
Hi, Hochwohlgeborener! Andere Zeiten, andere Anreden
Radiowissen
Intro
Dieses Kapitel untersucht den Wandel der Anredeformen zwischen Schülern und Lehrern in der Grundschule. Es wird dargestellt, wie die Anrede als Spiegelbild gesellschaftlicher Veränderungen von Hierarchie zu einer vertrauteren Beziehung übergeht.
Um eine Anrede kommt niemand, der spricht oder schreibt, herum. Aber die höflichen Worte zu Beginn jeder Nachricht sind aktuell im Wandel und alte Regeln über "Liebe..." oder "Sehr geehrte..." außer Kraft gesetzt. Nicht zum ersten Mal in der langen Geschichte der Anredeformen. Von Marie Schoeß
Credits
Autorin dieser Folge: Marie SchoeĂź
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Berenike Beschle, Christian Baumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
PD Dr. Klaas-Hinrich Ehlers, Institut für Germanistik an der Universität Rostock
Laura Fischlhammer, Germanistik an der Universität Salzburg
Prof. Dr. Bettina Kluge, Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation, Universität Hildesheim
Prof. Dr. Horst Simon, Historische Sprachwissenschaft an der FU Berlin
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Erinnern Sie sich noch, wie Sie Ihre Grundschullehrerin angesprochen haben? Wenn Sie als Sechsjährige, als Achtjähriger Hilfe brauchten, wie haben Sie dann auf sich aufmerksam gemacht? Haben Sie Du oder Sie gerufen, Frau Schmidt oder Annette? Wissen Sie es noch? Der Germanist Klaas-Hinrich Ehlers arbeitet als Privatdozent an der Universität Rostock, am Institut für Germanistik als seine Tochter eingeschult wurde, hat er sich sehr genau daran erinnert, wie es in seiner Schulzeit zuging,
MUSIK ENDE
01 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Meine Tochter ist in die Grundschule gegangen – ich selber bin ja in den 60er Jahren in der Grundschule gewesen – meine Tochter ging in die Grundschule, und ich merkte: Die duzt ihre Lehrerin und sie nennt sie sogar „Nana“, also mit Kosenamen. Das war für mich vollkommen undenkbar.
SPRECHERIN
Für Klaas-Hinrich Ehlers ist klar: Etwas Grundlegendes hat sich verschoben. Die Regeln, mit denen er aufgewachsen ist, haben sich verkehrt. Er startet eine Untersuchung, interviewt Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer in Norddeutschland, und findet heraus: In der ersten, zweiten Klasse siezt heute eigentlich kein Schulkind mehr sein erwachsenes Gegenüber, und die Kinder wissen das zu begründen. Die Lehrenden seien ihnen schließlich vertraut – deshalb das „Du“. Überordnung, Unterordnung – hierarchische Fragen, die in Ehlers Schulzeit zentral waren, spielen für Kinder heute kaum noch eine Rolle, zumindest nicht in der Grundschule. Das geht aus den Interviews klar hervor. Sympathie, Nähe entscheidet heute über die Anrede in der Grundschule. Nur wenige Jahrzehnte früher: undenkbar.
02 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Da finden wir in den Benimmbüchern der 50er Jahre noch Anweisungen wie: Die Lehrer sind strikt und zu jeder Zeit immer mit „Herr Lehrer“ und „Sie“ anzusprechen – und so weiter, dieses ganze Zeug. Aufstehen, wenn der Lehrer reinkommt. Beiseite gehen, wenn er einem auf dem Fußweg entgegenkommt. Diese ganzen Dinge: Die Anrede ist immer vernetzt mit allen kommunikativen Verfahrensweisen.
SPRECHERIN
Und sie ist Spiegel von gesellschaftlichem Wandel: Die Lehrerinnen und Lehrer interpretieren heute ihre Rolle anders – sonst könnten sich die Kinder das Duzen nie erlauben – und sie lassen sich nur deshalb anders ansprechen. Weil: sie selbst wollen sich von gleich zu gleich begegnen, Dinge aushandeln, statt sie durchzudrücken. Der Sprachwandel ist insofern Symbol eines grundlegenden Rollenwandels. Einer anderen Idee von Kindern, von Respekt, von Schule.
MUSIK CD703880 007 „Wheelbarrow walk“; ZEIT: 00:34
SPRECHERIN
Der Mikrokosmos Grundschule beweist etwas Grundlegendes: Wenn die Anrede-Formen in Bewegung geraten, dann ist die Gesellschaft in Bewegung. Jeder Bruch der Anrede-Normen verweist auf einen gesellschaftlichen Bruch. Als Klaas-Hinrich Ehlers seine Untersuchung an Grundschulen durchführt, ist der Wandel schon vollzogen, neue Regeln sind etabliert. Aber was erklärt den Wandel in der Grundschule?
MUSIK ENDE
03 ZUSPIELER HORST SIMON
Mitte, Ende der 60er Jahre, wo insgesamt das Leben informeller wird, wo Leute anfangen, nicht mehr mit Krawatte rumzurennen oder einen Hut aufzusetzen auf der Straße, da geht es auch los mit sprachlichen Dingen. Dass die Leute eben nicht mehr alle „Sie“ sagen, wenn sie sich nicht kennen, sondern dass es normaler wird, nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch unter Nachbarn – wir wohnen in so einem Mietshaus, da sagt man halt „Du“ zueinander. Das sind alles Sachen, die haben so in den 60er Jahren begonnen und dann ging es langsam durch verschiedene gesellschaftliche Bereiche.
MUSIK privat Take 007 „All You Need Is Love“; Album: MSQ Performs The Beatles; Label: 2015 Roma Music Group; Interpret: Midnite String Quartett; Komponist: Lennon/McCartney; ZEIT: 00:44
SPRECHERIN
Der Linguist Prof. Horst Simon. Er unterrichtet Historische Sprachwissenschaft an der FU Berlin, Sprachwandel ist sein Fachgebiet. Er führt die Entwicklung, an deren Ende wir heute stehen, auf die 60er Jahre, die 68er-Bewegung zurück. Stichwort: Kampf um Bürgerrechte, Kapitalismuskritik, Infragestellung alter Hierarchien. Dieser gesellschaftliche Kampf ums Große Ganze findet seinen Niederschlag in kleinsten sprachlichen Wendungen: in Titeln, die plötzlich unter den Tisch fallen, in Grußformeln, Abschiedsformeln, die sich wandeln.
MUSIK ENDE
04 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Wer beendet Briefe heute noch mit: Hochachtungsvoll, Ihr Ergebener sowieso? Das ist 50er Jahre.
SPRECHERIN
Auch Klaas-Hinrich Ehlers erinnert an die Studentenbewegung, ans Jahr 1968, um die heutige Grundschul-Gepflogenheiten zu erklären. Aber, sagt er, eigentlich müsse man noch weiter zurückgehen, um die Sprache der Grundschüler zu verstehen:
05 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Im 18. Jahrhundert beginnt – im Zusammenhang mit der Französischen Revolution – in ganz Europa eine allmähliche Umorientierung des Kommunikationsverhaltens – weg von der Markierung von Statusunterschieden, hin zur Markierung von Nähen und Fernen. Also, es wird gewechselt von der vertikalen Distanz – oben unten – zur horizontalen Distanz – nah und fern. Und das ist eine Entwicklung, die damals angefangen hat, auch durchgekämpft worden ist. Und in dieser Entwicklung stehen wir letztlich immer noch.
MUSIK privat Take 007 „All You Need Is Love“; Album: MSQ Performs The Beatles; Label: 2015 Roma Music Group; Interpret: Midnite String Quartett; Komponist: Lennon/McCartney; ZEIT: 00:30
SPRECHERIN
Die Französische Revolution richtet sich gegen eine Gesellschaftsform, die ursprünglich aus dem Mittelalter stammt: Eine Ständegesellschaft. Oben und unten ist klar definiert. Ein Aufstieg nicht vorgesehen. Die Statusunterschiede drücken sich in allerlei Verhaltensformen aus. Die Körper erzählen in Verbeugungen von ihr, die Sprache in Pronomina:
MUSIK ENDE
06 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Im 18. Jahrhundert gab es noch wesentlich mehr Pronomina – nicht nur Du und Sie, es gab Du, Ihr, er/sie: Also, die Magd wurde dann angesprochen: Kann sie mal kommen? Also, im Singular. Dann das großgeschriebene Sie, das wir heute noch haben. Es gab eine größere Palette von Anredeformen und das heißt: Eine sehr viel größere Möglichkeit, Unterschiede, asymmetrische Unterschiede zu signalisieren. Also, von oben herab wird nicht nur geduzt, sondern auch geerzt zum Beispiel.
MUSIK C5080290 106 „An eye for optical theory“; ZEIT: 00:27
SPRECHERIN
„Gehe Er mir aus den Augen“ – heute eine unmögliche Formulierung. Früher aber war das „Erzen“ einfach eine weitere Möglichkeit der Anrede, eine weitere Möglichkeit, sich vom Gegenüber abzugrenzen, schon sprachlich den eigenen höheren Stand zu zeigen.
MUSIK ENDE
06 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS (Fortsetzung)
Friedrich der Große erzt seine Soldaten. Und ihrzt vielleicht seinen Minister. Und er siezt vielleicht einen gleichrangigen Adligen. Und diese Asymmetrien sind abgebaut worden, die Pronomina sind verloren gegangen, wir haben jetzt nur noch zwei – und auch da geht es immer weiter, dass es in Richtung symmetrischer Anrede geht.
SPRECHERIN
„Symmetrische Anrede“: Das ließe sich auch als Kommunikation auf Augenhöhe beschreiben, eine Sprache, die nicht darauf aus ist, Stände-, Bildungsunterschiede herauszustellen, Hierarchien einzuziehen. Die Entwicklung hin zur symmetrischen Anrede zeigt sich heute in eigentlich allen Bereichen. In Schulen und Universitäten, Parteien und Sportvereinen, Betrieben und Unternehmen. Und es zeigt sich noch etwas: Die Anrede wandelt sich nicht bloß von Zeit zu Zeit, sie ist auch von Region zu Region verschieden. Horst Simon weiß das aus eigener Erfahrung:
07 ZUSPIELER HORST SIMON
Es ist ja ein Phänomen – das gibt es im Bairischen ganz stark, aber auch in anderen Gebieten –, dass man eine Person siezt, aber mehrere Siezpersonen mit „Ihr“ anspricht. Also, ich habe das selbst als Student erlebt, dass ich natürlich zu dem einzelnen Professor „Sie“ gesagt habe, aber wenn mehrere Professoren zusammenstanden, habe ich zu Ihnen insgesamt „Ihr“ gesagt. Das hat wunderbar funktioniert bis zu dem Moment, wo ich das zu zwei Professoren gesagt habe, die aus Norddeutschland kamen, und die das überhaupt nicht verstanden haben, sondern dann beleidigt waren, weil ich so komisch informell rede, so als würde ich sie duzen. Und da sieht man eben, dass es in verschiedenen Varietäten des Deutschen unterschiedliche Systeme gibt, wie man so etwas macht.
SPRECHERIN
Was Horst Simon als Student erlebt hat, erforscht er heute: Er hat eine Untersuchung zur Anrede in Verkaufsgesprächen durchgeführt, wollte wissen, wie sich der Beginn von Verkaufsgesprächen – etwa beim Bäcker – von Region zu Region unterscheidet.
08 ZUSPIELER HORST SIMON
Es geht schon damit los: Wer grüßt zuerst? Wir haben eine Beobachtungsstudie gemacht in Berlin und in Zürich und beobachtet, dass in Zürich die Verkaufsperson immer einen Gruß sagt als erstes und dann beginnt das eigentliche Verkaufsgespräch. In Berlin ist das nie der Fall oder sehr selten. Da ist es eher so, dass von der Person, die reingeht, irgendwie erwartet wird, dass sie grüßt. Und selbst die machen’s häufig nicht, sondern sagen gleich, was sie wollen. Dann so: Dass man sich doppelt bedankt oder ein zweites Mal Auf Wiedersehen sagt: An genau solchen Stellen findet man Alltagsdifferenzierungen, wo die einen eher so oder anders sind. Und das ist eben teilweise regional verteilt.
SPRECHERIN
Aus dem Gespräch beim Bäcker lässt sich eines ableiten: Mit dem Schlagwort Höflichkeit lassen sich Anrede-Normen nicht erklären. Denn was ist höflicher: Wenn erst die Verkäuferin oder erst die Käuferin begrüßt? Kaum zu entscheiden, oder? Wie die Gründe für solche Normen und Norm-Unterschiede überhaupt schwer zu finden sind. Vielleicht ist es einfach so, dass sich Höflichkeit von Region zu Region anders ausdrückt. Dass sich die Vorstellung von Höflichkeit von Zeit zu Zeit ändert und mit ihr die Sprache.
MUSIK privat Take 004 „Help!“; Album: CSQ performs The Beatles Vol.2; Label: 2011 Vitamin Records, Interpret: Vitamin String Quartett; Komponist: John Lennon/Paul McCartney; ZEIT: 00:10
Was aber nicht bedeuten soll, dass es sich nicht lohnen würde, genau auf Anreden zu achten…
MUSIK ENDE
09 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Weil die Anrede ja auch gezielt eingesetzt wird, um das soziale Verhältnis zwischen den beiden, die miteinander sprechen, zu symbolisieren. Eventuell auch zu verändern.
SPRECHERIN
Sagt Klaas-Hinrich Ehlers.
10 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Im Laufe einer längeren Beziehung ändert sich ja auch die Anrede, das heißt wir können anhand der Anrede-Konstellationen auch sehr schön Entwicklungen von persönlichen Verhältnissen sehen. Wir können Rangunterschiede sehen, wie sich Leute näherkommen, eventuell auch wieder entzweien. Also, Anrede ist ein hochsensibler Sozialindikator.
SPRECHERIN
Wer einen Brief mit „Lieber“ beginnt, ist auf eine andere Beziehung aus als einer, der sein Schreiben mit „Sehr geehrter“ eröffnet. Wer seine Eltern siezt, denkt anders über sie als jemand, der selbstverständlich zum Du greift. Laura Fischlhammer spürt das jeden Tag, wenn sie sich an ihre Forschung macht.
11 ZUSPIELER LAURA FISCHLHAMMER
Ich respektiere meine Eltern auch, aber das ist man heute nicht mehr gewohnt, dass man da so ganz ehrfürchtig ist und „Sie, sehr geehrter Herr Vater“, oft mit dem „Herr“ auch dazu. Und sich selbst auch zurücknimmt: „Ja, also ich weiß ja nicht… Aber Sie wissen ja…“
SPRECHERIN
Die Germanistin untersucht Briefe aus dem 19. Jahrhundert, sie seziert die Elemente, die viele überlesen würden, abtun als unwichtige Phrasen: Begrüßungsformeln, Namen, Pronomina – Anrede eben:
12 ZUSPIELER LAURA FISCHLHAMMER
Das ist so eine Zwischenzeit. Wir haben im 18. Jahrhundert eine sehr ausdifferenzierte, sehr komplexe Regelung der Anredeformen und der Titulaturen. Und das verändert sich im 19. Jahrhundert nach und nach. Nicht Schlag auf Schlag – die soziale Hierarchie ist nicht von einem Tag auf den anderen völlig egal, aber da kann man im ganz Kleinen, auch schon innerhalb der Familie schön sehen, wie sich die Beziehungen verändern und sich das in der Sprache niederschlägt.
MUSIK CD703880 007 „Wheelbarrow walk“; ZEIT: 00:49
SPRECHERIN
Laura Fischlhammer rekonstruiert anhand der Briefe einen Prozess: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beginnen gerade jüngere, gerade gebildete Menschen, ihre Eltern zu duzen. Manche von ihnen schreiben auch über den Wandel, kündigen dem Vater an, jetzt auf das Sie verzichten zu wollen. Aber es braucht das gesamte 19. Jahrhundert, bis sich diese Veränderung vollzogen hat. Und selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich noch Briefe, so Fischlhammer, in denen sich die Hierarchie in der Familie in einem „Sie“ niederschlägt. Und andere, in denen die Schreibenden schwanken – vom Du zum Sie und wieder zurück wechseln.
MUSIK ENDE
13 ZUSPIELER LAURA FISCHLHAMMER
Zum Beispiel gibt es viele Briefe, wo die Eltern schon geduzt werden, aber in manchen Routineformeln hält sich noch das Sie. Wenn etwa zu Beginn steht: „Ich fühle mich verpflichtet, an Sie zu schreiben.“ Das ist eine feststehende Formel, die aus der Schule oder aus Ratgebern gelernt ist. Und dann geht es per Du weiter. Wir finden da viel Variation, was immer heißt, dass es Veränderung gibt.
SPRECHERIN
Wie wichtig die Anrede für den Aufbau einer Beziehung ist, kann jede und jeder von uns heute im Alltag erspüren. Denn die Regeln sind gerade wieder im Fluss. Ist es jetzt richtig, einen Professor mit „Herr Professor“ anzuschreiben, wenn man ihn nicht kennt? Oder übertrieben förmlich? Ist es wichtig, ein „Sehr geehrter“ zu nutzen, um einen Brief an eine Behörde einzuleiten, oder reicht auch „Guten Tag“? Von selbst versteht sich das alles nicht mehr, bei jeder Mail, bei jedem Brief kann man also ins Grübeln kommen. Selbst die Sprachwissenschaftlerin Prof. Bettina Kluge, Gründungsmitglied im International Network of Address Research, stutzt manchmal:
14 ZUSPIELER BETTINA KLUGE
Wir hatten das zum Beispiel bei unserem Prüfungsamt, dass die unsere Studierenden, wenn sie fertig werden mit dem Studium, nicht mehr mit „Sehr geehrte Frau xy“ anschreiben, sondern da steht jetzt „Guten Tag, Vorname und Nachname“. Und ich hab mich auch gefragt: Warum?
15 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Ich denke, dass wir in diesem Fall – also bei der Anrede in der schriftlichen Kommunikation – merken, dass die Schriftlichkeit insgesamt sehr viel mündlicher geworden ist. Die Leute schreiben sehr viel mehr als noch in meiner Jugend. Da hat man gesprochen – heute sitzen alle an ihren Handys und schreiben ununterbrochen. Die ganze private Kommunikation ist ins Schriftliche verlagert – nicht die ganze natürlich. Aber sehr viel. Und dadurch vermündlicht sich die Schriftlichkeit.
SPRECHERIN
Sagt Klaas-Hinrich Ehlers.
MUSIK privat Take 002 „Let in be“; Album: CSQ performs The Beatles Vol.2; Label: 2011 Vitamin Records, Interpret: Vitamin String Quartett; Komponist: John Lennon/Paul McCartney; ZEIT: 01:24
Horst Simon hat noch eine andere Vermutung: Mit der Digitalisierung und einer Orientierung an der US-amerikanischen Populärkultur habe die informellere Sprache auch bei uns in Deutschland zugenommen. Ein lockeres Schreiben, ein Schreiben, das ans Mündliche erinnert, könne sich auch so erklären, glaubt er. „Guten Tag“ ist ein Beispiel davon, manche Mail – anderes Beispiel – beginnt einfach mit „Hi“. Aber Bettina Kluge vermutet, dass hinter der Entscheidung ihres Prüfungsamtes noch etwas anderes, sehr Spezifisches steckt: „Guten Tag, Vorname Nachname“, diese Wendung macht heute Fehler unwahrscheinlicher: In einer Migrationsgesellschaft weiß nicht jeder auf den ersten Blick, ob hinter einem Vornamen eine Frau oder ein Mann steckt, Sprecherinnen und Sprecher, die gendersensibel agieren wollen, wollen die Festlegung auf Frau und Mann ohnehin nicht zum Zwang machen. „Guten Tag, Vorname Nachname“ kann da eine elegante Lösung sein – was wieder einmal beweist, dass ein Sprachwandel mit der Abnahme von Höflichkeit kaum hinreichend erklärt ist. Eher schon: Dass wieder etwas in Bewegung geraten ist – in der Anrede, in der Gesellschaft.
16 ZUSPIELER HORST SIMON
Da kommt Variation zustande und dann ist die Frage: Ist das problematisch? Man kann es auch ganz anders framen und sagen: Gut, es gibt halt Variation und diese Person schreibt mich auf jede Weise an und da lerne ich gleich was ĂĽber die.
SPRECHERIN
Jede Anrede ist heute also: eine Möglichkeit, sein Gegenüber einzuschätzen oder etwas von sich selbst zu verraten. Will ich modern wirken oder konservativ? Nahbar klingen oder professionell distanziert? Klassisch oder progressiv? Gerade geübte Sprechende und Schreibende können die Varianz als Chance verstehen – andere werden Angst haben, Fehler zu machen, sich schon in der ersten Zeile zu verraten als jemand, der die Regeln nicht beherrscht.
Im 19. Jahrhundert weiĂź man das: Dass die Anrede Grund fĂĽr Unsicherheit, Angst ist. Stichwort: Briefkultur.
17 ZUSPIELER BETTINA KLUGE
Da gab es ganze Briefsteller, Sammlungen von Briefmodellen, wo man eben eins aussuchen konnte fĂĽr den jeweiligen Kontext, um den dann anzupassen fĂĽr die jeweilige Situation.
SPRECHERIN
Briefsteller: So nannte man mal Personen, die für andere – ungeübtere – Leute Briefe aufsetzen, auch um Fehler bei der Anrede, bei Titeln und Höflichkeitsregeln zu vermeiden. Bald schon bezeichnet „Briefsteller“ aber ein Genre: Ratgeber voll von Musterbriefen.
17 ZUSPIELER BETTINA KLUGE (Fortsetzung)
Plus dazu lange Listen, wie man eine GroĂźherzogin anzureden hat und so.
SPRECHERIN
Sagt Bettina Kluge – und Laura Fischlhammer springt noch ein Jahrhundert weiter zurück und erzählt nicht bloß von Briefstellern, sondern auch von den Briefratgebern im 18. Jahrhundert:
18 ZUSPIELER LAURA FISCHLHAMMER
Also, in sämtlichen Briefratgebern aus dieser Zeit findet man Seiten an Seiten: Wie muss man verschiedene Personen – wichtige Personen – anreden? Wie spricht man Herzöge an, wie Könige – dann gibt es Abstufungen von allen möglichen Adelstiteln und Kirchenfunktionen und Universitätsfunktionen. Und das ist sehr ausdifferenziert und es gibt wenig Spielraum.
MUSIK M0049573 216 „Time lapse“; ZEIT: 00:58
ZITATOR
Scheibt man an geringere/als [= wie] Unterthanen/Knechte/Kinder/ec. so pflegt man sie zu dutzen.
SPRECHERIN
Anweisungen von Georg Philipp Harsdörffer, aufgeschrieben 1656, die bis ins 18. Jahrhundert nachwirken:
ZITATOR
Schreibt man an seines gleichen/so pflegt man sie zu ehren wie wir von ihnen wollen geehret seyn/ und soll sie zum wenigsten geirtzt und geherret oder mit ihnen in der dritten Person geredet werden. Schreibet man an hoehere/so muĂź man ihnen ihren angebornen Titul beylegen/nach ihren Stand und Ambtsdiensten. Solche aber werden nicht auff eine Art geherret/dann etliche nennet man guenstig/ andre gestreng/hoehre gnaedig/gnaedigst/und allergnaedigst.
SPRECHERIN
Ein Geschäft mit der Angst vor dem Fehler, der falschen Anrede sind solche Ratgeber: Was nur wieder beweist, wie wichtig die Anrede ist, damit Kommunikation gelingt. Man kann sich ja auch nicht vor ihr drücken. Ein Brief ohne Anrede funktioniert nicht, ein Gespräch ohne Du oder Sie ist enorm kompliziert. Und deswegen gibt es auch heute noch Ratgeber.
19 ZUSPIELER HORST SIMON
Ja, es gibt allerlei so Regelwerke, wie ich den Abt eines katholischen Klosters anschreiben soll, wie den Minister und Unterminister und wen auch immer:
SPRECHERIN
Praxistest: Das „Protokoll Inland“ der Bundesregierung im Bundesministerium des Innern und für Heimat gibt einen Ratgeber für Anschriften und Anreden heraus, für jeden online einsehbar. „Sehr geehrte Frau Bundesministerin“ schlägt dieser Ratgeber 2016 zum Beispiel als schriftliche Anrede für eine Ministerin vor. Und als Schlussformel: „Mit ausgezeichneter Hochachtung“ oder „Mit vorzüglicher Hochachtung“ oder – ganz schlich – „Mit freundlichen Grüßen“.
19 ZUSPIELER HORST SIMON Fortsetzung
Wer sich dranhalten mag, soll sich dranhalten, man kann es auch ignorieren dieses Zeugs. Solche Ratgeber sind da, damit Leute Geld verdienen. Und es wandelt sich wirklich. In gewissen Kreisen mag es sinnvoll sein – wenn ich etwas erreichen will und eine besonders konservative Person vor mir habe –, dass ich mich an solche Regeln halte, aber ansonsten sind die wurscht. Also, da würde ich wirklich sagen, die sind dabei auszusterben.
MUSIK privat Take 004 „Help!“; Album: CSQ performs The Beatles Vol.2; Label: 2011 Vitamin Records, Interpret: Vitamin String Quartett; Komponist: John Lennon/Paul McCartney; ZEIT: 01:14
SPRECHERIN
Natürlich ließe sich etwas einwenden gegen einen solchen Optimismus: Dass Hierarchien, Unterschiede ja bis heute bestehen und auch eine lockere Sprache nicht darüber hinwegtäuscht. Dass ein Chef, der sich von seinen Mitarbeitern duzen lässt, deshalb noch lange kein Chef sein muss, der auf Augenhöhe agiert. Der Einwand ist völlig richtig, gibt Klaas-Hinrich Ehlers zu. Und doch drücke sich in der Sprache etwas aus – und wenn es nicht die gesellschaftliche Realität ist, so immerhin der Traum von einer Zukunft:
20 ZUSPIELER KLAAS-HINRICH EHLERS
Meine Lieblings-Linguistin Angelika Linke aus Zürich, die sagt immer: In der Sprache träumen wir uns eine gesellschaftliche Zukunft. Also, der Abbau von hierarchischen Anreden ist auch immer ein Projekt für die Zukunft. Wir wollen doch nicht mehr, dass Hierarchien eine große Rolle spielen für unser Miteinander! Das heißt nicht selbstverständlich, dass es nicht soziale Hierarchien gibt, die sich zum Teil auch krass auswirken können. Aber wir wollen nicht, dass unsere Kommunikation von diesen Hierarchien beherrscht wird.