
Der Wiener Narrenturm - Die erste "Irrenanstalt" der Welt
Radiowissen
Intro
Dieses Kapitel beleuchtet den Narenturm im 9. Wiener Gemeindebezirk, das erste psychiatrische Krankenhaus der Welt. Es beschreibt seine Architektur, die Umbenennung von 'Irrenturm' zu 'Narenturm' und das pathologische Museum, das seit 1971 im Inneren des Turms befindet.
Wien, die alte Kaiserstadt an der Donau, ist ein lebendiges Freilichtmuse-um. Neben Hofburg, Oper und Burgtheater steht hier der sogenannte Narrenturm. Dieses eindrucksvolle Bauwerk ist ein kreisrunder, fünfge-schossiger Turm mit meterdicken Mauern. 1784 unter Kaiser Joseph II. erbaut, beherbergte es einst das weltweit erste psychiatrische Kranken-haus - lange bevor Sigmund Freud praktizierte. Autor: Michael Marek
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Marek
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Christiane Roßbach, Peter Veit
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Yvonne Maier
Lesetipp:
Daniel Vitecek: Der Wiener Narrenturm. Die Geschichte der niederösterreichischen Psychiatrie von 1784 bis 1870. Springer Verlag 2023.
Den Narrenturm in der Spitalgasse 2 in Wien kann man auch besichtigen, alle Infos gibt’s auf der Webseite: [LINK]
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Unterwegs im neunten Wiener Gemeindebezirk, weit abseits des touristischen Altstadttrubels im Dreivierteltakt.
MUSIK 2 (C5106800115 Meredith Monk – Dark / Light 2 0’41)
Dort erhebt sich ein beeindruckendes Bauwerk: ein kreisrunder, fünfgeschossiger Turm mit meterdicken Mauern. 1784 unter Kaiser Joseph II. erbaut, war hier einst das weltweit erste psychiatrische Krankenhaus untergebracht.
ZSP 1: Eduard Winter
"Ursprünglich war es die K. u. K.-Irrenanstalt zu Wien, und dann hieß es relativ bald der Irrenturm. Der Irrenturm ist relativ früh verbürgt, und aus diesem Irrenturm wurde irgendwann der Narrenturm auch schon relativ früh. Man findet das schon im 19. Jahrhundert, den Begriff Narrenturm."
ATMO Narrenturm
Sprecherin:
Eduard Winter ist Leiter des größten pathologischen Museums in der Alpenrepublik, das seit 1971 im Narrenturm untergebracht ist. Er führt durch den ungewöhnlichen Bau, ein mächtiges klassizistisches Monument. Ein leicht modriger Geruch liegt in der Luft:
ZSP 2: Eduard Winter
"Der Narrenturm besteht eigentlich aus zwei Gebäuden im Endeffekt. Wir haben einen Rundbau, das ist auch das, was man von außen sieht. Das war der Patienten Teil, indem die Patienten untergebracht waren. Und in der Mitte drinnen, im Innenhof, ist die sogenannte Sehne, die teilt den Hof in zwei Höfe, und das war der Wärtertrakt und auch die Untersuchungszimmer und Verwaltungsgebäude. Da haben auch die Ärzte ihre Untersuchungszimmer gehabt."
MUSIK 3 (C5106800115 Meredith Monk – Dark / Light 2 0’33)
Sprecherin:
Was sofort auffällt: Von außen wirkt der Rundturm durch seine Form ungewöhnlich modern. Gleichzeitig erscheint er wie ein Gefängnis, wie eine fast uneinnehmbare Burg:
ZSP 3: Eduard Winter
"Der Narrenturm selber hat fünf Stockwerke … und in diesen fünf Stockwerken gibt es pro Stockwerk 28 Zimmer für die Patienten, die ungefähr elf Quadratmeter groß sind. Jedes Stockwerk war eine eigene Abteilung."
ATMO Narrenturm
Sprecherin:
Der Narrenturm war zur Behandlung psychisch kranker Menschen gedacht, die aus allen gesellschaftlichen Schichten kamen – und mit den unterschiedlichsten psychischen und psychosomatischen Symptomen, so Daniel Vitecek. Der Wiener Humanmediziner hat sich intensiv mit der Geschichte des Narrenturms beschäftigt. Dabei zeigte sich in seinen Forschungen, dass sich auch die Geschlechterverhältnisse in den medizinischen Diagnosen widerspiegelten:
ZSP 4: Daniel Vitecek
"Etwa 53 Prozent aller Patienten waren männlich. Es dürfte einige Stresssoren in der damaligen Zeit gegeben haben, die Männer überproportional belastet haben im Vergleich zu Frauen. Biologisch war das vor allem die Geschlechtskrankheit Syphilis, die einige Jahre nach der Ansteckung bei Männern überwiegend häufig zu neuropsychiatrischen Symptomen und auch oft dann später zum Tod geführt hat. Sozial war das vor allem der Alkoholismus. Das Alkoholdelir war zu 85 Prozent eine männliche Diagnose. Durch diese zwei Stresssoren ist wahrscheinlich auch zu erklären, dass anteilsmäßig mehr Männer in der Wiener Irrenanstalt starben als Frauen. Aber auch bei Frauen gab es geschlechtsspezifische Diagnosen. Das sind zum Beispiel die Puerperalmanien gewesen, also die psychischen Erkrankungen, die rund um die Geburt auftraten, vergleichbar mit dem heutigen postpartalen Depressionen oder postpartalen Psychosen. Und auch die Melancholie, also die Vorläuferdiagnose der heutigen Depression, war überwiegend weiblich geprägt."
ATMO Narrenturm
MUSIK 4 (C1437960003 Meredith Monk – Little Breath 0’21)
ZSP 5 Eduard Winter
"Wir befinden uns … in so einer ehemaligen Zelle, die jetzt wieder hergerichtet ist im Originalzustand, mit Originalfenstergröße und ähnlichem. Und in der Mitte gab es eben für die Wärter eine Wohnung jeweils und eine Küche. Jedes Stockwerk war eine eigene Abteilung, und da wurde für jede Abteilung in diesen Wärtertrakt gekocht."
Sprecherin:
Meist war es die Frau des Wärters, die für Patienten und Personal das Essen zubereitete. Tagsüber gab es zusätzliches Pflegepersonal und einen Arzt für die medizinische Versorgung. Alle Zellen besitzen –für die damalige Zeit ungewöhnlich - Tageslicht. Bis heute ranken sich um den Narrenturm wilde Spekulationen, sagt Museumsleiter Eduard Winter.
MUSIK 5 (CD402720W01 (103) W.A.Mozart - Divertimento B-Dur (Netherland Wind Ensemble) 0’46)
So soll sich Kaiser Joseph II. auf die Spitze des Turms ein achteckiges Zimmer habe bauen lassen, in dem er sich regelmäßig aufhielt. Dieses Zimmer existiert jedoch nicht mehr. Eine Sternwarte soll dort gewesen sein - und ein Logenort der Freimaurer, zu denen der Kaiser ein enges Verhältnis besaß:
ZSP 6 Eduard Winter
"Josef II. war durchaus schon ein aufgeklärter Herrscher, aber erst zum Übergang, am Anfang der Aufklärung, der schon gute Ansätze hatte, aber trotzdem noch in diesem Absolutismus verhaftet war. Also, er bestimmt, und er gibt vor. Aber er hat seine Berater gehabt, aber im Endeffekt, zum Schluss entscheidet er selbst allein, um eben Irre, oder Geisteskranke einerseits von der Straße wegzubekommen, andererseits durchaus sie zu behandeln. Das war schon die Intention, die irgendwie wieder in die Gesellschaft zu integrieren - wenn möglich; wenn nicht: dann halt wegsperren. Das war der Plan."
MUSIK 6 (C1437960011 Meredith Monk – Slow Dissolve 0’42)
Sprecherin:
Kaiser Joseph II. schrieb dazu im Jahr 1781:
Zitator:
Unter jenen, die Schaden oder Ekel verursachen, verstehe Ich Wahnwitzige und mit Krebsen oder solchen Schäden behaftete Personen, welche aus der allgemeinen Gesellschaft, und aus den Augen deren Menschen müssen entfernt werden
Sprecherin:
Die Patientinnen und Patienten lebten in kleinen Zellen mit schweren Holztüren. 28 Räume pro Stockwerk - eine Zahl, die nicht zufällig gewählt wurde. Denn: In etwa 28 Tagen umkreist der Mond die Erde.