
Die Drehung der Schraube
SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Verwendete Schauer-Elemente ohne Wirkung
Moderator listet typische Gothic-Elemente auf, die jedoch weder Schrecken noch erotischen Schauder erzeugen.
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Episode notes
Venedig kann sehr kalt sein. Und sehr neblig. Zum Beispiel am Neujahrstag des Jahres 1900: Zwei Jungvermählte aus London, der Engländer Evelyn Dolman und seine Frau Laura, Tochter eines amerikanischen Öl- und Eisenbahntycoons, treffen ein in der Lagunenstadt, während der feuchte Abend dämmert.
Geplant war eine Art verspätete Hochzeitsreise, stattdessen folgt für Evelyn eine Zeit immer fataler werdender Verstrickung und ruinöser Verwirrung.
Warum nur, warum, fragte ich mich, hatte ich eingewilligt, mit in diese künstliche, trostlose, wassergetränkte Stadt zu kommen?Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln
Rätselhafte Dinge im Palazzo
In der ersten Nacht will er sich nur die Beine vertreten und gerät in die Fänge des luziferischen Landsmanns Frederick und dessen schöner Schwester Francesca. Als Evelyn nach diesem Abend volltrunken zurückkehrt in den weitläufig-unheimlichen Palazzo Dioscuri, wo das junge Paar sich einquartiert hat, vergewaltigt er seine Frau. Am nächsten Tag ist Laura verschwunden.Ich mühte mich zu denken, mich zu erinnern. Mein Gehirn kam mir vor wie ein blindes, im Untergrund lebendes Wesen, das sich unbeholfen den Weg hinauf ins Licht bahnt. Was war gestern Abend geschehen?Doch anstatt nach ihr zu suchen oder die Polizei zu informieren, lässt sich Evelyn weiter von Freddy und vor allem Cesca einwickeln, in die er sich Knall auf Fall verliebt hat. Nach und nach treten in John Banvilles neuem Roman „Schatten der Gondeln“ die schwerwiegenden Hypotheken dieser Ehe vor das Leserauge: ein tyrannischer Schwiegervater, der kurz vor seinem nicht unverdächtigen Tod aus unbekanntem Grund seine Tochter enterbt hat, eine seltsam distanzierte Ehefrau, deren Innenleben beunruhigende Geheimnisse zu verbergen scheint. Währenddessen spielen sich im Palazzo rätselhafte Dinge ab, Geistererscheinungen, die irgendwann in wilde Ausschweifung übergehen. Die Serenissima zeigt sich alles andere als heiter, sondern ist voller unergründlicher Kanäle und finsterer Gestalten, von denen Evelyn sich verfolgt fühlt. Zeitweise glaubt er, wahnsinnig zu werden.Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln
Große Vorbilder, große Fallhöhe
John Banville hat nicht grundlos ein Zitat aus Henry James‘ Horrorklassiker „Die Drehung der Schraube“ als Motto gewählt. Sein Buch versammelt alles, was ein viktorianischer Schauerroman braucht. Aber nicht nur Handlung und Leitmotive verweisen auf große Vorbilder. Bei wem er sich hier bedient, benennt Banville ganz offen. Sein Ich-Erzähler Evelyn Dolman versteht sich selbst als Literat, allerdings als gescheiterter. Ein „Schreiberling“ sei er, sagt er über sich selbst, der sich mit dem Verfassen von Reiseführern über Wasser hält. Umso demütigender, da er mit großen Ambitionen angetreten war:[...] meine Ziele waren die mächtigsten Ungetüme des literarischen Dschungels, die Henry Jamese, die George Eliots, die Conrads und die Hardys und die Ford Madox Fords.Tatsächlich erinnert Banvilles literarisches Vorgehen stark an die psychologischen Vexierspiele in berühmten Romanen und Erzählungen von Henry James – tragikomische kulturelle Missverständnisse des Briten im Ausland inklusive. Vor allem aber ist der bedauernswerte Evelyn Dolman eine besonders eigenwillige Ausprägung des unzuverlässigen Erzählers: ähnlich dem scheinbar ahnungslosen, sich selbst und damit die Leser in einer Tour belügenden Trottel John Dowell, der Madox Fords Roman „Die allertraurigste Geschichte“ erzählt.Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln
Achtlos und töricht in die eigene Zerstörung gestürzt
Wie in diesem bis heute lesenswerten Meilenstein der englischsprachigen Literatur blickt auch Banvilles Erzähler auf ein Geschehen zurück, das er nie wirklich verstanden hat. Immer und immer wieder blitzen Hinweise auf das schlimme Ende auf. Auch das kennt man – hier wirkt es aber vor allem wie ein absichtsvolles Signal an die Leser, wie virtuos der Autor mit dieser Erzähl-Trope spielt.Jetzt blicke ich zurück und sehe mich damals als einen völlig anderen Menschen, töricht, eitel und bedürftig, der sich achtlos in die eigene Zerstörung stürzte. Es besteht kein Zweifel, ich habe alles verdient, was ich bekommen habe. Aber wie gesagt, ich muss meine arme, traurige Geschichte so erzählen, wie sie sich zugetragen hat, und nicht, wie ich mich heute daran erinnere, voll Kummer und bitterer Reue.Zwar spricht in unseren postmodernen Zeiten eigentlich nichts dagegen, in der Art eines literarischen Re-Enactments alte Formen wie die Gothic Novel oder die Ghost Story aus der Vitrine zu nehmen und aufzupolieren, bis sie glänzen wie neu. Aber in „Schatten der Gondeln“ mit seinen fast vierhundert Seiten wird einfach viel zu lang poliert und mit deutlich zu viel Aufwand für einen dürftigen Ertrag. Die bewährten Zutaten, die Banville versammelt – ein vages Gesicht am Fenster, geheime Kammern, eine übersexualisierte Mänade im Markusdom, ein dämonischer Graf und seine rätselhaft willige Dienstmagd –, erregen in ihrer Gesuchtheit weder Schrecken noch erotischen Schauder. Dass der ebenso eingebildete wie bornierte Ich-Erzähler sein Misstrauen auf die verschlagenen Einheimischen richtet und nicht etwa auf seine undurchsichtige Frau und seine zwielichtigen Landsleute, deren Machenschaften seinen Untergang besiegeln, ist von eher plumper Ironie. Zumal die Intrige der Kriminalhandlung ebenso löchrig wie vorhersehbar ist.Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln
Ist dieses Venedig vielleicht einfach auserzählt?
Vielleicht ist Venedig als Topos mit seinen verdächtigen Schatten, traurigen Gondeln, bröckelnden Palazzi, seinen Kanälen und Kaschemmen einfach so sehr auserzählt, dass jede Neubefassung entweder gleich zum Brunetti-Krimi wird oder zum Versuch, einen zusammengeflickten Leichnam galvanisch zum Leben zu erwecken. Vielleicht hat John Banville sich für sein Spiel mit literarischen Traditionen und kulturgeschichtlichen Referenzen aber auch einfach zu viel vor- und all das dann nicht mehr recht ernst genommen.The AI-powered Podcast Player
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