nur der Konstruktionsweise alter Mythen von Fabeltieren, sondern drehte die etablierte Beweisführung einfach um: Hatte man früher Saurierknochen als Beweise für die Existenz von Drachen gehalten oder einen Narwal-Stoßzahn für Überbleibsel von Einhörnern angesehen, so bastelte man in Bayern in Präparatoren-Kellern aus allen möglichen Resten Wolpertinger zusammen.
SPRECHERIN (amüsiert)
Gab es erst ein ausgestopftes Mischwesen und man bewies damit dann die Existenz des Wolpertingers? Oder gab es erst Legenden und gefoppte Sommerfrischler und man bastelte dazu ein passendes Präparat?
SPRECHER (genervt abwiegelnd)
Das ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei.
SPRECHERIN
Eier frisst der Wolpertinger am liebsten. Ganz besondere Eier:
MUSIK ENDE
10 Zsp. Wolpertinger Blaich (08:53)
Gämsenseier! Also normalerweise liegen Gämsen ja keine Eier, das sind Säugetiere. Aber bei uns in Bayern ist es wieder ein bisschen anders. Also in besonderen Regionen gibt es Gämsen, die Eier legen. Und diese Gämseneier sind auch eine besondere Delikatesse für den Wolperting. Aber wenn man da bei Chefkoch mal schaut er gibt es sogar Gämseneier-Rezepte. Also auch für Menschen scheinen die schmackhaft zu sein.
MUSIK „Jackseye's tale“; ZEIT: 01:09
ZITATOR
Die Gämseneier-Gämse (Rupicapra-ovum-rupicapra) ist eine sehr seltene Gämsen-Art und lebt endemisch in den Salzburger- und Bayrischen-Alpen.
SPRECHERIN
Das Gämsenei wurde wie der Wolpertinger zur Wahrheit. Fabeltiere sind nie aus unserer Welt verschwunden. Sie sind ein Baustein unsrer Realität, indem sie zum Verständnis der Welt beitragen.
SPRECHER (resigniert)
Der Wolpertinger ein Spiegel innerster bajuwarischer Regungen, die den verhassten „Preißn“ auf Wolpertinger-Jagd schickt und ihn damit zum Versager macht.
SPRECHERIN (verbindlich)
Der ein oder andere Preiß löst eben unangenehme und unerwünschte Gefühle bei uns aus. Die werden im Wolpertinger zum originellen Mythos gewandelt, gewissermaßen schöpferisch bewältigt.
SPRECHER (spöttisch)
Die Erfindung des Wolpertingers: Ein Beleg für das Geltungsbedürfnis seiner bayerischen Schöpfer.
SPRECHERIN (humorvoll stolz)
Für Erfindungsreichtum, Fantasie und Humor. Und als solches hat der Wolpertinger, einmal in die Welt gesetzt, längst ein autonomes Eigenleben entwickelt …